Kaum ein Modell des deutschen Versandhändlers und Herstellers führte in jüngerer Vergangenheit zu mehr Diskussionen als das Ur-Modell des Grail. Die Konstruktion mit Doppellenker gefiel nicht Jedem, zudem ließ sich das Cockpit kaum an die individuellen Bedürfnisse anpassen. Fünf Jahre später verabschiedet sich Canyon vom unkonventionellen Konzept und spendiert dem Grail der zweiten Generation eine umfassende Frischzellenkur: mit neuer Lenker-Vorbau-Kombi, Aero-Optimierung und vielen Gepäckoptionen.
“Das Grail ist zwar eines der besten Gravelbikes – aber nicht unbedingt wegen des Doppelbügels”, lautete das TOUR-Urteil im Test des Erstlings (Note 1,6). Die Federwirkung war nur minimal in Oberlenkerhaltung spürbar, der Nutzen damit begrenzt. Zudem bot die auffällige Konstruktion dem Fahrtwind reichlich Widerstand - für ein kompetitives Gravelbike wie das Grail nicht die beste Voraussetzung.
Das neue One-Piece-Cockpit mit einfachem Bügel und großem Flare (16 Grad) soll nun Ergonomie mit Aerodynamik verbinden. Ob seiner Tragflächenform wird die Steuerzentrale in Koblenz scherzhaft als “Antonow”, in Anlehnung an das legendäre Transportflugzeug, benannt. An der sogenannten “Gear Groove”, eine kleine Aussparung in der Lenkermitte, lassen sich Computer, Smartphone oder sogar Zeitfahraufsatz montieren.
In Kombination mit optimierten Rohrformen, das Design der Gabel ist ans Ultimate angelehnt, und teilintegrierten Leitungen unter dem Lenker soll die Neuheit bei 45 km/h um rund neun Watt schneller als der Vorgänger sein. Mit einer optional erhältlichen Rahmentasche, die in Kooperation mit Fidlock entworfen wurde und per Magnetverschluss einrastet, verspricht Canyon weitere 1,5 Watt.
Überhaupt schreiben die Koblenzer das Thema Gepäcktransport beim neuen Grail groß. Highlight ist das ins Unterrohr integrierte Staufach, das vergleichsweise riesig ausfällt und problemlos ein vollwertiges Pannenset fasst: An den Kunststoffdeckel können Multi-Tool und Mini-Luftpumpe geklippt werden, im Rahmeninneren findet eine Tasche mit CO₂-Pumpe und -Kartusche, Ersatzschlauch sowie Reifenheber Platz. Eine Satteltasche ist damit überflüssig.
Für Abenteurer entwickelte Canyon außerdem eine spezielle Manschette, die jeweils über einen Gabelholm gezogen und mit Flaschenhalter oder Gepäckträger bestückt werden kann. Die patentierten “Fork Sleeves” erlauben eine maximale Zuladung von drei Kilogramm und sollen durch eine Kerbe an der Innenseite der Gabel in Position gehalten werden. Die Montage von Schutzblechen soll erleichtert werden, da sie mittels eines Schnellspanners und ohne Werkzeug am hinteren Ausfallende befestigt werden können.
Eine große Bandbreite zeigen die insgesamt acht Ausstattungsvarianten beim Gewicht. Neben dem CF SL und CF SLX bieten die Koblenzer erstmals auch eine CFR-Variante an. Wie die Straßenboliden zeichnet sich dessen Rahmen-Set durch ein geringeres Gewicht und höhere Steifigkeiten aus. Im Vergleich zum CF SLX soll das CFR 120 Gramm weniger wiegen sowie an Tretlager und Lenkkopf um 10 Prozent steifer sein. Für die CFR-Modelle nennt Canyon Gesamtgewichte zwischen 8,0 und 8,3 Kilogramm. Die CF SLX-Varianten liegen zwischen 8,1 und 8,5 Kilogramm, die CF SL-Versionen bewegen sich zwischen 8,7 und 9,8 Kilogramm.
Die Diskussionen um die zweite Generation werden nun deutlich spärlicher ausfallen. Schließlich fügt sich die neue Lenker-Vorbau-Einheit stimmiger ins Gesamtkonzept und - viel wichtiger - überzeugt durch hohen Komfort. Speziell am Unterlenker flext das Cockpit spürbar. Am Heck dämpft eine neue abgeflachte Carbonstütze zwar nicht ganz auf dem Niveau der Blattfederstütze des Vorgängers. Das Gravelbike, wir testeten das CFR Di2 mit 40 Millimeter breiten Schwalbe G-One RS, glättet Unebenheiten trotzdem deutlich ausgeprägter als vergleichbare Modelle. Die relativ geringe Reifenfreiheit von 42 Millimetern stört dadurch nicht. Die Stütze neigte in unserem Tubeless-Setup mit niedrigem Reifendruck (2,5 bar) allerdings zum Wippen, was speziell schwere Fahrer bedenken sollten. Durch das Sondermaß lässt sie sich nicht gegen jedes x-beliebige Modell austauschen.
Bei der Laufruhe setzt die Neuheit durch einen extrem langen Radstand (1057 Millimeter) Maßstäbe. Kleinere Hindernisse wie Steine oder Äste bringen das Grail kaum aus der Ruhe. Durch das vergleichsweise geringe Gewicht und exzellente Steifigkeiten fliegt das Canyon über Schotter. Bei schnellen und engen Kurvenwechseln reagiert das Bike dagegen etwas träge. Die Sitzposition ist aufrechter, als es der STR-Quotient (1,44) der Koblenzer vermuten lässt, weil die Lenkerkombi relativ kurz ausfällt.
In der Race-Kategorie unüblich – aber durchaus praktisch – sind die vielen Transportoptionen: Die Rahmentasche lässt sich mit wenigen Handgriffen anbringen, das Pannen-Set ist im Unterrohr gut verstaut, schnell erreichbar und klappert nicht auf Holperpisten. Schick gelöst ist außerdem die integrierte Montage des Computers. Ob hier allerdings auch Halterungen von Fremdanbietern passen, darf bezweifelt werden. Die Zubehörs wie Computerhalter (19,95 Euro) oder Rahmentasche (79,95 Euro) sind (natürlich) allesamt aufpreispflichtig.
Canyon bietet das Grail erstmals in drei Qualitätsstufen und sieben Rahmengrößen an. Top-Modell ist das CFR LTD für 10.000 Euro. Das auf 70 Stück limitierte Sondermodell ist eine Hommage an die erfolgreichen Prototypen von Gravel-Weltmeisterin Kaisa Niewiadoma oder Unbound-Siegerin Carolin Schiff und kommt mit Sonderlackierung, SRAM Red AXS und Carbon-Laufrädern von DT Swiss. Die übrigen CFR-Versionen - wahlweise mit Shimano GRX Di2 oder SRAM Red AXS - kosten 6999 beziehungsweise 7999 Euro.
Die beiden Modellvarianten der CF SLX-Plattform schalten ebenfalls elektronisch mit Shimano GRX Di2 oder SRAM Force AXS, rollen auf Carbon-Laufrädern von DT Swiss oder Zipp und werden für 4999 und 5299 Euro angeboten. Die drei CF SL-Versionen kosten zwischen 2699 und 3499 Euro. Im Unterschied zu den teureren Ausstattungen verzichtet Canyon auf das Staufach im Unterrohr. Zudem ist ein Carbon-Cockpit ohne integrierte Montagelösung für Computerhalter & Co. sowie Alu-Laufräder von DT Swiss verbaut.