In der World Tour fährt aktuell zwar kein einziges italienisches Team, doch gleich fünf Mannschaften sind mit Material aus Italien unterwegs. Keine Nation stellt mehr Ausrüster. Neben Bianchi, Colnago, Pinarello und Wilier ist beim diesjährigen Giro d’Italia auch noch De Rosa vertreten. Der einstige Sponsor bei Cofidis stattet ein zweitklassiges Team aus, das per Wildcard zum ersten Rundfahrt-Highlight der Saison eingeladen wurde.
Sie schaffen es immer noch. Italienische Rennräder umströmt auch im Jahre 2024 eine besondere Grandezza. Mit den Race-Modellen der großen Marken verbinden viele Radsportler und Radsport-Fans weit mehr als nur ein Fortbewegungsmittel oder Arbeitsgerät der Profis. Ein Bianchi, Colnago, Pinarello oder Wilier steht für Tradition, Leidenschaft und Schönheit. Sie sind Statussymbole. Fahrrad statt Ferrari! Doch sind die Maschinen auch technisch auf dem aktuellen Stand? Anlässlich der 107. Auflage des Giro d’Italia gingen wir dieser Frage nach und beleuchteten das aktuelle Profimaterial aus bella Italia. Die Räder entsprechen den Arbeitsgeräten der fünf World-Tour-Teams, die in dieser Saison auf Italo-Rennern unterwegs sind.
Während Colnago mit dem V4Rs und Pinarello mit dem Dogma F nur einen vielseitigen Boliden im Sortiment haben und damit die Teams UAE Emirates um Ausnahmekönner Tadej Pogacar sowie Ineos Grenadiers um Altstar Geraint Thomas ausrüsten, stehen Arkea-B&B Hotels, Astana Qazaqstan und Groupama-FDJ jeweils zwei Alternativen von Bianchi und Wilier zur Verfügung. Obwohl die Arkea-Profis im Rennbetrieb hauptsächlich auf das aerodynamisch bessere Oltre RC setzen, schickten wir das leichte Specialissima RC in den Test, da Bianchi unserer Testeinladung nicht nachkommen konnte.
Wilier lieferte eine originale FDJ-Teamversion des schnellen Filante SLR. Alle Räder durchliefen unsere Tests in Labor, Windkanal und auf der Straße. Aufgrund der ungleichen Voraussetzungen verzichten wir aber auf eine TOUR-Note und ordnen die Profiräder stattdessen nach ihren Stärken im Rennbetrieb ein: Welches Modell ist prädestiniert für lange Solofluchten? Welcher Bolide bringt die PS im Sprint am besten auf den Asphalt? Welches Rad bringt Vorteile in den Bergen? Welche Maschine bietet an langen Renntagen den größten Komfort?
Die vier Kandidaten liegen in ihren Fähigkeiten eng beieinander, wenngleich die Arbeitsgeräte der Stars natürlich unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Am weitesten öffnet sich die Schere bei der aerodynamischen Qualität: Das Pinarello geht mit 208 Watt als Spitzenreiter aus dieser Kerndisziplin hervor und lässt die Räder von Bianchi und Colnago klar hinter sich. Fast 15 Watt müssen die Arkea- und UAE-Profis mehr treten, um den Luftwiderstand des Specialissima oder V4Rs zu überwinden. Ein klarer Materialnachteil, den das schnellere Oltre abschwächen dürfte. Doch für Pogacar bedeutet das in fast allen Rennsituationen deutlich mehr Arbeit. Speziell im Sprint oder bei langen Solofahrten lässt sich die schwache Aero-Performance des V4Rs nicht wegdiskutieren.
Eine Hypothek, die Pogacar mit seinem explosiven Fahrstil und taktischem Gespür ausgleichen muss, soll es in diesem Jahr mit dem avisierten Doppeltriumph bei Giro und Tour klappen. Ehrlicherweise muss man zugestehen, dass dem Slowenen dies in den ersten Rennen der Saison nicht sonderlich schwergefallen ist. Dennoch zeigt sich das Manko auch im Vergleich zu den Rädern anderer World-Tour-Teams: Das aerodynamisch optimierte Cervélo S5 von Jonas Vingegaard, der beim Giro nicht starten wird und sich voll auf das Triple bei der Frankreich-Rundfahrt fokussiert, spart im Renntempo sogar 20 Watt.
