Nicht nur aus sportlicher Sicht ist die Tour de France 2024 das Highlight des Jahres. Auch für die Fahrradindustrie ist die Rundfahrt ein Termin, auf den es sich zu fokussieren gilt. Denn kein anderes Ereignis verspricht so viel weltweite Aufmerksamkeit. Für die Hersteller garantiert schon die bloße Teilnahme eine Medienpräsenz, die mit üblichen Werbemaßnahmen nie zu erreichen wäre. Ein Etappen- oder gar Gesamtsieg: aus Marketingsicht unbezahlbar.
Das lassen sich die Hersteller einiges kosten. Neben den Rennmaschinen selbst legen die Materialsponsoren noch eine beträchtliche Summe Geld obendrauf, damit die Fahrer ihre Räder und Komponenten fahren. Genaue Zahlen sind natürlich Verschlusssache, aber je nach Qualität des Teams geht es dabei um Millionen. Natürlich sind die Hersteller bestrebt, den Sportlern das bestmögliche Material zur Verfügung zu stellen, um die Erfolgschancen zu erhöhen. Außerdem kümmern sie sich oft darum, die Fahrer optimal auf die Räder zu setzen: Windkanaltermine, Bikefitting, Sonderanfertigungen – das alles wird häufig vom Ausstatter organisiert.
Eine der wichtigsten Entscheidungen wird erst abhängig von der jeweiligen Etappe getroffen: Welches Rad in welchem Set-up gefahren wird, ist bei vielen Teams abhängig von Strecke und Strategie. Superstar Tadej Pogacar muss sich darüber keinen Kopf machen – der Slowene benutzt immer das gleiche Rad, ein Colnago V4Rs. Eine aufwendigere Strategie fährt das Team Visma | Lease a Bike. Jonas Vingegaard & Co. können zwischen Leicht- und Aerorenner wählen, zwischen Einfach- oder Zweifach-Antrieb und unterschiedlichen Laufrädern. Kein anderes Team bürdet seinen Mechanikern vor einer Etappe so viel Schraubarbeit auf – aber die Mehrzahl fährt die Mehrere-Räder-Strategie, befeuert vom Wunsch, dem Sportler ein perfektes Rad hinzustellen, das im Sekundenpoker Vorteile verspricht.
Aerodynamik und Leichtbau sind dabei die Gegenspieler. Die aerodynamisch besten Räder liegen deutlich über dem Mindestgewicht von 6,8 Kilogramm, das die UCI vorschreibt, im Mittel rund 500 Gramm. Leichträder, die aerodynamisch zwischen sieben und 30 Watt mehr Leistung benötigen als die Aero-Spezialisten (bei 45 km/h), schaffen zum Teil das Gewichtslimit im Renntrimm. TOUR hat die Rennmaschinen der Profis allesamt im Windkanal und im Labor getestet. Damit lässt sich zumindest theoretisch ermitteln, wie groß der Vorteil einer Aero- oder Leichtbaumaschine ist. Ob und wann sich der ständige Wechsel zwischen unterschiedlichen Rennrädern auszahlt, haben wir auch versucht herauszuarbeiten. Doch die Räder sind nur ein Puzzleteil unter vielen beim Wettstreit ums Podium. Ein überragender Fahrer wie Pogacar kompensiert mit seiner Physis auch ein nur mittelmäßiges Rad, wie er immer wieder beweist. Abhängig von Technik, Team und Talent stellen wir acht Räder im Detail vor, die aus unserer Sicht die beste Materialbasis bei der Tour de France 2024 darstellen.
Dass das Material alleine keine Rennen gewinnt, dafür ist Tadej Pogacar der beste Beweis. Denn im Grunde fährt das gesamte Team UAE Emirates mit einem beständigen Nachteil herum – und kann weder auf schnellere noch auf leichtere Alternativen zurückgreifen. Das Teamrad V4Rs des Sponsors Colnago gehört aerodynamisch zu den schwächeren Maschinen im Peloton, trotzdem ist es schwerer als die meisten Bergspezialisten. In Zahlen ausgedrückt: 221 Watt im Windkanal-Test von TOUR bedeuten bei 45 km/h etwa zehn Watt mehr erforderliche Tretleistung gegenüber typischen Allroundern der Konkurrenz, oder bis zu 20 Watt gegenüber spezialisierten Aero-Maschinen wie dem Cervélo S5.
