Nur 723 Gramm wiegt der SL8-Rahmen – ein Hauch von Nichts für ein Rennsportgerät, das unter allen Umständen funktionieren muss. Bergab in der Hand rasender Abfahrer, im Rennfinale unter den Tritten der stärksten Sprinter, bei den Frühjahrsklassikern unter den hämmernden Schlägen des Kopfsteinpflasters. Das SL8 erreicht rennfertig locker das für Profiräder vorgeschriebene Mindestgewicht von 6,8 Kilogramm; es ist aber nicht nur besonders leicht, sondern erzielt seinen Vorsprung, weil es geringes Gewicht mit guter Aerodynamik kombiniert (209 Watt für 45 km/h in der TOUR-Windkanalmessung). Es ist nicht das aerodynamisch beste Rad, das TOUR bislang getestet hat, aber es ist besser als die anderen leichten Allrounder und nicht weit weg von den Spezialisten.
Aerodynamische Optimierung verursacht aufgrund flächigerer Rahmenformen in der Regel mehr Gewicht. Diesen Aufschlag so gering wie möglich zu halten, ist ein Schlüssel zur herausragenden Gesamtleistung des SL8. Mit 25 Gramm beziffert Specialized den Aufschlag für die markante Nase vor dem Steuerrohr, einem der wenigen auffälligen Aero-Features. An anderer Stelle muss entsprechend kräftig gespart worden sein, um in Summe leichter zu werden. Zugleich ist der Rahmen verwindungssteifer geworden. Wie machen das die Ingenieure? Haben sie andere Materialien zur Hand als die Konkurrenz? Gibt es ein neues Fertigungsverfahren? Der verantwortliche Ingenieur, Sébastien Servet, verneint. Er habe keine anderen Fasern als der Wettbewerb und fertige nach bekannten Prinzipien.
Nicht die besonderen Fasern, sondern der einzigartige Entwicklungsprozess und sein Team seien dafür verantwortlich, die ambitionierten Ziele erreicht zu haben, sagt Servet (siehe Interview). Acht Entwickler haben drei Jahre lang daran gearbeitet, Rahmen, Gabel, Lenker-Vorbau-Einheit und Sattelstütze – zusammengefasst das Chassis des Rades – in die bestmögliche Form für den Sekundenpoker im Profisport zu bringen. Bezogen auf die zu formende Menge Material, dürfte es wenig Leichtbauobjekte auf Erden geben, in die mehr Entwicklungszeit geflossen ist. Da kommen auch Raumfahrer nicht mehr mit. Mit Simulationen auf Supercomputern suchte das Team nach der besten Mischung aus Aerodynamik, Gewichtsminimierung und handfesten mechanischen Eigenschaften: steif im Antritt, fahrsicher und präzise, aber mit der richtigen Dosis Nachgiebigkeit am Sattel.
Dass das Specialized Tarmac SL8 optisch recht unspektakulär wirkt, liegt mutmaßlich am Entwicklungsprozess: Die Lösung für das klassische Optimierungsproblem aus Gewicht, Aerodynamik und struktureller Steifigkeit wurde nach rein technischen Gesichtspunkten gesucht. Maschinen gehen dabei vorurteilsfrei innerhalb der gesetzten Grenzen vor. Da ist nichts Barockes, keine spektakuläre Designkante, kein imaginärer Tragflügel, ausgenommen vielleicht der extrem flache Oberlenker des integrierten Cockpits. Die äußere Form wird reduziert aufs technische Minimum – und heraus kommt etwas Vertrautes, visuell dicht am Zuschnitt des klassischen Diamantrahmens. Faszinierend! Andererseits ist das SL8 trotz optischer Ähnlichkeit aerodynamisch viel besser als ein Rundrohrrahmen vom Kunsthandwerker.
Das formidable, direkte und präzise Fahrverhalten beruht aber auf inneren Werten. Anders als bei den Rohren metallener Rennräder ist der Aufbau von Carbonrohren nicht homogen. Carbonfasern geben den Erschaffern unendliche Möglichkeiten, die Eigenschaften der Konstruktion von Grund auf zu bestimmen, und das an jeder Stelle. Diese sehr weitreichende Designfreiheit gibt den Konstrukteuren eine gewisse Allmacht und führt uns Betrachter leicht hinters Licht. Denn was ein Bauteil zu leisten vermag, lässt sich alleine anhand seiner äußeren Gestalt nur noch schwer abschätzen. Wir haben schon Rennräder im Labor vermessen, die trotz viel wuchtigerer Optik viel geringere Steifigkeitswerte erzielten als das SL8. Auch in dieser Hinsicht ist das Rad pures Understatement.
Ein Blick ins Innere des SL8 verrät mehr über die Bauweise als die äußere Betrachtung. Beispiel Tretlagerknoten: Die Innenwände des Rahmens sind perfekt glatt und frei von Falten – was zeigt, dass das Laminat sehr gut komprimiert wurde. Das klassische BSA-Schraubgewinde aus Aluminium sitzt auf einem dünnen, aus Carbon geformten Kragen. Wie der Hauch von Aluminium und das bisschen Carbon verbunden wurden, erschließt sich dem Betrachter nicht. Klar aber ist, dass hier gehörig Hirnschmalz investiert wurde, um das Gewicht minimal zu halten und die Funktion praxisgerecht. Dieses Detail steht stellvertretend für viele weitere – Zufall ist an diesem Rennrad nichts. Es folgt dem Designprinzip des Weglassens. Erst wenn nichts mehr weggelassen werden kann, ohne die Funktion zu kompromittieren, ist die optimale Form erreicht.
