* Mattias Skjelmose, Michael Woods, David Gaudu, Thymen Arensman, Lorenzo Fortunato
** Enric Mas, Richard Carapaz, Ben O’Connor, Guillaume Martin
*** Sepp Kuss, Carlos Rodriguez, Mikel Landa
**** Adam Yates, Joao Almeida
***** Primoz Roglic
Die Vuelta Espana 2024 hat es in sich. Gleich in mehreren Belangen. Nicht nur, dass die Strecke in diesem Jahr wahrscheinlich die schwierigste aller drei Grand Tours ist: Bergankünfte und Klassement-relevante Etappen so weit das Auge reicht. Die Spanien-Rundfahrt wurde von den Teams stark besetzt. Alles, was Klettern kann, ist dabei. Abgesehen von Tadej Pogacar, Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel. Damit fehlen zwar die drei stärksten Rundfahrer ihrer Zeit. Doch das bedeutet für das Rennen, dass die Liste an potenziellen Siegern und Podiumskandidaten umso länger ist. Wer am Ende ganz oben stehen wird, ist aufgrund des Machtvakkuums und der dahinter folgenden großen Leistungsdichte nur schwer zu prognostizieren. Wir versuchen es trotzdem.
Als Top-Favorit geht - zumindest unter den Buchmachern - Primoz Roglic (Red Bull-Bora-Hansgrohe) ins Rennen. Der erste slowenische Grand-Tour-Sieger der Geschichte hat die Vuelta drei Mal am Stück gewonnen (2019-2021), dazu im Vorjahr mit 14 Sekunden Vorsprung auf Geraint Thomas den Giro. Und auch ein vierter Sieg bei der Spanien-Rundfahrt war im Vorjahr, damals noch im Trikot von Jumbo-Visma, in Reichweite - ehe er genau wie Vingegaard durch das Team ausgebremst wurde, damit ihr Edelhelfer Sepp Kuss zum viel umjubelten und vielseits geforderten Sieg fahren konnte.
Was neben seiner Erfahrung noch für Roglic spricht: Red Bull-Bora-Hansgrohe hat ihm ein extrem starkes Team an die Seite gestellt, das zumindest am Berg nochmal deutlich schlagkräftiger sein dürfte als bei der Tour de France. Aleksandr Vlasov und Daniel Martinez sind als Edelhelfer dabei und könnten im Fall der Fälle auch die Kapitänsrolle übernehmen, sollte Roglic dazu aus irgendwelchen Gründen nicht mehr in derLage dazu sein. Dazu kommen mit Florian Lipowitz, Giovanni Aleotti sowie Roger Adria drei weitere Fahrer, die am Berg gute Dienste leisten können.
Was gegen Roglic spricht: Jene Sturzanfälligkeit, die ihn zuletzt aus der Tour hat crashen lassen. Der 34-Jährige muss für einen sicheren Tipp einfach zu oft vom Rad. Ob es letztlich einfach nur Pech ist oder aber eine auf diesem Niveau mangelhafte Radbeherrschung, ist letztlich nicht zweifelsfrei aufzuklären. Doch allein der Umstand kratzt am Status als aktuell viertbester Rundfahrer. Dazu steht noch ein kleines Fragezeichen hinter seiner Verfassung, denn inwieweit ihn die Fraktur im Lendenwirbelbereich - zugezogen beim Sturz, der ihn vor etwas mehr als einem Monat aus der Tour nahm - in der Vorbereitung eingeschränkt hat und es vielleicht auch noch im Rennen tut, bleibt abzuwarten.
Was ebenfalls nicht für Roglic spricht, ist die starke Konkurrenz. In Abwesenheit ihrer Kapitäne lauern die besten Edelhelfer der Szene, die in anderen Teams nicht nur in Ausnahmesituationen mit eigenen Ambitionen in eine dreiwöchige Landesrundfahrt gehen würden, auf ihre Chancen. Gemeint sind neben Kuss vor allem Adam Yates und Joao Almeida (beide UAE Team Emirates), aber auch Mikel Landa (Soudal - Quick Step).
Sepp Kuss geht dabei eben als Titelverteidiger an den Start, der aber nicht unbedingt die besten Aussichten darauf hat, seinen Erfolg zu wiederholen. Der US-Amerikaner geht zwar mit dem Gewinn der Burgos-Rundfahrt in die Vuelta, doch das Vorbereitungsrennen war nicht annähernd so gut besetzt wie die Spanien-Rundfahrt selbst. Auf dem 29-Jährigen lastet erstmals der Druck, eine große Rundfahrt als Kapitän zu bestreiten, was nicht zu unterschätzen ist. Ein gutes Team steht dafür an seiner Seite. Wout van Aert, Dylan van Baarle, für die Berge die immer zuverlässigen Steven Kruijswijk und Robert Gesink sowie Attila Valter. Oben drauf kommt Supertalent Cian Uijtdebroeks, der in seinem ersten Jahr bei Visma aber nicht das liefern konnte, was sein erzwungener Wechsel mit vielen Nebengeräuschen im Winter von Bora in die Niederlande erwarten ließ. Dem Kommando von Kuss folgt also eine elitäre Auswahl. Doch vor den großen Namen darf der Mann, der eigentlich selbst für die Rolle als Edelhelfer geboren scheint, nicht allzu viel Respekt haben. Er muss sie hinter sich einen, um Chancen auf das Podium zu haben.