Im Unterschied zur offiziellen Ausstattung des Teamrades (im Bild) hilft Pogacar beim Gewicht seiner Maschine noch etwas nach: Mit einer eigens angefertigten Darimo-Carbonstütze, Carbon-Kettenblättern, Tuning-Bremsscheiben und -Steckachsen von Carbon-Ti, leichten Zeitfahrreifen von Continental und einer Lenkereinheit von Enve drückt er das Gewicht seines Renners auf von uns gewogene, immerhin konkurrenzfähige 7,4 Kilogramm inklusive Pedale und Computer. Leichte Räder wie das Giant TCR unterbieten das aber locker und kommen nah an die Sieben-Kilo-Marke. Dennoch fuhr der Slowene schon beim Giro d’Italia die Konkurrenz in Grund und Boden und gilt auch als Top-Favorit auf den Gesamtsieg der Tour.
Nach dem schweren Sturz des Vorjahressiegers Jonas Vingegaard im Frühjahr sind die Chancen, dass wieder ein Cervélo-Fahrer am Ende der Tour de France ganz oben auf dem Treppchen steht, zwar gesunken, trotzdem sollte man den Titelverteidiger nicht abschreiben. Das Team ist zudem immer gut für Etappensiege. Unsere Wette geht dabei auf das Aero-Rad S5, das bei rund acht Kilogramm mit Zubehör zwar zu den schwersten Rädern im Peloton gehört, aber aerodynamisch auch zu den schnellsten. An die 202 Watt im TOUR-Test kommt unter den aktuellen Rädern nur das Canyon Aeroad heran. Damit spielt das Rad seine Stärken vor allem auf Solo-Fluchten in flachem und welligem Terrain aus. Weil kleine Berggänge dann verzichtbar sind, wird das S5 wohl auch in diesem Jahr häufig mit nur einem Kettenblatt und ohne vorderen Umwerfer zu sehen sein.
Das macht das Rad etwa 100 Gramm leichter und im Wind noch einmal minimal schneller. Den Aero-Vorteil bezahlen die Fahrer nicht nur mit dem hohen Gewicht. Auch die unnachgiebige Härte der Aero-Stütze und Schwächen bei der Steifigkeit sind Defizite des konsequent auf Aerodynamik getrimmten Modells. Auch deshalb werden zumindest Klassementfahrer wie Vingegaard auf bergigen Etappen auf das leichtere R5 wechseln. Das liegt in der Aero-Wertung mit 231 Watt ganz weit hinten, spart gegenüber dem S5 aber etwa 500 Gramm und lässt sich auf rasanten Abfahrten präziser steuern.
Historisch gesehen ist Pinarello die erfolgreichste noch existierende Marke bei der Tour de France: Bereits 15 Gesamtsiege konnte der Hersteller aus dem italienischen Treviso für sich verbuchen, ein guter Teil davon fällt mit dem ehemaligen Team Sky auch in die jüngere Zeit. Das daraus hervorgegangene Team Ineos Grenadiers ist sportlich zwar nicht mehr derart dominant, im Kader finden sich dennoch starke Rennfahrer. Mit dem Comeback von Egan Bernal hat man auch wieder eine gute Position in der Gesamtwertung als Ziel. Das aktuelle Dogma F (siehe Foto) wurde kurz vor dem Grand Depart durch ein neues Modell ersetzt. TOUR konnte den High-End-Boliden schon einem ersten Fahrtest unterziehen.
Am sehr erfolgreichen Grundkonzept des markanten Renners hält der Ausstatter aber fest. Schon früh setzte Pinarello auf die Strategie, nur ein Rad für alle Rennsituationen zu bauen, was das Dogma F sehr gut leistet. Mit 208 Watt Aero-Leistung liegt es auf Augenhöhe mit vielen Aero-Spezialisten, das Rahmengewicht von unter 1000 Gramm lässt dennoch leichte Aufbauten zu – unsere Testräder wogen in vergleichbarer Ausstattung um sieben Kilogramm ohne Pedale. Der Spagat ging in unseren Tests meist zulasten der Steifigkeiten, die etwas unter dem Durchschnitt der Konkurrenz lagen. Aber vielleicht können die Italiener mit einem neuen Modell auch diese Schwäche noch beseitigen.