Specialized treibt ohne Frage enormen Aufwand. Jenseits allen Marketings ist das durch die Fakten des TOUR-Tests belegbar. So gesehen ist das SL8 ein ehrliches Produkt. Wahnsinnig teuer, aber eben auch wahnsinnig gut. Muss man das haben? Nein. Aber es macht großen Spaß, es zu fahren. Zu wissen, welche Anstrengung in die Konstruktion floss, steigert den Fahrspaß nochmals. Denn das Rad repräsentiert, wonach wir im Sport streben: höher, schneller und weiter fahren.
Was kann nach dem SL8 noch kommen? Ein nochmals leichteres Rad? Solange die UCI das Limit bei 6,8 Kilogramm belässt, wird das SL9 aller Voraussicht nach vor allem aerodynamisch noch besser werden, denn Rennfahrer hätten davon den größeren Nutzen.
Man braucht die besten Experten.
TOUR: Wann begann die Entwicklung des SL8?
Sébastien Servet: Ende 2019. Wir waren damals vom gerade fertigen SL7 begeistert, das noch nicht im Verkauf war, von einigen Profis aber schon gefahren wurde. Wir trafen die Profis Yves Lampaert und Remco Evenepoel in Morgan Hill, im Specialized-Hauptquartier. Wir fragten sie: Seid ihr zufrieden mit dem SL7, was passt, was wünscht ihr euch?
TOUR: Was wünschten sich die beiden?
Sébastien Servet: Geringeres Gewicht war die Nummer eins, was uns überraschte. Aerodynamik war auch ein großes Thema. Das war der Startpunkt für die Optimierung. Die Ziele lauteten 200 Gramm weniger als das SL7 und vier Watt weniger Luftwiderstand.
TOUR: Wer war die treibende Kraft der Weiterentwicklung?
Sébastien Servet: Ich war der leitende Ingenieur für das Projekt. Peter Denk (Entwicklungsingenieur in Freiburg; Anm .d. Red) hat großen Einfluss. Er bekam vor neun Jahren von Specialized die Gelegenheit, ein Team aufzubauen, um angedachte Projekte zu verwirklichen, zum Beispiel mit den besten Aero- und FE-Experten (FE steht für Finite-Elemente-Methode, vereinfacht Festigkeits- bzw. Verformungsberechnungen; Anm. d. Red.). Das hat unser Team sehr international gemacht. Ohne die absolut besten Experten auf verschiedenen Feldern hätten wir das SL8 nicht entwickeln können. Wir haben 17 Leute aus neun Nationen in Freiburg für die Entwicklung von Straßenrädern. Ein Teil des Teams arbeitet in Morgan Hill, andere Mitarbeiter befinden sich in Asien und betreuen die Fertigung.
TOUR: Wird der SL8-Rahmen in der klassischen SchlauchblasMethode in Asien produziert?
Sébastien Servet: Ja. Am Ende backen wir die Rahmen wie üblich. Hitze wird angewendet. Negative Formen kommen zum Einsatz. Aber die Details, der Aufwand, den wir reinstecken in die Definition der Werkzeuge und Formen, das ist einzigartig nach meiner siebzehnjährigen Erfahrung in der Fahrradindustrie.
TOUR: Kann das Laminat am Computer gerechnet werden, oder ist der Prototyp unverzichtbar?
Sébastien Servet: Der Computer-Entwurf mit der Finite-Elemente-Methode kann viel leisten – wenn man Erfahrung hat. Die Prognosen mittels Software sind aber nur gut, wenn die Informationen, die rein gehen, korrekt sind. Wir haben an Prototypen getestet, ob Prognose und Realität zusammenpassen. Die Sicherheit des Produkts müssen wir real testen, die Verantwortung können wir nicht auf den FE-Experten abwälzen.
TOUR: Zum Ende des Entwicklungsprozesses wurde der Rahmen schwerer gemacht, um die Steifigkeiten zu steigern?
Sébastien Servet: Richtig. Das war eine bewusste Entscheidung. Wir bauen zunächst so leicht wie möglich, damit die Struktur so effizient wie möglich ist, und danach folgt eine Verfeinerung mit speziellen Lagen und Fasern. Die kleinen Iterationen am Ende sind ganz wichtig, um die spezifischen Steifigkeitsziele zu erreichen, beziehungsweise um den Rahmen solider und zuverlässiger zu machen.
TOUR: Stecken spezielle Fasern im Rahmen?
Sébastien Servet: Specialized ist groß und mächtig, aber nicht groß genug, um neue Fasern zu entwickeln. Wir bekommen keine besonderen Fasern, aber spezifische Mischungen, zum Beispiel mit maßgefertigter Lagendicke. Außerdem können wir natürlich entscheiden, welche Faser wir wo verwenden. Das besondere bei Specialized ist die Präzision, mit welcher das Layup entwickelt werden kann, und die Komplexität, die erreicht wird, sowohl bei der Definition der Lagenform wie auch bei der Anzahl von Fasertypen.
TOUR: Könnte man, würde man nur die teuersten Fasern nehmen, einen noch besseren Rahmen bauen?
Sébastien Servet: Die teuerste Faser überall wäre keine Lösung. Die Mischung aus Design und der richtigen Faser an der richtigen Stelle macht’s.
*Gewogene Gewichte.
**Herstellerangabe Testgröße fett.
***Stack/Reach projiziertes senkrechtes/waagerechtes Maß von Mitte Tretlager bis Oberkante Steuerrohr; STR (Stack to Reach) 1,36 bedeutet eine sehr gestreckte, 1,60 eine aufrechte Sitzposition.
****Laufradgewichte inklusive Bereifung, Kassette, Schnellspanner/Steckachsen und ggf. Bremsscheiben.