No LimitsRückblick auf die Vuelta a Espana 2023

Tom Mustroph

 · 07.10.2023

Alle Etappensieger der Vuelta a Espana 2023: 1. Etappe: Team dsm-firmenich
Foto: Getty Velo
Platz eins bis drei im Gesamtklassement, fünf Etappensiege und beim Preisgeld fast 365.000 Euro abgeräumt: Die Vuelta a Espana 2023 stand ganz im Zeichen des Teams Jumbo-Visma – und der niederländische Rennstall hat in diesem Jahr alle drei großen Landesrundfahrten gewonnen. Gibt’s für das Team keine Grenzen?

Drei Rennfahrer lassen sich aus ihrer Gruppe etwas zurückfallen. Sie richten die Oberkörper auf und reichen sich die Hände. Etwas unsicher suchen sie noch die Balance. Aufgerichtet fahren ist nicht die Spezialität der Profis von Jumbo-Visma. Zu viel Aufwand wird mit Windkanaltests getrieben für die aerodynamisch beste Position, als dass die Rennfahrer geübt sein könnten, aufrecht freihändig zu fahren. Dann aber steht das ersehnte Jubelbild: Sepp Kuss in der Mitte, eingerahmt von Jonas Vingegaard und Primoz Roglic. Der zweimalige Tour-de-France-Sieger sowie der Giro- und Vuelta-Champion zeigen auf den Mann in der Mitte, als wollten sie sagen: Der hier ist der Held dieser Vuelta a Espana. Er verdient das Rampenlicht. Und wir akzeptieren dies jetzt auch.

Die siegreichen drei. Das Teamtrikot signalisiert mit den drei farbigen Streifen die Siege bei Giro, Tour und Vuelta in diesem JahrFoto: Getty VeloDie siegreichen drei. Das Teamtrikot signalisiert mit den drei farbigen Streifen die Siege bei Giro, Tour und Vuelta in diesem Jahr

Hilfreich bei der Jubelbildproduktion bei der Spanien-Rundfahrt 2023 war der berufliche Hintergrund von Sepp Kuss. Vor Beginn seiner Radprofi-Laufbahn in Europa beendete der gebürtige US-Amerikaner noch sein Studium für Werbung. “Werbung ist wichtig, du musst die Leute interessieren können für das, was du tust. Und das kann dich dann als Team oder als Fahrer unterscheiden von anderen Teams oder anderen Produkten”, erklärte er damals den Zusammenhang von Treten und Werben. Seine Kollegen Roglic und Vingegaard indes mussten offenbar noch eine gut zehntägige Fortbildung in Sachen Eigen-Marketing durchlaufen, bevor sie einen der wertvollsten Helfer bei ihren eigenen Grand-Tour-Siegen als ihresgleichen akzeptierten, als ­einen, der ebenfalls einen Grand-Tour-Sieg “drin” hat und den man deshalb unterstützen muss.

Meistgelesene Artikel

1

2

3

Jumbo-Visma: Lernprozess der Kapitäne

Dieser Prozess durchlief mehrere Stufen. Er begann auf der sechsten Etappe. Gleich drei Rennfahrer steckte Jumbo-Visma in die Ausreißergruppe des Tages. Kuss, der während der Rundfahrt am 13. September seinen 29. Geburtstag feierte, holte den Etappensieg und hatte genug Zeit, vor der Zieldurchfahrt noch ein paar Zuschauer ­abzuklatschen. “Wir wollten Quick-Step auf den Zahn fühlen”, sagte der US-Amerikaner, bevor er dann auf dem Siegerpodium so tiefe Schlücke aus der Champagnerflasche nahm, dass man dachte, er wollte sie gleich komplett leeren. “Er ist noch immer der Junge vom College, der weiß, wie man ­feiert”, feixte sein früherer Teamkollege Rob Britton vom US-Team Rally Cycling. Adam de Vos, der Kuss ebenfalls aus der frühen Karrierephase kennt, erinnerte sich an viel Aperol Spritz nach Rennen in Italien in der Saison 2017. Kuss ist einer, der sich noch ganz offenherzig freuen kann.