Wäre der Radsport nur eine Sache von Zahlen und Wahrscheinlichkeiten, dann müsste das S-Works Tarmac SL8 von Specialized die meisten Erfolge einfahren. Das Rad ist Arbeitsgerät von gleich zwei hochkarätigen Profi-Teams. Mit Remco Evenepoel (Soudal - Quick Step) gibt es einen extrem vielversprechenden Aspiranten für die Gesamtwertung; Bora-Hansgrohe will mit Primoz Roglic diese sogar gewinnen. Aber auch aus technischer Sicht liefert das Top-Modell des US-amerikanischen Herstellers überzeugende Argumente, leistet es sich doch in keiner Rennsituation wirklich nennenswerte Schwächen. Als eines von wenigen Rädern im Peloton lässt es sich recht problemlos an das Mindestgewicht von 6,8 Kilogramm bringen; ohne Pedale haben wir mit Shimanos Dura-Ace-Gruppe 6,6 Kilo gewogen.
Mit der neuen SRAM-Gruppe, die in diesem Jahr bei Bora-Hansgrohe montiert wird, dürfte das Rad noch einmal 150 bis 200 Gramm leichter werden. Hinzu kommt eine gute Aerodynamik (209 Watt), die manchem Aero-Renner ebenbürtig ist. Außerdem ist das Rad sehr komfortabel und gleichzeitig verwindungssteif. Dass den gesponserten Profis also nur ein Modell zur Verfügung steht, ist kein Nachteil, da es in allen Rennsituationen bestehen kann. Diese nahezu perfekte Symbiose drückt sich nicht zuletzt in unserem Test aus: Das S-Works Tarmac SL8 ist nach dem TOUR-Testverfahren das derzeit beste Wettkampf-Rennrad.
Nachdem die vierte Generation des Aeroad bereits beim Criterium du Dauphine seine Rennpremiere gefeiert hatte, wird die neue Rennmaschine der Koblenzer (siehe Foto unten) natürlich auch beim Saisonhighlight in Frankreich zum Einsatz kommen. Auf einen vorderen Platz in der Gesamtwertung wird das Aeroad nicht pilotiert werden, dafür fehlen im Team Alpecin-Deceuninck schlicht die geeigneten Fahrer. Durch Sprinter Jasper Philipsen, Gewinner des Grünen Trikots 2023, und Superstar Mathieu van der Poel sind tragende Rollen im Kampf um Etappensiege aber beinahe garantiert. Für diese Fahrertypen wirkt das Aeroad, das bei Alpecin-Deceuninck auf allen Etappen gefahren wird, wie maßgeschneidert. Es ist vor allem eine pfeilschnelle Basis, die aerodynamisch die meisten Konkurrenten hinter sich lässt. Auch die Rahmensteifigkeiten sind für die kräftigen Profis beruhigend hoch.
Beim Gewicht bietet das aktuelle Aeroad (siehe Foto) Potenzial, andererseits ist es mit gewogenen 7,2 Kilogramm (ohne Pedale und Zubehör) mehrere Hundert Gramm leichter als das nur minimal schnellere Cervélo S5 und bleibt im Anstieg zumindest konkurrenzfähig. Das dürfte ein Grund sein, warum auch das Team Movistar als zweites Canyon-Team das Aeroad immer häufiger einsetzt. Eines steht fest: Das Canyon wird wieder zu den schnellsten Rädern im Peloton gehören.
Bei den Vorgängermodellen war die Zwei-Räder-Strategie bei Giant mehr als eindeutig: das Propel aerodynamisch top, aber vergleichsweise schwer und knüppelhart; der Leichtbauklassiker TCR fast verboten leicht und extrem komfortabel, aber etwa so windschnittig wie ein Kleiderschrank. Mit den jüngsten Generationen beider Räder änderte sich das: Das 2022 eingeführte Propel wurde graziler, komfortabler und leichter, das erst in diesem Jahr vorgestellte TCR aerodynamisch deutlich besser, ohne die jeweiligen Stärken zu vernachlässigen. Für welches Rad sich ein Fahrer entscheidet, dürfte im Team Jayco-AlUla 2024 nur für die Spezialisten eindeutig sein, Allrounder stehen vor einer wahrlich schwierigen Entscheidung.
