Unbekannt
· 30.08.2009
Mit neuen Ideen zur Sitzposition an der futuristisch gestalteten Zeitfahrmaschine ”Time-Warp” will sich der taiwanische Fahrrad-Gigant Merida endgültig in der Champions League des Rennradbaus etablieren.
Wer einmal eine gut angepasste Zeitfahrmaschine ausprobiert hat, wird süchtig – süchtig nach Geschwindigkeit. Auf bekannten Strecken, die man auf dem klassischen Renner in Bremsgriffhaltung mit 32 bis 35 km/h abspult, steht auf einmal stets die “4” vorne auf der Geschwindigkeitsanzeige – und ein breites Grinsen im Gesicht. Das Zauberwort aber ist: gut angepasst. Eine komfortable und zugleich aerodynamisch günstige Haltung auf dem Zeitfahrgerät einzustellen, ist nicht einfach. Der Liegelenker friert die Position regelrecht ein. Passt die Sitzhaltung nicht perfekt, geht’s nicht richtig voran und man fühlt sich unwohl. Die Spezialrahmen sind zwar ein Fall für Spezialisten, aber deren Ansprüche können trotzdem höchst unterschiedlich sein: Die Anforderungen für einen wenige Kilometer kurzen Rundfahrt-Prolog, ein langes Zeitfahren oder die Radstrecke eines Langstrecken-Triathlon über 180 Kilometer unterscheiden sich deutlich. Während die Ironman-Athleten nach dem schnellen Ritt noch einen Marathon laufen wollen, könnten die Radrennfahrer nach dem Zeitfahren mit dem Kran vom Rad und direkt auf die Massagebank gehoben werden. Sie können also deutlich radikalere Positionen einnehmen. Das stellt die Rad-Hersteller vor die schwierige Aufgabe, zwei Welten zu vereinen. Nur wenn sie den Rahmen vorne niedrig konstruieren, ist eine radikale Aero-Position möglich. Der Ironman auf der Suche nach Komfort müsste für einen solchen Rahmen viele Distanzringe und einen steilen Vorbau wählen. Das Fahrgefühl würde schwammiger, die schon im Stand schnelle Optik wäre dahin.
Merida, zweitgrößter Radhersteller der Welt, hat nun ein modular aufgebautes Steuerrohrsystem zur Serienreife gebracht. Im sehr kurzen Steuerrohr des “Time-Warp” (zu Deutsch: Zeitschleife) sind Aufnahmen für integrierte Lager vorhanden. Zusätzlich lassen sich in das Steuerrohr je nach Wunsch eine oder zwei Verlängerungshülsen mit Lagersitzen einschrauben. Formschöne Deckel aus Carbon schaffen den fließenden Übergang zum Hauptrahmen. Da alle Module zum Rahmen-Set gehören, kann man also zur Positionsfindung mit der langen Version und ein paar Spacern beginnen und sich nach und nach zur optimalen Haltung vorarbeiten. Passt nach dieser Experimentierphase alles, kann man den Gabelschaft kürzen.
Das Steuerrohrsystem ist jedoch nicht das einzige Highlight. Der Gabelkopf ist komplett in das Unterrohr des Rahmens eingefügt, nur kleine Spalte bieten dem Wind Widerstand. Spezielle Bremsen sowie innenverlegte Schalt- und Bremszüge ermöglichen die kompakte und windschlüpfig aufgeräumte Rahmenform. Die Hinterradbremse verbirgt sich am Tretlagergehäuse im Windschatten des Unterrohres, das als Spoiler geformt ist und zugleich als Zuggegenhalter dient.
Die Sattelstütze lässt der Positionsfindung ebenfalls freien Lauf. Gegen den Trend ist sie nicht integriert, sondern lässt sich bedien- und transportfreundlich komplett demontieren. Die Sattelklemmungen sind in zwei Längspositionen montierbar. Insgesamt sind die Verstellmöglichkeiten hervorragend, um die individuell optimale Sitzposition zu finden. Wesentlichen Anteil am Wohlgefühl auf dem von uns aufgebauten Rad hat die Syntace-Lenkerkombi mit dem “C3”- Aufsatz. Auch der lässt sich vielfältig verstellen, die großflächigen und gut gepolsterten Armauflagen eine Wohltat. Angenehm auch die nach oben gewinkelten Lenkerenden; die Hände finden komfortablen Halt, und der gesamte Oberkörper wird in eine deutlich weniger verspannte Haltung gezwungen als von den derzeit überwiegend gefahrenen geraden Lenkerenden.
Einmal in Fahrt, ist das “Time Warp” ein echter Genuss. Dank angepasstem Nachlauf und hinreichender Rahmensteifigkeit rollt es auch bei hohem Tempo sehr sicher. Auch weniger zeitfahrgeübte Radsportler flitzen nach kurzer Eingewöhnung zügig um die Kurven – so zügig, dass selbst auf vertrautem Terrain manche schon tausendmal genommene Kurve plötzlich etwas eng wird.
Bei der Bremsleistung eines Zeitfahrboliden muss man Abstriche in Kauf nehmen; spartanische Hebel wie am “Time Warp” sowie die typische Schwäche von Carbonlaufrädern stehen maximaler Brems-Power im Weg, dennoch verzögert unser Testrad passabel. Die Einstellung der Bremsen war allerdings ein Geduldsspiel wegen der kompromisslos auf Aerodynamik getrimmten Felgen mit schrägen Bremsflanken und der sehr leichten, aber nicht sehr steifen Hinterradscheibe.
Merida weiß offensichtlich, wie komplex und knifflig der Aufbau eines solchen Rades sein kann und liefert ein bemerkenswertes Komplett-Paket: Dazu zählen die Steuerrohrmodule, Lenkungslager, Gabel, Sattelstütze und Bremskörper, außerdem ein Ersatzschaltauge und ein anklettbarer Startnummernhalter für die Rückseite des Sitzrohres, sowie spezielle Klemmbacken für die schonende Befestigung des Rahmens in Montageständern – und das alles für vergleichsweise bescheidene 2.299 Euro. Die ersten Rahmen-Sets sollen ab August bei den Händlern stehen, auf der Eurobike wird dann ein Komplettrad vorgestellt mit SRAM Red, Vision-Lenker und S60/S80- Laufrädern ebenfalls von SRAM.
Merida bietet mit dem “Time Warp” ein überzeugendes Konzept für den Kampf gegen die Uhr. Der sauber verarbeitete Rahmen ist dank der intelligent konstruierten und formschönen Steuerkopfpartie für nahezu alle Einsatzzwecke und Fahrervorlieben einstellbar, das Fahrverhalten ohne Tadel. Dazu ist das Rahmen-Set im Vergleich zu den Mitbewerbern ein echtes Schnäppchen, auch wegen des umfangreichen Zubehörs.
PLUS: perfekte Anpassmöglichkeiten für Sitzposition; umfangreiches Zubehör serienmäßig; sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis
Web: www.merida.com
*Testrad-Rahmengröße gefettet; **projiziertes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr/Sattel- Steuerrohrüber höhung bei 75 cm Sitzhöhe (Mitte Sattelgestell–Oberkante Steuersatzdeckel); ***bereinigtes Gewicht für Rahmen größe 57 und Gabelschaftlänge 225 mm inklusive Lenklager und Sattelstütze; ****das Rad ist ein Individualaufbau; da auch die Aerodynamik nicht gemessen wurde, verzichten wir auf eine Gesamtnote