Mit dem Gewinn der sechsten Etappe legt Sepp Kuss den Grundstein für den größten ­Erfolg seiner KarriereFoto: Getty VeloMit dem Gewinn der sechsten Etappe legt Sepp Kuss den Grundstein für den größten ­Erfolg seiner Karriere

Das, und seine enorme Opferbereitschaft als Helfer, machte ihn bei der Vuelta a Espana 2023 zum Liebling bei Publikum und Peloton; als potenziellen Vuelta-Sieger hatte ihn bis dahin dennoch niemand auf dem Schirm. Kuss hatte zwar die Etappe gewonnen, aber die nominellen Leader, Roglic und Vingegaard, waren auf dem Schlussanstieg 44 Sekunden schneller als ihr Helfer. Zwei Tage später übernahm Kuss die Gesamtführung – aber erst nachdem er die Führung beim Zeitfahren der zehnten Etappe verteidigte, wurde er vom Edelhelfer zum Siegkandidaten hochgestuft.

Beim Einzelzeitfahren der 10. Etappe macht Kuss sein Meisterstück und verteidigt die 
GesamtführungFoto: DPA Picture AllianceBeim Einzelzeitfahren der 10. Etappe macht Kuss sein Meisterstück und verteidigt die Gesamtführung

Vuelta a Espana 2023: Wendepunkt Zeitfahren

“Wir kamen mit zwei klaren Spitzenreitern zur Vuelta: Jonas und Primoz. Wir haben im Vorfeld klargestellt, dass es uns egal ist, wer gewinnt, solange es jemand von Jumbo-Visma ist. Aus taktischen Gründen haben wir Sepp in die sechste Etappe einsteigen lassen. Dort holte er viel Zeit heraus. Nach dem Zeitfahren war er immer noch in guter Verfassung. Von diesem Moment an wurde er Teil unserer Strategie, und wir haben uns entschieden, mit drei Spitzenreitern zu fahren”, erläuterte Marc Reef, Sportlicher Leiter des Teams.



Die Kräfte, die nun losgelassen wurden, konnten aber fast nicht mehr beherrscht werden. Vingegaard und Roglic ­interpretierten die Freiheit so, dass sie Kuss wegfahren durften. Vingegaard pulverisierte auf der 13. Etappe der Vuelta a Espana 2023 am Tourmalet mit 50:54 Minuten die Bestzeit, die Thibaut Pinot dort bei der Tour de France 2019 aufgestellt hatte (51:15 Min.).

Am Tourmalet gewinnt Vingegaard (Zweiter von rechts, leicht verdeckt), Kuss bleibt in RotFoto: Getty VeloAm Tourmalet gewinnt Vingegaard (Zweiter von rechts, leicht verdeckt), Kuss bleibt in Rot

Kuss blieb mit 51:24 im Bereich von Bora-Profi Emanuel Buchmann 2019 (51:23), Roglic drei Sekunden dahinter. Am Angliru, auf der 17. Etappe der Vuelta a Espana 2023, fuhren der Slowene als Etappensieger und der Däne zeitgleich die zweitbeste jemals gefahrene Zeit (42:29 Min.). Die Bestzeit mit 41:56 hält seit 23 Jahren Roberto Heras, ein Fahrer aus der Hoch-Doping-Ära.

Kuss war nur unwesentlich schlechter als seine Teamkollegen – und fühlte sich durch sie nicht respektiert. “Wir haben uns nach der Angliru-Etappe zusammengesetzt, uns ausgesprochen und eine neue Herangehensweise festgelegt”, erzählte er später. Welche Worte genau gefallen waren, wollten die drei Protagonisten nicht verraten. “Das ist nichts für die Presse”, meinte Vingegaard knapp.

