Auf dem kahlen Gipfel der Bola del Mundo, gekrönt nur von den gewaltigen Fernsehantennen aus den 1950er-Jahren, sah man endlich den Jonas Vingegaard, den man bei dieser Spanien-Rundfahrt schon viel öfter erwartet hatte: Ein paar schnelle Tritte, dann war er auf dem mit rauen Betonplatten belegten ehemaligen Ziegenpfad leichtfüßig an seinen Rivalen vorbeigezogen. Der Etappensieg war sein, die Führungsposition im Klassement gefestigt. Aber überwältigend war der Vorsprung nicht, den er an diesem Tag herausfuhr. Elf Sekunden nur lag sein Teamkollege Sepp Kuss zurück, 22 Sekunden sein Hauptrivale João Almeida, dazwischen noch der Australier Jai Hindley und der Brite Thomas Pidcock, in Madrid auf dem vierten und dritten Gesamtplatz. Vingegaard war besser als sie, auch an diesem Tag, aber eben nicht viel besser. Am Ende war er vor allem erleichtert. “Ich wollte in Bilbao gewinnen. Ich wollte am Angliru gewinnen”, erinnerte er an zwei Etappen, die ihm entgangen waren. Die erste wegen der massiven Proteste der Anti-Israel-Demonstranten, die zweite verlor er sportlich gegen Almeida. “Aber Bola del Mundo ist auch etwas Besonderes”, tröstete er sich. Und ein schmales Lächeln zeichnete sich auf seinem von spärlichem Bartwuchs bedeckten Gesicht ab.
Die anderthalb Wochen zuvor hatte er ganz und gar nicht glänzen können. Auch am Angliru nicht, der Königsetappe dieser Vuelta. Er kam einfach nicht an Almeida vorbei. Konnte er nicht oder wollte er nicht?, fragte man sich während der langen sechseinhalb Kilometer, die der Portugiese von vorne fuhr. Der wirkte bei aller Freude über seinen Erfolg auch ziemlich überrascht von Vingegaards Vorstellung: “Ich habe jeden Moment auf seinen Angriff gewartet und dachte, er würde mich auf der Ziellinie überholen.” Aber der Däne wagte sich aus dem Schatten des UAE-Profis nicht heraus. Er war, so gab er zu, an seine Leistungsgrenze gelangt: “Ich habe getan, was ich konnte.”
Am Tag darauf reichte sein Leistungsvermögen im Vergleich zur Konkurrenz schon zu mehr. Hinter Marc Soler, der den siebenten Tagessieg für UAE Team Emirates sicherte, konnte er dessen Teamkollegen Almeida im Bergsprint von La Farrapona niederringen. Es war ein moralischer Aufheller für den Dänen, aufgehübscht noch von den zwei Bonussekunden, die er als Etappenzweiter auf den Dritten herausgeholt hatte. Aber die Dominanz, die er in der ersten Woche noch hatte, als die Vuelta schon entschieden schien, strahlte er hier nicht mehr aus.
Welch schräges Ende dieser Vuelta: Auf dem Parkplatz des Marriott Hotels, in der Nähe des Madrider Flughafens, waren drei Kühlboxen aufgestellt, jeweils per Hand mit den Ziffern 1, 2 und 3 beschriftet. Auf ihnen ließen sich die drei Besten der Gesamtwertung und auch die vier Trikotträger feiern. Sie legten die Arme umeinander und genossen den Applaus der Berufskollegen, die der improvisierten Zeremonie beiwohnten, während das offizielle Siegerpodest der Vuelta verwaist blieb. “Boys will be boys”, schrieben die Social-Media-Verantwortlichen von Vingegaards Rennstall Visma | Lease a Bike unter den Facebook-Post, mit dem sie Bilder der anschließenden Champagnerdusche verbreiteten. Und ja, man konnte es als einen versöhnlichen Abschluss einer sehr besonderen Spanien-Rundfahrt betrachten. Die Fahrer hatten sich ihr Event wieder zurückgeholt. Zuvor war ihnen der Einzug nach Madrid verwehrt worden. In den Randbezirken der Hauptstadt, 57 Kilometer von der geplanten Ziellinie entfernt, war auf der letzten Etappe Schluss. Demonstranten hatten Barrieren durchbrochen. Sie schwenkten riesige Palästina -Fahnen, skandierten Sprechchöre gegen Israel. Schon am Rande anderer Etappen waren sie aktiv, in der baskischen Hauptstadt Bilbao verursachten sie den Abbruch der 11. Etappe. Die Proteste richteten sich auch gegen die Teilnahme des Teams Israel-Premier Tech, das den Namensbestandteil “Israel” während der Rundfahrt von den Trikots entfernte. Der Anblick der Menschenmassen, die hinter den Gittern revoltierten, jagte manchem Fahrer Schauer über den Rücken. “Sie waren fast wie wilde Tiere hinter einer Absperrung, die versuchten, sich zu befreien”, schilderte Soudal Quickstep-Profi Louis Vervaeke das Geschehen aus seiner Perspektive.