Da sich die großen Rundfahrten in den Bergen entscheiden, zahlt natürlich auch das Gewicht der Räder auf die Wettbewerbsfähigkeit ein. Wenig überraschend setzt sich in dieser Wertung das Bianchi (6660 Gramm) an die Spitze. Als einziger Italo-Renner unterbietet die Testversion ohne Pedale und Flaschenhalter das UCI-Gewichtslimit, fahrfertig dürfte das Specialissima bei rund sieben Kilogramm liegen. Leichter geht es im Zeitalter von Scheibenbremsen und Elektronikschaltungen kaum.
Bemerkenswert: Das Wilier (6850 Gramm) liegt trotz seines Fokus auf der Aerodynamik in Schlagdistanz, auch das Pinarello (7030 Gramm) erreicht einen guten Wert. Im Peloton zählen das Factor O2 VAM und das brandneue Giant TCR Advanced SL zu den leichtesten Bergspezialisten. Allerdings bleiben auch diese Modelle vorwiegend auf den Begleitfahrzeugen, da sie gegenüber den Varianten Ostro VAM und Propel Advanced SL aerodynamisch hinterherhinken.
Eine Schwäche teilen sich fast alle vier Profiräder: Sie sind nicht besonders verwindungssteif, wie unsere Messungen und Vergleiche mit der Konkurrenz ergaben. Das Bianchi ist zudem nicht besonders antrittsstark. Die tendenziell leichtgewichtigen Anwärter auf den Rundfahrt-Gesamtsieg werden davon weniger merken als sprintstarke Tempobolzer, die auf schnellen Abfahrten über 100 km/h auf dem Tacho haben und sich mehr Spurtreue wünschen dürften. Hobbyfahrer stoßen zwar selten in diese Grenzbereiche vor, sind je nach Körpergewicht aber mit robusteren, verwindungssteiferen und spurstabileren Rädern besser beraten.
Beim Komfort, nicht unbedingt eine Stärke der auf Speed getrimmten Maschinen, setzt sich das Colnago als einziges Rad etwas ab. Die vergleichsweise filigrane Sattelstütze minimiert Vibrationen spürbar, wodurch Pogi & Co. länger frisch bleiben und die Power effizienter auf die Pedale bringen können. Bei der Sitzposition ergeben sich keine Überraschungen, Rahmengeometrie und teils lange Vorbauten der integrierten Cockpits ziehen den Oberkörper rennmäßig in die Länge. Für Hobbysportler gibt es bequemere, für Hobbyschrauber wartungsfreundlichere Alternativen.
Bei aller “emotione” der Italo-Racer bleibt als Fazit, dass sie technisch nicht ganz mit den High-End-Boliden der Konkurrenz mithalten können. An sich kein großes Manko. Schließlich ist der Kreis absoluter Top-Modelle klein. Diskussionswürdig sind allerdings die extremen Preise, die das Quartett für die Wettkampfräder aufruft. Auch andere namhafte Hersteller hängen ihren Racern Preisschilder um, die Normalverdiener ratlos zurücklassen und nicht nur auf hohem Entwicklungsaufwand oder exklusiven Materialien basieren können.
Bei den “Big Four” aus Italien liegt aber der Verdacht nahe, dass bewusst mit dem Mythos der Traditionshäuser gespielt und damit Profit gemacht werden soll. Klare Alleinstellungmerkmale sucht man jedenfalls vergeblich. So werden die Rahmen-Sets aus Carbon wie bei der Konkurrenz in Asien, vorwiegend in Taiwan, gefertigt. Zwar ist Bianchi, Colnago, Pinarello und Wilier das Bestreben nicht abzusprechen, auch preiswertere Alternativen bereitzustellen. Fast alle Hersteller bieten abgewandelte Basismodelle für etwa die Hälfte des Preises an. An die Fahreigenschaften der Top-Modelle kommen diese Versionen allerdings nicht heran – und sie sind auch in ihrem jeweiligen Wettbewerbsumfeld vergleichsweise teuer.