Test 2016Gravelbikes für Frauen - Zwei Gravelbikes für Frauen im Praxistest

Unbekannt

 · 31.05.2016

Test 2016: Gravelbikes für Frauen - Zwei Gravelbikes für Frauen im PraxistestFoto: Markus Greber
Test 2016: Gravelbikes für Frauen

Gravelbikes sollen das sportliche Radeln einfacher und vielseitiger machen. So erobern die ersten Gravelbikes für Frauen die Bühne. Wir stellen zwei ebenso spezielle wie vielseitige Konzepte vor.

Vielseitigkeit ist ihr Erfolgs­geheimnis: Sogenannte Gravelbikes gelten, glaubt man den Aussagen vieler Radhersteller, als Radgattung mit Wachstums­potenzial, weil sie sportliche Multi-Talente sind. Der Mix aus Cross- und Rennrad ist dank breiterer Reifen und längerem Radstand einerseits nicht auf ­Asphaltstraßen beschränkt, andererseits aber auch nicht so ­speziell nur fürs Gelände kon­struiert wie typische Cross-­Renner. Eben ein robustes, sport­liches, schnelles Straßenrad, mit dem man auch mal auf einen unbefestigten Wald- oder Feldweg abbiegen kann, ohne gleich fahrtechnisch in Probleme zu geraten oder Schaden am Material anzurichten.

Seinen Ursprung hat das Gravelbike in den USA, wo viele Neben­straßen in ländlichen Gegenden nur geschottert und nicht asphaltiert sind. Die Erschließung der Gravelroads (Schotterstraßen) durch sportliche Radler kultivierte einen eigenen Rennradtyp, der sich wegen seines breiten Einsatzspektrums mittlerweile auch in Europa zunehmender Beliebtheit erfreut. Nicht zuletzt soll das vielseitige – man könnte auch sagen unspezifische – Rad neue Käuferschichten anlocken, die bisher mit der Rennradwelt noch fremdeln.

ANFÄNGERFREUNDLICH

Specialized und Giant sehen vor allem auch Frauen als potenzielle Zielgruppe für Gravelbikes; ­solche, die neu mit dem sportlichen Radeln beginnen, und auch ­solche, die eher gelegentlich als regelmäßig in den Sattel klettern. Beide Gruppen verbindet der Wunsch nach einem Rad, das vieles möglich macht und wenig voraussetzt – etwa profundes Fahrkönnen oder jahrelange Trainingsfron, um sich an die sportlich-gestreckte Sitzposition des klassischen Straßenrenners zu gewöhnen. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Gravelbikes speziell für Frauen auftauchen: Zum Beispiel das Invite von der Giant-Marke Liv für 849 Euro und das Specialized Dolce Evo CEN für 1.499 Euro.

  Test 2016 Gravelbikes für Frauen: Liv InviteFoto: Markus Greber
Test 2016 Gravelbikes für Frauen: Liv Invite

Beide Räder sind so ausgelegt, dass sie auch Anfängern viel Sicherheit vermitteln. Dabei ist das Liv noch extremer abgestimmt als das Specialized, auf dem man etwas sportlicher, aber auch sehr komfortabel sitzt. Das Liv ­Invite dagegen weist eine Geometrie auf, die mit klassischem Radsport nicht mehr viel zu tun hat. Selbst bei sportlichster Einstellung steht der Sattel kaum höher als der Lenker, was für ein Rennrad normalerweise so ­typisch ist. Die Pilotin sitzt entsprechend aufrecht, dazu lenkt sich das Rad betont ­gutmütig, und die breiten Reifen stärken das Vertrauen in das Rad zusätzlich. Unsere Testerin Annina Jenal, die als Rennfahrerin auch die schnelle Gangart beherrscht, hat bemerkt: "Man sitzt zwar wie auf einem Trekkingrad, hat aber das Gefühl, mit diesem Rad nichts falsch machen zu können. Ich habe mich extrem sicher gefühlt." Die seit­lichen Stollen an den Reifen und die zusätz­lichen Bremshebel am Oberlenker unter­streichen diesen Eindruck.

MULTITALENTE MIT SPIELRAUM

Nicht ganz so extrem präsentiert sich das Specialized Dolce Evo CEN. Der Unterschied liegt zum einen in der Sitzposition, zum anderen an den Reifen: Während das Invite mit Geländepneus auch auf Wald­wegen sicher die Spur hält, fühlt sich das Dolce Evo mit profillosen 28-Millimeter-­Reifen eher auf der Straße zu Hause. Allerdings wäre ein Tausch der Reifen bei beiden Rädern kein Problem, womit sich das Einsatzspektrum noch deutlich in die eine oder andere Richtung verschieben ließe.