In Madrid brüllten einige Demonstranten nach dem Abbruch des Rennens aus vollem Hals “Sieg für Palästina”. Es war vielleicht ein kleiner Sieg der Aktivisten, aber vor allem war es eine krachende Niederlage des Sports. Zwei Etappen von 21 nicht zu Ende gefahren, weitere Tagesabschnitte aufgrund von Sicherheitsbedenken verkürzt, darunter auch das Zeitfahren in Valladolid. Hinzu kamen Stürze im Fahrerfeld, die von Demonstranten verursacht und Fluchtgruppen, die aufgehalten wurden. “Man guckt nicht mehr nur nach Verkehrsinseln und nach der Rennsituation, sondern auch nach Barrikaden auf der Straße”, meinte trocken der gebürtige Berliner Maximilian Schachmann, eines der Sturzopfer.
Vuelta-Chef Javier Guillén bezeichnete die Vorgänge als “absolut inakzeptabel”, musste sich aber auch Kritik gefallen lassen, viel zu spät und unzureichend auf die sich abzeichnenden Störungen reagiert zu haben. Auf einer Pressekonferenz nach dem Ende des Rennens sagte er: “Ich bedauere das Bild, das der Welt dadurch vermittelt wurde.” Mit Blick auf den geplanten – und während der Vuelta zunehmend in Zweifel gezogenen – Grand Depart der Tour de France 2026 in Barcelona forderte er auch: “Es ist offensichtlich, dass internationale Organisationen gewisse Entscheidungen treffen müssen. Auch der Radsport muss daran arbeiten und Vorschläge unterbreiten.”
Die Palette der denkbaren Optionen reicht von massiverem Polizeieinsatz über den Ausschluss von Athleten und Teams aus Ländern der Kriegsparteien, bis hin zum kompletten Aussetzen von Sportgroßereignissen während großer Kriege.
Noch beim Auftakt der Spanien-Rundfahrt in Italien hatte sich Vingegaard selbst verblüfft mit einem Sprinterfolg auf der Rampe von Limone Piemonte am zweiten Vuelta-Tag. Als Top-Favoriten für diese Art Finish hatte er noch vor dem Start Pidcock und den Italiener Giulio Ciccone hervorgehoben. Im Finale ließ er den Briten locker hinter sich und saugte sich dann an Ciccone heran, der bereits wie der sichere Sieger aussah. “Als ich die Möglichkeit erkannt habe zu gewinnen, habe ich sie ergriffen. Vor der letzten Kurve dachte ich noch, dass es nicht möglich wäre, ihn zu überholen. Dann war es aber doch länger bis zur Ziellinie”, beschrieb er die packenden letzten Meter im Nebel Norditaliens. Vingegaard zeigte große Klasse an diesem Tag. Er ließ sich weder durch einen Sturz irritieren noch durch den Diebstahl der Räder seines Rennstalls. Physisch war er voll da, mental ebenfalls.
Seine in dieser Saison erworbenen Sprintfähigkeiten stellte er tags darauf in Ceres erneut unter Beweis. Da duellierte er sich sogar mit Sprinter Mads Pedersen. “Wir wollten die Etappe heute mit Mads gewinnen”, bestätigte im Nachhinein Lidl-Trek-Teamkollege Ciccone. Im Sprint auf der kurzen Rampe war dann aber der Franzose David Gaudu der Schnellste vor Pedersen und Vingegaard. Das Trio lieferte sich eines der verblüffendsten Sprintfinals der vergangenen Jahre in Grand Tours.
