Einen Namen hat sich Radon in erster Linie mit preisattraktiven Bikes für jedermann gemacht. Noblesse war bislang nicht unbedingt die Kernkompetenz des Herstellers aus der Nähe von Bonn. Deshalb staunen wir nicht schlecht, als wir das Tigard aus der Kiste ziehen. Das Gravelbike, welches uns der Paketzusteller vor die Füße geschoben hat, wirkt wahnsinnig wertig. Okay, der eine oder andere Hardliner mag die Nase rümpfen: Sie hätten vermutlich lieber „Moots“ oder „Prova“ auf dem Unterrohr stehen. Doch selbst bei kritischen Redaktionskollegen hinterlässt der matte Titanrahmen einen guten Eindruck. Es handelt sich dabei um das teuerste unmotorisierte Radon-Bike am Markt. Trotzdem kann die Relation aus Ausstattungsgüte, Gewicht und Schick überzeugen. Für ein ähnliches Verhältnis werden bei anderen Anbietern schnell 1000 Euro mehr fällig.
Die lebenslange Garantie auf den tadellos verarbeiteten Rahmen gibt’s bei diesem sehr speziellen Radon noch dazu. Unsere Testfahrten bestätigen den Ersteindruck schon bald: Das Tigard ist ein schönes Bike mit schöner Ausstattung, das sich dazu auch noch schön fährt. So stilvoll die Optik mit wuchtigen Leichtmetall-Rohren und vollintegrierter Zugverlegung, so stilvoll-aufrecht nimmt der Fahrer auf dem Bike Platz. Die lange Cockpit-Einheit aus Kohlenstoff schafft es nicht, den kürzesten Reach der Testgruppe zu kompensieren. Mit dem Salsa teilt sich das Tigard gleichzeitig den Rekordwert beim Stack. Daraus resultiert eine sehr komfortable Sitzposition, die gut zur gediegenen Persönlichkeit des Titan-Gravelers passt. Das Radon liebäugelt eher mit entspannten Genusstouren als mit der Vollgas-Hatz gegen die Zeit. Zwar rollen die Continental-Reifen auf den edlen, aerodynamischen Allroad- Laufrädern von Mavic flott, die legere Platzierung im Sattel animiert jedoch nicht unbedingt zum maximalen Druck aufs Pedal. Lustradeln statt Wettkampf-Ehrgeiz ist angesagt.
Ein dick gepolsterter Ergon-Sattel kaschiert die steife Carbonstütze. Für ein Teleskop-Modell ist das Bike trotz des Sitzrohrdurchmessers ebenso wenig freigegeben, wie für eine Federgabel. Dafür lassen sich Schutzbleche, Gepäckträger und sogar das Kabel für einen Nabendynamo apart ins Erscheinungsbild integrieren. Mittels der einzigen Zweifach-Kurbel im Testfeld und einer Kassette, welche auch einem Rennrad gut zu Gesicht stehen würde, besitzt das Tigard fein abgestufte Gangsprünge. Auch das harmoniert vorzüglich mit dessen zivilisierten Charakter. Vor allem, weil das elektronische Di2-Getriebe Schalten zum Genuss macht. Allerdings entscheidet sich Radon für die kabelgebundene Version mit in die Sattelstütze integriertem Akku. Zum Sorglos-Anspruch eines Titan-Bikes hätte unserer Meinung nach die neue Funk-Shimano besser gepasst. Außerdem wünschten wir uns an steilen Schotter-Rampen einen noch leichteren Gang.
Dafür sind die kräftigen Bremsen mit großer 180er-Scheibe vorne die besten im Test. Wird der Untergrund gröber, fällt das Tigard trotzdem hinter viele aktuelle Gravelbikes zurück. Zu konservativ ist die Geometrie mit steilem Lenkwinkel und kompaktem Radstand. Einteiler-Steuerzentrale und Hochprofil-Laufräder besitzen eine hohe Steifigkeit. In der Folge neigt das Radon auf Wurzelpisten zum Verspringen und fährt sich deutlich anstrengender als die Offroad-Spezialisten von Giant oder Propain. Wenn die Wahl bleibt, schwebt das leichte Bike lieber anmutig durch sanftes Terrain als sich in einen wilden Schlagabtausch mit der Natur zu begeben. Anders als das Alutech bietet das Radon durch seine hohe Front immerhin eine gute Übersicht über herausfordernde Streckenabschnitte. Traumwandlerisch tänzelt das kurze Bike durch enge Kehren. Obacht: Starke Lenkmanöver bringen das Vorderrad auf Kollisionskurs mit den Schuhspitzen.
Titanrahmen mit schönem Finish und lebenslanger Garantie, komfortable Sitzposition, hochwertige Ausstattung
Nur vier Rahmengrößen, wenig Laufruhe, Geometrie nicht optimal für die Jagd nach Sekunden