Primoz Roglic schickt sich an, die Angliru-Etappe zu gewinnen. Vingegaard und Kuss bleiben in ReichweiteFoto: Getty VeloPrimoz Roglic schickt sich an, die Angliru-Etappe zu gewinnen. Vingegaard und Kuss bleiben in Reichweite

Auf alle Fälle spannten die drei fortan zusammen: Vingegaard neutralisierte auf der 18. Etappe der Vuelta a Espana 2023 Vorstöße von Rivalen ­anderer Teams, Roglic übernahm den Job auf dem 20. Tagesabschnitt. Danach gab es nur noch Lobesgesänge füreinander. “Der Beste hat gewonnen”, meinte Roglic. “Ich hätte niemals das Messer in den Rücken von Sepp stecken können, nach allem, was er in früheren Rennen für mich getan hat”, versuchte Vingegaard die Öffentlichkeit zu überzeugen. Und für Kuss war es natürlich ein Leichtes, sich “für die tolle Unterstützung” der beiden zu bedanken.

Innerhalb des Rennstalls mochte man die Aufregung um die Teamtaktik ohnehin nicht nachvollziehen. “Die drei hatten ihre Freiheiten bekommen, und die haben sie genutzt. Sie sind aber nicht gegeneinander gefahren, sondern miteinander. Und wer die besseren Beine hat, gewinnt eben. Wir haben uns diese tolle Position erarbeitet”, bewertete Teamkollege Attila Valter die Tage zwischen der 13. und der 18. Etappe. Der Ungar mokierte sich sogar über die vielen selbst ernannten Sportlichen Leiter in den sozialen Medien: “Es ist superleicht, ein Team von außen zu beurteilen. Wir haben das getan, von dem wir dachten, dass es das Beste sei. Zuletzt sah man dann auch, dass jeder wollte, dass Sepp gewinnt.”

Jumbo-Visma: Branchenkönig

Jumbo-Visma ist mit dem Dreifach-Erfolg bei der Vuelta a Espana 2023 durch Kuss, Vingegaard und Roglic bei dieser Vuelta sowie mit dem Gewinn der drei Grand Tours in dieser Saison auf dem absoluten Höhepunkt angelangt. Begonnen hat alles ganz bescheiden im Jahre 2013, als das Team Blanco aus den Resten des durch Dopingskandale gebeutelten Rabobank-Rennstalls entstand. “Damals wollten wir einen neuen Weg gehen und die Vergangenheit hinter uns lassen. Ab 2015, 2016 begannen wir, mehr Energie, Geld und Aufwand in Aerodynamik, Material, Ernährung, Schlaf und natürlich Training hineinzustecken. Wir orientierten uns dabei zunächst an Team Sky, entwickelten dann aber unseren eigenen Weg”, blickte Teamchef Richard Plugge auf die vergangenen Jahre zurück.

Nun ist es nicht so, dass andere World-Tour-Rennställe auf die von Plugge genannten Aspekte ihres Metiers ­keinen Wert legen. Auffällig im Vergleich zum früheren Branchenprimus Sky ist aber der modernere Umgang mit den Kapitänen. Nicht nur setzt Jumbo-Visma oft mehrere Leader in den Rennen ein; ihre Rollen sind auch variabel gefasst. Roglic etwa setzte sich nach seinem Sturz bei der Tour de France 2022 klaglos für seinen Adjutanten Vingegaard ein. Wout van Aert ist ohnehin das Paradebeispiel für einen Fahrer, der in vielen Rennen die Kapitänsrolle innehat, bei den großen Rundfahrten seine eigenen Ambitionen aber nicht nur den Zielen des Teams unterordnet, sondern sich auch als Helfer förmlich zerreißt. “Wout ist solch ein toller Typ und der weltbeste Helfer. Ich denke, auch Tadej Pogacar würde sich ihn zuallererst aussuchen”, urteilte Jumbos Sportlicher Leiter Grischa Niermann am Rande der Frankreich-Rundfahrt. Dass der dreimalige Gewinner der Vuelta, Primoz Roglic, akzeptierte, Vingegaard nach dessen Tour-Sieg als zweiten Leader auch bei der Vuelta a Espana 2023 neben sich zu haben, ist ein weiterer Beleg für die Normalität von Rollenwechseln – bei Jumbo-Visma. Bei Team Sky dagegen war zwischen Bradley Wiggins und Chris Froome nach der Tour de France 2012 das Tischtuch so zerschnitten, dass die beiden Superstars keine weitere Grand Tour mehr gemeinsam bestritten.