Vingegaard hatte offenbar derart viel Zutrauen in seine neue Explosivität, dass er sich sogar an Zwischensprints versuchte. Auf der 19. Etappe kam ihm dann Landsmann Pedersen zu Hilfe. Er verzichtete auf vollen Krafteinsatz. “Wir sind beide Dänen, wir haben vorher miteinander gesprochen. Er brauchte die Sekunden nötiger als ich die Punkte”, meinte der souveräne Träger des Grünen Trikots.
Vingegaard hat mit der neuen Sprintstärke sein Repertoire beachtlich erweitert – was man auch als Kampfansage an Tadej Pogačar verstehen kann, der mit seiner Explosivität dem schmächtigen Dänen nicht nur bei der diesjährigen Tour de France immer wieder das Nachsehen gegeben hat.
Die Gala-Version des neuen Jonas Vingegaard durfte man auf der 9. Etappe erleben. Bereits elf Kilometer vor dem Ziel auf der Valdezcaray löste er sich mühelos aus dem Peloton. Konzentriert fuhr er 24 Sekunden Vorsprung heraus und küsste vor dem Passieren der Ziellinie erst seinen Ring, schlug sich dann mit beiden Fäusten auf die Brust und breitete schließlich die Arme zu seiner traditionellen Jubelgeste aus. “Es war eigentlich nicht geplant, dass wir das Rennen so offensiv gestalten. Aber als ich merkte, dass die Beine gut sind, habe ich das Team gebeten, mich zu lancieren, und Matteo Jorgenson hat das großartig gemacht”, meinte er später. Zu diesem Zeitpunkt wirkte er wie der eindeutige Patron dieser Vuelta.
Dieser Eindruck allerdings täuschte. Die in Valdezcaray errungenen 24 Sekunden sollten über die gesamten drei Wochen der größte Vorsprung bleiben, den er auf einer Etappe herausfahren konnte.
Nach dem Triumph begann die Leidenszeit des Jonas Vingegaard. “Schon nach der 9. Etappe fühlte ich mich etwas krank, schlimmer wurde es dann am Ruhetag”, erklärte er. Vingegaard hatte heftige Atemprobleme. “Er hat viel gehustet und litt jeden Tag. Erst in der dritten Woche konnte er das Ruder wieder herumreißen”, beobachtete sein Teamkollege und Helfer Sepp Kuss. Auch Vingegaard selbst gab den Leistungsabfall zu: “Vorher war ich auf meinem besten Niveau, dann aber musste ich buchstäblich um jedes Watt kämpfen.” Seine Leiden überspielte er aber zumindest so gut, dass seine Konkurrenten bei Team UAE Emirates sich nicht zum Generalangriff auf das Rote Trikot animiert fühlten, sondern die kollektiven Kräfte mit der Jagd auf Etappensiege verzettelten. “Für mich fahren sie um Platz zwei”, beurteilte Alexander Shefer von Team Astana die etwas erratische Strategie des Almeida-Rennstalls. Allerdings dürfte das Team auch in eine gewisse Unordnung geraten sein, erschüttert vom internen Konflikt zwischen Teamchef Mauro Gianetti und Juan Ayuso. Mitten in der Rundfahrt wurde der vorzeitige Abschied des Spaniers verkündet und ihm in einem Kommuniqué vorgeworfen, die Werte des Teams nicht zu teilen.
Vingegaard profitierte mitten in seiner eigenen Leidenszeit sicher von den Konflikten bei den Rivalen. Beeindruckend war aber auch seine mentale Widerstandskraft, mit der er gegen die körperlichen Beeinträchtigungen ankämpfte. Nach außen strahlte er stets Optimismus aus und konnte am Ende glücklich bilanzieren: “Der Gesamtsieg bedeutet mir eine ganze Menge. Es ist mein erster bei der Vuelta und der erste Grand Tour-Sieg seit zwei Jahren.”
Als Ziele für die kommenden Jahre rief er einen neuerlichen Sieg bei der Tour de France und den Kampf um die rosa Krone des Giro d’Italia aus. Bei der Vuelta hat er gezeigt, dass er vollenden kann – wenn auch in Abwesenheit von Pogačar –, und dass er gut darin ist, Schwächephasen auszuhalten. Der Arbeiter aus der Fischfabrik ist zu einem Champion gereift, der sein Team auch anführt.
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| 991 | Movistar Team | +00:00:00 |