Hat dieses Duell etwas mit Fairness zu tun? Kann man ein preiswertes Basismodell gegen eine viermal so teure Profiversion antreten lassen? Ist das Ergebnis nicht von Beginn an klar? All diese Fragen beschäftigten uns, als wir die beiden Varianten des Giant Propel zum TOUR-Test bestellten. Auf der einen Seite das vergleichsweise günstige Advanced 2, auf der anderen Seite das leistungsfähige Advanced SL. Beides aerodynamisch optimierte Rennräder, aber mit gegensätzlichen Daseinsberechtigungen.
Während der Luxusbolide als einer der schnellsten und leichtesten Wettkampf-Allrounder der Welt und Profirad in der World-Tour seine herausgehobene Stellung nicht weiter begründen muss, fragt man sich natürlich, wie der auf den ersten Blick identisch aussehende Stallgefährte sich dagegen behauptet. Uns machte dieses reizvolle Duell jedenfalls neugierig, weshalb wir die beiden Renner unter identischen Bedingungen in Windkanal, Labor- und Praxistest aufeinander losließen – und eine faustdicke Überraschung erlebten.
Nominell stehen zwei Rennräder einer Produktfamilie vor uns, die der weltgrößte Fahrradhersteller seit zehn Jahren im Sortiment führt. Effektiv haben die Räder bis auf Modellname und Rahmengeometrie allerdings kaum Gemeinsamkeiten, rein optisch ist der Kontrast an Ausstattungsdetails wie Laufrädern oder Sattelstützen zu erkennen. Und er ist – zu hören. Denn im Gegensatz zum Advanced 2 spendiert Giant dem Top-Modell Carbonlaufräder, die sich neben einem ohrenbetäubenden Freilauf durch geringes Gewicht sowie starke Aerodynamik auszeichnen. Der exklusive Rad-Satz ist damit stilbildend für den Charakter des Advanced SL als Wettkampf-Allrounder und grenzt ihn klar vom günstigen Pendant ab. Dessen einfache Alu-Laufräder, ebenfalls von Cadex, bringen satte 1.300 Gramm mehr auf die Waage und tragen den größten Anteil am frappierenden Gewichtsunterschied:
Mit knapp über neun Kilogramm (9.010 Gramm) hing das Advanced 2 an der TOUR-Waage – das wiegen heutzutage auch robuste Gravelbikes. Das Profirad spielt in einer eigenen Liga. Das Arbeitsgerät des letztjährigen Tour-Vierten Simon Yates (Team Jayco-AlUla) ist mit 6.700 Gramm um 2.310 Gramm leichter als das günstige Propel und kratzt fahrfertig am Gewichtslimit des Radsport-Weltverbands UCI von 6,8 Kilogramm.
Bereinigt man das Gewicht um die Laufräder, schleppt das Advanced 2 immer noch 1.000 Gramm mehr mit sich herum. Fast die Hälfte ist auf den Antrieb zurückzuführen: Die einfach ausgestattete Variante schaltet mechanisch mit neuer Zwölffach-105, das Advanced SL mit elektronischer Dura-Ace. Unterschiedliche Carbonqualitäten beim Rahmen-Set bedeuten 330 Gramm Unterschied. Allein beim Rahmen spart das High-End-Rad, auch dank des integrierten Sitzdoms, knapp 260 Gramm. Am Advanced 2 ist außerdem eine einfache Lenker-Vorbau-Kombi aus Aluminium geschraubt, die im Vergleich zur zweiteiligen Carbon-Steuerzentrale des SL rund 170 Gramm schwerer ist.
Aber jetzt erst einmal genug der Zahlen. Uns interessierte brennend, wie sich der Gewichtsunterschied im Sattel auswirkt. Um die beiden Flitzer möglichst realitätsnah miteinander vergleichen zu können, mussten sie sich nacheinander auf einem flachen Rundkurs beweisen. Mit eindeutigem Ergebnis: Unser Testfahrer war mit der „Sparversion“ im Schnitt 0,9 km/h langsamer. Einmal in Fahrt, hält das Advanced 2 zwar ordentlich Tempo und gleitet stoisch dahin. Doch sobald der Fahrradcomputer ein paar Steigungsprozente anzeigt, kommt man spürbar früher ins Schwitzen und muss schneller die Gänge wechseln als auf dem leichten Advanced SL.
Unsere Simulation auf der Basis von Gewicht und Aerodynamik, letztere ermittelt im GST-Windkanal in Immenstaad, bestätigt das Ergebnis aus freier Wildbahn, das durch Einflüsse wie Wind oder Straßenverkehr etwas verzerrt ist: Für 100 Kilometer und 1.000 Höhenmeter benötigt das Advanced 2 (bei 219 Watt Leistung für 45 km/h) bei identischer Tretleistung 2:59 Minuten mehr als das Advanced SL (209 Watt für45/km/h). Aber jetzt kommt’s: Steckt man in das Rahmen-Set des Basismodells einen leichteren und schnelleren Laufradsatz, liegt es nur noch Sekunden hinter dem Profirenner. Mit unserem Referenzlaufradsatz (Zipp 404) rückt das Advanced 2 bis auf 0,8 Watt an das SL heran und ist in der Ebene ein ebenbürtiger Konkurrent. Erst in steilerem Terrain profitiert das SL wieder von seinem Gewichtsvorteil und setzt sich ab.
Auch beim Fahrverhalten würde die Basisversion enorm von höherwertigen Laufrädern profitieren. Schließlich reagiert das Advanced 2 in Werkskonfiguration äußerst behäbig auf schnelle Richtungswechsel und lässt sich eher widerwillig in Schräglage bringen. Ganz anders das High-End-Propel, das schon bei leichter Gewichtsverlagerung einlenkt und im Vergleich fast nervös über den Asphalt tänzelt. Daran haben auch die schmalen Aero-Reifen ihren Anteil, die durch ihre spezielle Form etwas weniger Aufstandsfläche als die robusten Gummis am Advanced 2 bieten und den Komfortvorteil des integrierten Sitzdoms mindern.
Insgesamt sind beide Räder nicht unkomfortabel, die sehr sportliche Sitzposition ist aber nicht jedermanns Sache. Das gilt auch für den Sitzdom am Advanced SL, der sich am Klemmkopf nur um zwei Zentimeter anpassen lässt, weshalb die meisten Hobbyfahrer zur Säge greifen müssen. Am Advanced 2 stören die billigen Bremsschreiben, die bei starker Erwärmung nicht vorbehaltlos standfest sind. Die neue Zwölffach-105 arbeitet dagegen tadellos, gegenüber der elektronischen Dura-Ace mit Einbußen bei Ergonomie und Performance.
Gemessen an der TOUR-Note und dem Fahrerlebnis gibt es für die Kaufempfehlung keine zwei Meinungen. Das Advanced SL ist ein Musterbeispiel für eine kompromisslose Rennmaschine, die Leichtbau und Aerodynamik wie nur wenige Modelle vereint und damit das Advanced 2 weit in den Schatten stellt. Wäre da nicht das Preisschild: Gegenüber vergleichbaren Modellen ist der High-End-Bolide in exklusiver Teamlackierung zwar fair kalkuliert, sofern man das bei 11.999 Euro sagen kann. Die Basisversion bekommt man aber schon für ein Viertel, wodurch Budget für Tuning frei bleibt. Ab rund 1.500 Euro bekommt man einen schnellen Laufradsatz, mit dem sich die Fahrcharakteristik des Advanced 2 grundlegend verbessert und der David unter den Propel-Modellen dem Goliath auf die Pelle rückt.