In unseren Augen bietet das Propel aber meistens das bessere Gesamtpaket, auch schätzen wir im sprintstark besetzten Team die Siegchancen für Dylan Groenewegen und Michael Matthews für dieses Modell höher ein. In seiner Spezialdisziplin liefert das Rad mit 209 Watt für einen Aero-Renner zwar nur einen durchschnittlichen Wert im TOUR-Test ab, allerdings ist es das wohl leichteste dezidierte Aero-Modell im Feld: 6,8 Kilogramm ohne Zubehör sind eine Ansage, da kommen manche Leichtbaumodelle nicht mit. Das liegt unter anderem an den Laufrädern mit Carbonspeichen, die für ihre Felgenhöhe extrem leicht ausfallen und gegenüber der Konkurrenz bis zu 300 Gramm einsparen.
Auch die Lidl-Trek-Profis waren beim Criterium du Dauphine auf einem noch unveröffentlichten Rad (siehe Foto unten) unterwegs, bei dem unklar ist, ob es sich um ein Madone oder ein Émonda handelt. Auf dem Oberrohr klebte ein Aufkleber mit beiden Modellnamen. Eigentlich wäre ein Update des Émonda logischer, da das aktuelle Modell bereits seit 2020 auf dem Markt ist - das Madone wurde zuletzt vor zwei Jahren überarbeitet.
Das aktuelle Madone (siehe Foto oben) erregte bei seiner Vorstellung vor allem mit dem spektakulären Design Aufsehen. Unverkennbar ist der aufwendig geformte Sitzknoten, der nach Aussage des Herstellers Komfort und Aerodynamik des Boliden verbessern soll. In unseren Tests kommt das Flaggschiff der US-Amerikaner, dessen Vorgänger einst Maßstäbe in der Aerodynamik setzte, nicht ganz an die Wettbewerber heran. Zwar ist das Rad in seiner Spezialdisziplin ordentlich schnell, mit 207 Watt im Windkanaltest vorne dabei; im Vergleich zur Konkurrenz müssen die Fahrer aber ein relativ hohes Gewicht in Kauf nehmen, rund 7,5 Kilogramm ohne Pedale.
Mit allem Zubehör dürfte das Gewicht knapp acht Kilo erreichen, womit es im Peloton ein eher schweres Rad ist. Dennoch wird das auffällige Trek bei Sprintankünften öfter in der ersten Reihe zu sehen sein, denn Ex-Weltmeister Mads Pedersen hätte dafür die Beine, und im Flachen ist das Gewicht relativ egal. Das Leichtbau-Pendant Émonda sah man im Team seltener.
Die richtig prominenten Namen sucht man auch in diesem Jahr beim Team EF Education EasyPost vergeblich. Fast schon traditionell dürfte die bunte Truppe auf Überraschungsangriffe und Ausreißversuche setzen, ähnlich dem Coup von Georg Steinhauser beim Giro d’Italia. Dass das immer wieder gelingt, liegt wohl auch am Material, denn das richtige Gerät für alle Arten von Etappen bringt der Ausstatter mit. Das aktuelle SuperSix Evo von Cannondale – eigentlich das Leichtbau-Rad im Portfolio – überraschte im Test vor allem mit seinen aerodynamischen Qualitäten. Gemessene 207 Watt im Windkanal bedeuten einen Top-Speed, wie ihn sonst nur reinrassige Aero-Boliden bieten können, und das bei Bergrad-Gewicht.
Die von den Profis gefahrene Lab71-Variante mit exklusiver Carbonqualität dürfte auch mit Pedalen und Zubehör leicht unter die Sieben-Kilo-Marke zu bringen sein. Dazu kommt eine Sattelstütze, die hervorragend federt. Egal, in welcher Rennsituation sich eine Chance auftut, über unpassendes Material müssen sich die Fahrer kaum Gedanken machen. Kein Wunder, dass das SuperSix für die Profis fast immer erste Wahl ist und das Aero-Modell SystemSix nur selten und auf ganz flachen Etappen aus dem Truck geholt wird: Es ist mit 203 Watt nur minimal schneller, aber deutlich schwerer. In Sprintsituationen können große und athletische Fahrer wie Jonas Rutsch auch auf ein etwas steiferes Rahmen-Gabel-Set vertrauen.