Einen, oder besser: einigen müssen sich auch Yates und Almeida. Beide für sich dürften stärker einzuschätzen zu sein als Kuss. Einen direkten Vergleich zu Roglic gibt es nicht, denn mit Kapitänsrolle sind sie in jüngster Vergangenheit nicht gegeneinander angetreten. Für beide steht aber viel auf dem Spiel: Sie haben die Möglichkeit zu beweisen, dass sie in Abwesenheit von Pogacar eine Grand Tour gewinnen können. Geraint Thomas behauptete in seinem Podcast diesbezüglich, dass der Slowene die Vuelta und damit die riesige Chance auf den historischen Gewinn aller drei Grand Tours in einem Jahr nur abgesagt hat, um die Stimmung im Team hochzuhalten, seinen Adjutanten eine Chance auf den eigenen Erfolg zu geben.
Yates hat seine letzten fünf Grand Tours - viermal davon die Tour, einmal die Vuelta - abgesehen von der, die er noch im Trikot von Mitchelton-Scott mit unterlegenem Team bestritt, allesamt als Edelhelfer in den Top 10 beendet, die Tour im vergangenen Jahr sogar als Dritter. Almeida kann sogar ein Top-10-Ergebnis bei allen Dreiwöchigen vorweisen, die er beendet hat. Sechs sind das, bei sieben Starts. Beide werden die Vuelta als Co-Kapitäne beginnen. Eine klare Rollenverteilung wird es erst geben, wenn sich einer von beiden eine größere Schwäche leistet.
Die Frage ist, ob das passieren wird. Beide haben sich hochgradig professionell und gewissenhaft auf ihre große Chance - ihren ersten Sieg bei einer Grand Tour - vorbereitet. Dazu haben sie vielleicht das stärkste Team der Rundfahrt an ihrer Seite. Marc Soler, Pavel Sivakov, Brandon McNulty, Jay Vine, dazu der junge Überflieger Isaac del Toro. Diese dritte Reihe ist so stark, dass selbst für sie noch ein Top-10-Ergebnis in der Gesamtwertung möglich ist.
Wären Yates und Almeida in unterschiedlichen Teams, wären beide jeweils die Top-Favoriten auf den Gesamtsieg. Aber in einem Team? Gönnt einer dem anderen den Erfolg? Für den 32 Jahre alten Briten ist es vielleicht die letzte Chance auf einen Sieg bei Vuelta, Giro oder Tour. Almeida, 26, hat seine besten Jahre mutmaßlich noch vor sich. Dass beide aber auch perfekt harmonieren können, bewies die Tour de Suisse dieses Jahres. Die letzten vier der insgesamt acht Etappen beendete das Duo jeweils mit einem Doppelsieg. Zweimal hatte Yates die Nase vorne, zweimal Almeida. Die Gesamtwertung ging mit 22 Sekunden dann an den Älteren. Vielleicht nicht besonders wahrscheinlich, aber auch keinesfalls ausgeschlossen, dass auch die Vuelta einen UAE-Doppelsieg sieht, in welcher Reihenfolge auch immer.
Ursprünglich stand auch Juan Ayuso mit auf der Liste für die Vuelta, er hätte aus dem Kapitäns-Duo ein Trio gemacht. Da der junge Spanier aber Probleme hat, sich unterzuordnen, was er zuletzt bei der Tour unter Beweis stellte, strich ihn die Teamführung aus dem Aufgebot, um Unruhe zu vermeiden. Das ist allerdings nicht der offiziell von Team und Fahrer verbreitete Grund. Der nennt Formschwächen bei Spanier, doch das dürfte nach den Streitigkeiten zwischen Almeida und dem Youngster nur die halbe Wahrheit sein.
Ein Mann, der zuletzt ebenfalls in der Rolle als Edelhelfer glänzte, war Mikel Landa. Der 34 Jahre alte Spanier hat mittlerweile 21 Grand Tours auf dem Buckel. Die meisten davon bestritt er auch als Kapitän - bis er vor der Saison ins Team von Remco Evenepoel wechselte, um dem jungen Belgier als erfahrener Edelhelfer zur Seite zu stehen. Diesen Job erledigte Landa bei der Tour de France mit Bravour. Denn neben der unbezahlbaren Hilfe für den Tour-Dritten wurde Landa selbst Fünfter - nur Almeida und die Großen Drei landeten vor ihm.