Jumbo-Visma bei der Vuelta a Espana: Totaler Radsport

Teamchef Richard Plugge hat für die neue Herangehensweise den Begriff vom “totalen Radsport” geprägt. Er orientiert sich damit am “Voetbal total” der niederländischen Fußballnationalmannschaft um Johan Cruyff. Deren Markenzeichen waren schnelle Positionswechsel, um größere Dynamik ins Spiel zu bekommen und weniger berechenbar zu sein. “Jetzt sind wir besser als das Oranje-Team damals. Wir haben unsere WM, die ja die Tour de France darstellt, gewonnen”, bilanzierte Plugge stolz.

Das erfolgreichste Radsport-Profiteam der Gegenwart will auch in Zukunft nicht nachlassen. Zwar ist ein Nachfolger für den in der nächsten Saison ausscheidenden Namenssponsor Jumbo noch nicht gefunden. “Ich kann Ihnen aber versichern, dass unser Budget steht. Wir planen bis 2030”, so Plugge. Dass künftig nur noch Jumbo-Visma gewinnt, muss man aber auch nicht befürchten. “Wir haben weiter das Ziel, das beste Team der Welt zu sein”, versicherte beispielsweise Matxin Fernandez, Manager von UAE Team Emirates. Und tatsächlich führt UAE trotz der überragenden Jumbo-Performance in Spanien weiterhin das Mannschaftsklassement des Weltverbandes UCI an, und UAE-Star Tadej Pogacar liegt im Einzel-Ranking vor allen Jumbo-Fahrern. “Mit Tadej, Adam Yates und Jay ­Vine wäre die Vuelta a Espana von unserer Seite sicher auch ganz anders verlaufen”, meinte Fernandez. Seinen Worten lässt sich entnehmen, dass die Dreierformel in Zukunft vielleicht Schule macht. Vingegaard, Roglic und Kuss vs. Pogacar, Yates und Vine. Das wäre dann Radsport total 2.0.

Es liegt auf der Hand, dass diese Form der Überlegenheit neben Neid und Missgunst auch Zweifel weckt – die durch den positiven Dopingtest des deutschen Jumbo-Profis ­Michel Heßmann bei einer Trainingskontrolle zwangsläufig Nahrung bekam. Zwar versicherte Kuss, er dope nicht, weil er keine Angst vor dem Verlieren habe – und Doping ein Mittel gegen die Angst vor der Niederlage sei. Das klingt überzeugend. Ob es aber mehr ist als nur ein schlauer Spruch des gelernten Werbe-Spezialisten Kuss, muss die Zukunft zeigen.

Kommentar von Tom Mustroph: Allen Menschen recht getan

Jumbo-Visma konnte es bei dieser Vuelta kaum jemandem recht machen. Mal wurden die Kapitäne Primoz Roglic und Jonas Vingegaard der Undankbarkeit gegenüber ihrem Edelhelfer Sepp Kuss bezichtigt. Das fühlte sich moralisch sicher gut an. Aber Wettkampf­sport ist eben, sich zu messen. Dass Jumbo-Visma die Stallorder teilweise aufhob, war der Spannung nur zuträglich. Denn sonst war niemand anderes – abgesehen vom jenseits des Klassements frei flottierenden Remco Evenepoel – zu ernsthaften Attacken in der Lage.

Als Vingegaard und Roglic dann genügend Puffer zwischen sich und die Verfolger gebracht hatten, fuhr Jumbo schließlich im Block. Die, die vorher schimpften, waren nur halb befriedigt, dass jetzt doch Dankbarkeit Trumpf war. Zugleich wurde über den “geschenkten Sieg” für Kuss gemault – zum Teil von denen, die vorher die Dankbarkeit der Chefs vermissten.

Ja, Kuss war mit Sicherheit nicht stärker als Vingegaard oder Roglic. Aber er wurde aus einem taktischen Zufall he­raus an die Spitze des Klassements gespült. Er hielt sich dort wacker, wirkte auch solider als Ayuso, Landa und der ganze Rest. Er hatte das stärkste Team um sich und ist der verdiente Sieger.

Meistgelesen in der Rubrik Profi - Radsport