Julian Schultz
· 09.05.2025
Rennerfolge in der World Tour hat das RCR-F bereits gesammelt. Seit März ist der Aero-Bolide von Van Rysel auch offiziell auf dem Markt. Und mit einem großen Versprechen dekoriert. „Es ist das beste Rennrad, das wir bislang entwickelt haben“, kündigte die Eigenmarke des Sportartikelgiganten Decathlon an und stellte „das schnellste Bike im Peloton“ in Aussicht. Die selbstgewählten Vorschusslorbeeren für das RCR-F dürften vor allem auf eigenen Windkanaltests des französischen Herstellers beruhen. Fast 14 Watt spare der aerodynamisch optimierte Experte gegenüber dem RCR-R, das als Race-Allrounder vor zwei Jahren sein Debüt feierte und mit 207 Watt im TOUR-Test bereits bemerkenswert schnell war.
Ganz neu ist das RCR-F übrigens nicht. Bereits vor einem Jahr bekamen wir die Rennmaschine bei der Tour de France vor die Linse. Ausgewählte Profis vom Team Decathlon AG2R La Mondiale verhalfen dem getarnten Boliden, damals unter dem Modellnamen FCR, zum Renndebüt. Neun Monate später bietet die High-End-Eigenmarke von Decathlon die Rennmaschine nun zum Verkauf an. Wie beim RCR-R ist die Aero-Maschine ausschließlich über den Online-Shop erhältlich.
Vor unserem unabhängigen Versuch im Windkanal, wie bei Van Rysel der renommierte Tunnel der Gesellschaft für Strömungsmesstechnik (GST), lag demnach eine Sensation in der Luft. Holt sich das RCR-F eine neue Bestmarke für das schnellste Serienrad? Nicht ganz! Der inoffizielle Titel bleibt bis auf Weiteres bei Storck. Mit 200 Watt geht die Franko-Flunder im Renntempo aber auf Tuchfühlung zum aktuellen Rekordhalter, dem Aerfast.5 Pro (198 Watt). Die Entwicklungsabteilung darf sich damit bestätigt fühlen. Schließlich ist in der World Tour kein anderes Profirad schneller, dem wir bislang den Wind um Cockpit und Rahmen-Set geblasen haben.
Das Canyon Aeroad CFR, Cervélo S5 oder Scott Foil RC Ultimate als die schnellsten Vertreter kleben dem Senkrechtstarter von Van Rysel dicht gestaffelt am Hinterrad. Das Trio rangiert knapp über der 200-Watt-Schallmauer, die bisher nur Storck und Simplon geknackt haben. Zum neuen Colnago Y1Rs, Ridley Noah Fast oder X-Lab AD9, die konzeptionell ebenfalls die aerodynamische Performance in den Vordergrund stellen, liegen uns noch keine eigenen Messwerte vor.
Damit die Neuheit das schnellste Bike im Peloton wird, steckte die Forschungsabteilung des französischen Herstellers in Kooperation mit den Aero-Experten von Swiss Side zunächst das bevorzugte Terrain des RCR-F ab. Faktoren wie Höhenunterschied, Wind- und Renngeschwindigkeit sowie Fahrergewicht und -leistung ließen die Ingenieure in ihre Evaluation einfließen. Das Ergebnis: Der Bolide soll dem RCR-R in vielen Rennsituationen überlegen sein. Die Franzosen nennen beispielhaft Tagesklassiker mit wenigen Höhenmetern, wellige Etappen mit einer Sprintankunft oder mittelschwere Bergetappen mit Steigungen bis fünf Prozent.
Nach zahlreichen CFD-Simulationen, die gewissermaßen als virtueller Windkanal beschrieben werden können, folgte im realen GST-Windkanal in Immenstaad die Probe aufs Exempel. Das RCR-F wurde sowohl „nackt” als auch mit Fahrer getestet. Der Vorsprung von rund 14 Watt gegenüber dem RCR-R bezieht sich auf Messungen ohne Flaschen und Halter bei 45 km/h. Unser Ergebnis basiert auf dem etablierten Versuchsaufbau mit Beindummy und Trinkflasche.
Neben dem flächigen Rahmen-Set mit langem Steuerrohr und Sitzrohr sind vor allem die pfeilschnellen Laufräder von Swiss Side für die starke Aero-Performance verantwortlich. In Kombination mit dem strömungsoptimierten Vorderreifen von Continental ist das Gesamtsystem vier Watt schneller als mit unserem Referenzlaufradsatz (Zipp 404, Bj. 2018), der an vielen Modellen meist noch ein paar Watt herauskitzelt. Van Rysel ergänzt, dass das vollintegrierte Cockpit ebenfalls signifikante Vorteile bringt. „Das Prunkstück“, so die Franzosen, spare rund drei Watt gegenüber der vergleichsweise konventionellen Lenker-Vorbau-Einheit am RCR-R.