Für den Spanier war es das drittbeste Ergebnis bei der Frankreich-Rundfahrt seiner Karriere. Zuvor wurde er zweimal Vierter - und das als Kapitän. Diese Rolle übernimmt er nun auch wieder in Spanien. Und wenn er die Form konservieren konnte, kann auch er oben angreifen.
Um den Titel des besten Spaniers beim Heimrennen wird sich Landa vor allem mit Carlos Rodriguez streiten. Der 23-Jährige dürfte für Ineos Grenadiers als alleiniger Kapitän ins Rennen gehen oder sich die Rolle zumindest mit Thymen Arensman teilen. Der Spanier hat sich in den letzten drei Jahren mit drei Top-10-Resultaten bei den Grand Tours zu einer sicheren Bank gemausert. Aber auch sein niederländischer Teamkollege kann bereits drei einstellige Resultate vorweisen. Darunter Platz sechs in diesem Jahr beim Giro. Kurz darauf wurde Rodriguez Siebenter der Tour.
Auch hinter diesen sechs Profis dürften sich noch viele weitere Hoffnungen auf das Podium, mindestens aber die Top 5 machen. Angeführt werden sie vom ewigen spanischen Hoffnungsträger auf den ersten Heimsieg seit Alberto Contador (2014), Enric Mas (Movistar). Der mittlerweile 29-Jährige scheint aber über seinen Zenit hinaus zu sein, Platz zwei wie 2022, 2021 und 2018 in weite Ferne gerückt zu sein. Der immer sehr optimistisch ins Rennen gehende und dann zumeist doch enttäuschte Ben O’Connor (Decathlon AG2R La Mondiale) hat mit Felix Gall als Vize-Kapitän an der Seite mal wieder das Podium ausgerufen, sollte aber nicht zu ernüchtert sein, wenn er im Winter in seine australische Heimat zu Jayco AlUla wechselt und kein Foto mit ihm auf dem Treppchen in Madrid dabei hat.
Auch Richard Carapaz (EF Education EasyPost) kommt trotz einer starken letzten Tourwoche, die ihm das Bergtrikot und den Titel des angriffslustigsten Fahrers einbrachte, nur als Herausforderer für die Top 10. Der Ecuadorianer ist mit seinem Sieg beim Giro 2019 einer von nur fünf Grand-Tour-Siegern im Rennen (neben Kuss, Roglic, Geoghegan Hart und Quintana). Mit seinem mittlerweile auch 31 Jahren scheint es ihm aber zunehmend schwerzufallen, die notwendige Konstanz für ganz vorne über drei Wochen zu bringen. Auch von seinem Team darf er keine Wunder erwarten.
Das gilt auch für Guillaume Martin (Cofidis), Michael Woods (Israel-Premier Tech), David Gaudu (Groupama-FDJ) und Lorenzo Fortunato (Astana Qazaqstan Team), die aber zumindest alle in die Top 10 fahren können.
Spannend ist noch die Frage, was bei Lidl-Trek geht. Mit Giulio Ciccone, Mattias Skjelmose und Tao Geoghegan Hart stehen hier gleich drei potenzielle Top-5-Finisher im Kader. Der Italiener Ciccone wartet noch auf sein erstes Top-10-Ergebnis, war bei dieser Tour aber als Elfter zumindest nah dran. Tendenziell ist der 29-Jährige aber eher ein Mann fürs Bergtrikot und Etappensiege. Die Bergwertung hat er bei Tour und Giro bereits gewonnen, in Spanien könnte er dieses Triple vollmachen.
Geoghegan Hart ist zwar bereits Grand-Tour-Sieger. Doch seit seinem Sturz beim Giro 2023 mit Beckenbruch ist der 29-jährige Brite nie wieder so richtig in Fahrt gekommen. Seine letzten beiden Rundfahrten - Burgos und Criterum du Dauphine - beendete er nicht.
Und dann ist da noch Mattias Skjelmose. Der Däne feierte im vergangenen Jahr mit dem Sieg bei der Tour de Suisse seinen Durchbruch und machte sich mit seinen 22 Jahren als Rundfahrer erstmals einen Namen. In dieser Saison schien die Entwicklung aber etwas zu stagnieren. Platz vier bei Paris-Nizza, drei im Baskenland und bei der Tour de Suisse stehen zwar auch zu Buche, doch wirklich hervorstechen konnte er dabei nicht. Vielleicht, weil der Saisonhöhepunkt erst für August und September geplant war. In der Dreierspitze von Lidl-Trek dürfte Skjelmose der größte Trumpf sein. Fürs Podium dürfte es dennoch schwer werden.