Das Vorgeplänkel und die Geheimniskrämerei dürften wohlüberlegt gewesen sein - das Ziel, über längere Zeit Aufsehen zu erregen und im Gespräch zu bleiben, wurde Zweifels ohne erreicht. Factor schob bereits beim Critérium du Dauphiné im Frühsommer einen aufsehenerregenden Prototypen an den Start und gewann mit Jake Stewart prompt eine Etappe. Auch bei der medienwirksamen Tour De France im Sommer war der spektakulär designte Bolide häufig im Einsatz, in schlichtem schwarz, ohne Schriftzüge und selbst auf hartnäckige Nachfrage ohne jegliche Hintergrundinformationen. Später wurde das Rad sogar am Stand auf der Eurobike-Messe präsentiert, noch immer namenlos und zu Infos wie Gewicht, Markteinführung, Konstruktionsdetails oder Preisen schwieg das Unternehmen bis zuletzt eisern. Erst jetzt, zum Jahresende, lichtet Factor den Nebel und verkündet den offiziellen Marktstart: Das neue ONE wird zukünftig als spezialisiertes Aero-Modell neben dem Race-Allounder Ostro und dem Leichtbaumodell O2 V.A.M. das Portfolio des britisch-taiwanesischen Herstellers komplettieren.
Bei der offiziellen Präsentation des Boliden geizen die Macher nicht mit Superlativen: Für Firmengründer Rob Gitelis ist das ONE “die Kulmination der Arbeit der letzten zehn Jahre.” “Das beste Bike das ich je gemacht habe, und ich denke das beste, das die Rennrad-Industrie bislang gebaut hat” findet Chefingenieur Graham Shrive. Für Ex-Profi und Brand Director David Millar “fühlt sich das Rad auf eine Weise lebendig an, die schwer zu erklären ist.” Und der von Factor gesponserte Profi Pascal Ackermann vom Team Israel - Premier Tech berichtete nach Testfahrten: "Es fühlt sich an, als würde das Rad dir helfen - es schneidet nicht nur durch die Luft, sondern zieht dich hindurch."
Es ist offensichtlich, dass beste Aerodynamik an oberster Stelle im Lastenheft gestanden haben muss. Das spektakulär gezeichnete Modell fällt nicht nur durch seine Bajonett-Gabel mit extrem weit ausgestellten Gabelscheiden auf, die durch jüngste UCI-Regeländerungen beim Rahmendesign erst ermöglicht wurden. Auch der Lenker, der an ausgebreitete Möwenflügel erinnert - und auch so heißt (”Gull-Wing”) - , der extrem schmale und lang gezogene Steuerkopfbereich sowie der Hinterbau wirken mindestens ungewöhnlich und hat man bislang bei Straßenrädern in dieser Konsequenz noch nicht gesehen. Damit nimmt das ONE Anleihen am Factor-Zeitfahrrad Hanzo und an aktuellen Wettkampf-Bahnrädern von Hope oder Canyon.
Windkanaltests bestätigen laut Factor eine aerodynamische Überlegenheit: Acht Prozent schneller soll es gegenüber dem OSTRO VAM 2.0 sein, 15 Prozent gegenüber dem Cervélo S5 (2024) und satte 22 Prozent gegenüber dem Specialized Tarmac SL8. Besonders bemerkenswert ist laut Factor die Fähigkeit des Rades, seine aerodynamischen Vorteile auch bei Seitenwind bis über 15 Grad beizubehalten, wo andere Plattformen an Effizienz verlieren.
Das Entwicklungsteam hat bei der Konzeption des ONE die Realität des modernen Radsports berücksichtigt: Fahrer sitzen heute weiter vorne, nutzen schmalere Lenker, kürzere Kurbeln und fahren mit aerodynamischeren Positionen als je zuvor, so Factor. Die “Scharnierlenkung”, welche die Lenkerbefestigung von der Lenkachse entkoppelt, ermöglicht Positionen, die zuvor instabile, weil sehr lange Vorbauten erfordert hätten. Ein Mehr an Tretlagerabsenkung von fünf Millimetern gleicht das durch kürzere Kurbeln und moderne, sprich breitere Reifen veränderte Handling aus, ermöglicht eine tiefere und aerodynamischere Sitzposition und hält das Rad bei hohen Geschwindigkeiten stabil. Die Geometrie wurde so konzipiert, dass sie über alle fünf Rahmengrößen hinweg identische Lenkeigenschaften bietet. Der Sitzrohrwinkel kann über die verstellbare Sattelstütze im Bereich von 73,5 bis 77 Grad angepasst werden, wodurch die effektive Passform trotz des steileren nominalen Sitzrohrwinkels der des Ostro VAM entspricht.
Das neue integrierte Lenksystem des ONE ersetzt den herkömmlichen Vorbau vollständig durch eine Auswahl von fünf Größen, die Vorbauten von 110-150 Millimetern entsprechen. Dazu gibt es drei Rise-Optionen, die den Oberlenker in unterschiedlichen Höhen platzieren und bis zu 15 Millimeter Spacer-Verstellbarkeit. Dies bietet den Fahrern einen Verstellbereich von 35 Millimetern in der Höhe, ohne Aerodynamik oder Handling zu beeinträchtigen. Die Steifigkeitswerte des “Gull-Wing”-Lenkers sind laut Hersteller außergewöhnlich - bis zu 50 Prozent höher als bei einer vergleichbaren Lenker-Vorbau-Kombination. Das ONE zielt damit klar auf kräftige Sprinter, Federkomfort darf man zumindest an der Front wohl nicht erwarten.
Das Factor ONE wird komplett in der eigenen Fabrik von Factor in Taiwan hergestellt, was eine schnelle Prototypenentwicklung und Verfeinerung ohne Wartezeiten für externe Werkzeuge ermöglicht. Der Rahmen besteht aus hochmodulem Karbonverbundwerkstoff mit einem Layup, das auf Sprintbelastungen optimiert ist. Das Gewicht des Rahmens in Größe 54 soll 900 Gramm betragen, die Gabel wiegt 540 Gramm, das Cockpit (Größe 3) 210 Gramm und die Sattelstütze 230 Gramm. Das ONE bietet eine Reifenfreiheit von 34 Millimetern (gemessen). Das Rad ist ausschließlich für elektronische Schaltsysteme mit vollständig interner Zugführung konzipiert.
Das Factor ONE wird in fünf Rahmengrößen (47, 52, 54, 56, 58) und vier Farboptionen angeboten: Blush, Nimbus Grey, Onyx Black und Silverstone. Der Basispreis für das Factor ONE liegt bei 8199 Euro, allerdings bekommt man dafür nur das Rahmenset. Schon mit Laufrädern der Eigenmarke Black Inc. werden 11399 Euro fällig, dann hat das Rad aber weder Antrieb noch Bremsen, keine Reifen und keinen Sattel. Das günstigste Komplettrad kommt mit Shimano Ultegra und kostet 13099 Euro. Mit Dura-Ace, wie es von den Profis gefahren wird, kostet das Rad 15099 Euro. Die Spitze des Lineups bildet eine Ausstattungsvariante mit Campagnolo Super Record: 15899 Euro werden dafür fällig.