Das neue Flare-Cockpit, das zusammen mit dem italienischen Komponentenspezialist Deda entwickelt wurde, zeichnet sich unter anderem durch einen sehr flachen Oberlenker und geschwungenen Vorbau aus. Zudem folgen die nach innen geneigten Griffhöcker der Form des um 12 Grad ausgestellten Unterlenkers, mit dem Fahrerin oder Fahrer in eine aerodynamisch günstige Position gebracht werden. Zwischen den Schalt-Brems-Hebeln am Testrad liegen nur 330 Millimeter, an den Lenkerenden beträgt der Abstand 420 Millimeter. Der Oberlenker misst 370 Millimeter. Die Abmessungen des Cockpits richten sich nach der Rahmengröße.
Unser Highlight der schmalen Steuerzentrale sind die sogenannten Ergodrops: Der verstärkte, oval geformte Lenkerbogen lässt sich sehr gut greifen und liegt ergonomisch in der Hand. Außerdem erleichtert die Verdickung, im Unterlenker stets dieselbe Position zu finden. Die Konstruktion wurde vor allem für die schnellen Männer bei Decathlon AG2R La Mondiale um Sam Bennett entwickelt.
Da sich Bestwerte bei Aerodynamik und Gewicht ausschließen, musste Van Rysel bei der zweiten Kerndisziplin eines Wettkampfrenners fast zwangsläufig einen Kompromiss eingehen. Trotz hochwertiger Carbonfasern des japanischen Spezialisten Toray, einer Teillackierung des Rahmen-Sets und Gewichtstuning bei den Komponenten bleibt die TOUR-Waage erst bei 7540 Gramm stehen. Im Vergleich zum RCR-R, das auch auf steilen Bergetappen zum Einsatz kommt, ist die Testversion mit Shimanos Dura-Ace und hohen Aero-Laufrädern von Swiss Side rund 600 Gramm schwerer. Die schnelle Konkurrenz von Scott, Canyon oder Storck spart an der TOUR-Waage zwischen 250 und 600 Gramm. Das Colnago Y1Rs, das Superstar Tadej Pogačar bis dato kaum im Einsatz hatte, bewegt sich laut Herstellerangabe auf einem ähnlichen Niveau wie das Van Rysel.
Ein großes Plus gegenüber vergleichbaren Boliden ist die exzellente Rahmensteifigkeit. Trotz des lang gezogenen Steuerrohrs gelingt es Van Rysel, eine ausgesprochen fahrstabile und verwindungssteife Plattform auf die Räder zu stellen. In Kombination mit einem relativ kurzen Radstand fährt sich das RCR-F sehr direkt und steuert agiler um schnelle Kurven, als das Räder aus der Aero-Klasse üblicherweise tun. Die Nordfranzosen erklären die Bestnoten für Front- und Tretlagersteifigkeit unter anderem mit einem gezielten Belegungsplan. Manko des kurzen Radstands: Die Schuhspitzen können bei breiter Bereifung das Vorderrad touchieren.
Dass der Federkomfort bei einem schnellen (Profi-)Rad nicht oberste Priorität genießt, ist unbestritten. Auch das RCR-F bietet in dieser Disziplin eine offene Flanke, indem es am Sattel extrem hart abgestimmt ist. Lediglich 3 Millimeter gibt die flächige Aero-Stütze bei einer Prüflast von 80 Kilogramm nach, was selbst in der Rennklasse ein unterdurchschnittlicher Wert ist. Die gute Nachricht: Der geschmeidige Hinterreifen von Continental kompensiert die konstruktive Schwachstelle und nimmt Fahrten über holprigen Untergrund etwas die Härte. Da Rahmen und Gabel offiziell für bis zu 32 Millimeter breite Pneus freigegeben sind, ließe sich der Bolide etwas komfortabler abstimmen.
Einen Kritikpunkt haben wir zumindest an unserem frühen Modell ausgemacht: Am RCR-F Pro CF Shimano Dura Ace Di2 Decathlon AG2R La Mondiale, so die offizielle Bezeichnung in Überlänge, machte die Sattelstützenklemmung Probleme. Die Stütze hat, auch wenn sie ordentlich angezogen ist, bei Belastung etwas Spiel. Dadurch reibt sie mit der Rückseite im Sitzrohr, was zu Knackgeräuschen und auf Dauer zu Schäden führen kann. Ob Van Rysel noch eine Lösung dafür findet, wird sich zeigen.
Final beantworten lässt sich dagegen, dass das neue Flaggschiff in vielen Fahrsituationen ein pfeilschneller Begleiter ist und die Schwächen beim Rahmenkomfort geschickt durch den enormen Speed kaschiert. Mit TOUR-Note 1,9 zählt das RCR-F zu den besten Wettkampfrädern der Welt. Durch das hart abgestimmte Chassis der ersten Generation gibt es noch Potenzial, um künftig den eigenen Ambitionen als bestes Van Rysel vollauf gerecht zu werden. Aktuell teilt sich der Bolide dieselbe Note mit dem RCR-R.
Die Testversion führt das Portfolio an, die weiteren Modelle sind ebenfalls mit elektronischen Schaltgruppen von Shimano aufgebaut. Ein Leistungsmesser ist bei allen Versionen inklusive. Ausstattungen mit Antrieben von SRAM sollen folgen. Mit einem Preis von 9499 Euro für das Top-Modell zieht der französische Hersteller eine klare Trennlinie zu den weiteren Radsportmarken bei Decathlon. Die günstigeren Versionen kosten 5499 Euro (105 Di2) oder 6499 Euro (Ultegra Di2).