  Test 2016 Gravelbikes für Frauen: Specialized Dolce Evo CenFoto: Markus Greber
Test 2016 Gravelbikes für Frauen: Specialized Dolce Evo Cen

Mit Bedacht ausgewählte Komponenten ergänzen die Konzepte, wie man es von beiden Herstellern kennt: Die Lenker sind schmal und eher eng gebogen, was zierlichen oder kleinen Menschen mit kleinen Händen entgegenkommt; die Sättel sind zwar klobig und breit, aber so bequem und weich gepolstert, dass sie sich schmerzfrei auch ohne gepolsterte Radhosen besitzen lassen. Das Liv lockt zudem mit einem günstigen Preis von 849 Euro – muss sich als Rad für eine eher ungeübte Zielgruppe aus diesem Blickwinkel aber deutliche Kritik gefallen lassen. Das recht hohe Gewicht des Rades ist dabei das geringere Problem, das war auch unserer Testfahrerin gar nicht so wichtig; die Tektro-Bremsen sind auch nicht besonders bissig, funktionieren aber. Der Antrieb ist allerdings nicht zeitgemäß: Selbst unsere routinierte Testerin – in diesem Jahr Siegerin der TOUR-Transalp in der Frauen-Wertung – kam damit überhaupt nicht zurecht. Die ­wenig verbreitete, sehr günstige Shimano-Claris-Gruppe mit Dreifach-Kurbel, Vierkant-Tretlager und nur acht Ritzeln am ­Hinterrad ist auf dem technischen Stand der 90er-Jahre. Die nur acht Ritzel erfordern es, für den richtigen Gang oft den vorderen Umwerfer zu bedienen; die Kette so zu trimmen, dass sie bei Schräglauf nicht im Leitblech des Umwerfers streifte, geriet beinahe zu einem Ding der Unmöglichkeit. Annina empfand die Schaltung als hakelig und kompliziert: "Ich muss dauernd nach unten schauen, um zu sehen, wo es schleift und wo ich korri­gieren muss. Die Ganganzeige hilft da wenig. Für eine Anfängerin wäre eine Schaltung mit nur zwei Blättern die bessere Wahl", stellte sie fest. Auch das veraltete Design der Schalthebel fand sie unergonomisch. Leichter tat sie sich auf dem Specialized mit moderner Tiagra-Gruppe mit zwei Kettenblättern und zehn Ritzeln: "Da gibt’s vorne nur groß oder klein, und selbst bei Schräglauf schleift die Kette nicht. Man kann viel länger auf einem Kettenblatt fahren."

Ihr Rat: Lieber etwas mehr Geld investieren und ein Rad mit modernerer Technik kaufen; 20 "moderne", auch von Neulingen leicht zu bedienende Gänge sind 24 hakenden, schleifenden Übersetzungen jedenfalls klar vorzuziehen. Zwar klingen weniger Gänge erst mal nach einem Nachteil. Praktisch lassen sich aber mehr davon nutzen und sie lassen sich heutzutage mit kleinen Kettenblättern und weit gespreizten Ritzelpaketen wie am Specialized auf nahezu jedes Terrain und jede ­Anforderung abstimmen – womit wir wieder beim Thema wären.

  TOUR-Testerin Annina Jenal, 25, Ärztin aus Innsbruck;  2015 Mitglied des TOUR-Jedermann-Teams und (mit ihrer Partnerin Tatjana Ruf) Gewinnerin der TOUR-Transalp in der FrauenwertungFoto: Uwe Geißler
TOUR-Testerin Annina Jenal, 25, Ärztin aus Innsbruck; 2015 Mitglied des TOUR-Jedermann-Teams und (mit ihrer Partnerin Tatjana Ruf) Gewinnerin der TOUR-Transalp in der Frauenwertung

»Die Räder sind nichts für ambitionierte Rennfahre­rinnen, aber dafür werden sich Einsteiger auf ­beiden leicht tun. Beim Liv hat mich die komplizierte Schaltung gestört, dafür ist das Fahrverhalten sehr gutmütig. Das Specialized ist ein wenig sportlicher und die Technik wirkt viel moderner.« (Annina Jenal)

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