Der Weg ist das Ziel. Das gilt schon im Village in Albertville, der Messe, in der die Tour de France die Hobbyradsportler zu deren großem Auftritt empfängt. Dort werden die Startunterlagen für das Jedermann-Rennen ausgegeben, zu denen sich die Teilnehmer auf verschlungenen Wegen an vielen Ständen der Sponsoren vorbei arbeiten müssen. Unterwegs kann man eine Fahrt in einem Bobschlitten-Simulator absolvieren – ein Hinweis, wohin der Weg alle führen soll: Ins Ziel in La Plagne auf 2.052 Metern Höhe, vorbei an der Bobbahn, auf der 1992 olympische Medaillen vergeben wurden. Nur geht es für Sportler hier im Juli eher bergauf als bergab. 130 Kilometer, 4500 Höhenmeter – so lautet die Herausforderung bei L’Étape du Tour, wie das Jedermann-Rennen der Tour de France offiziell heißt. Über die Alpenpässe Col des Saisies, Col du Pré, Cormet de Roselend und dann 19 Kilometer lang bergauf ins Ziel – wo eine Medaille und ein Teller Pasta als Lohn für die Mühen warten. Aber vor allem lockt die Aussicht auf die Erkenntnis: Kann man das, was die Profis können, wenn auch ein bisschen langsamer?
Es geht auf exakt die Strecke, welche die Profis auf der letzten Bergetappe der Tour bewältigen sollen – fünf Tage später (die Etappe der Profis wurde dann wegen der Folgen einer Tierseuche auf 95 Kilometer verkürzt). Und die Aussicht auf die Plackerei, oder besser gesagt, den späteren Stolz, es geschafft zu haben, hat Frauen und Männer aus aller Welt nach Albertville gelockt – rund 16.000 Namen stehen in der Startliste, gekommen aus 90 Ländern. Sehr, sehr viele Franzosen, erstaunlich wenige Deutsche. Aber auch die findet man. Zum Beispiel Stephan und Christian aus Berlin, die nur für das Wochenende in die französischen Alpen gekommen sind, weil sie Lust auf mehr hatten.
„Wir fanden es letztes Jahr super in Nizza. Deshalb sind wir wieder am Start“, sagt Stephan. Er verfolgt schon seit 1987 den Radsport, ist selbst Rennfahrer und stand schon bei der Tour der Profis in Alpe d’Huez am Streckenrand. Aber die Do-it-yourself-Perspektive bei der Tour hat er erst spät entdeckt – im Vorjahr in den Bergen bei Nizza. „Das ist ein besonderes Gefühl, auf der Strecke einer echten Tour-de-France-Etappe zu fahren. Und ein paar Tage später siehst du, wie die Profis dort bremsen, wo du selbst alles links hattest“, sagt der Berliner über die Faszination, die ihn nach Albertville getrieben hat.
Die Motivation für die Teilnahme ist unterschiedlich. Stephanie Meder spricht von „Reichweite“, als man sie fragt, warum sie sich den Start bei L’Étape du Tour als Saisonhöhepunkt herausgepickt hat. Die Radsportlerin, die aus Messkirch stammt, arbeitet eigentlich bei einer Privatbank in der Schweiz, hat aber vor wenigen Jahren ihre Begeisterung und ihr Talent für den Radsport entdeckt. Platz sechs bei der Deutschen Meisterschaft vor einigen Tour-Teilnehmerinnen, jetzt steht sie in La Plagne auf dem Siegerpodium ganz oben im Gelben Trikot – sie wollte den Erfolg, und sie wollte, dass er wahrgenommen wird. Die 30-Jährige hofft, sich bald als Profiversuchen zu dürfen. Ganz abwegig ist die Idee nicht, sich beim Jedermann-Rennen für einen Profivertrag zu empfehlen. Jonas Abrahamsen gewann im Jahr 2017 L’Étape auf den Izoard, in diesem Jahr ließ er Norwegen mit dem ersten Tour-Etappensieg für das Team Uno-X jubeln. Ein Jahr später folgte als Sieger beim Jedermann-Rennen Victor Lafay, der kurz darauf als Profi bei Cofidis einstieg und mittlerweile auch einen Tour-Etappensieg auf seinem Konto hat.
17 Startblöcke. Die letzten Teilnehmer gehen zwei Stunden nach den ersten ins Rennen. Die Spätankömmlinge erwischt der Regen. Spätestens auf der Rückfahrt zum Startort Albertville, nochmal 60 Kilometer extra. Jakob sitzt auf den Bänken vor der Bäckerei La Panière in Albertville, sein BMC-Rennrad mit der Startnummer 7239 neben sich, und wringt seine Socken aus. Regennasses Mitbringsel von der Rückfahrt – immerhin, während seines neunstündigen Rennens hat das Wetter noch gehalten, auch wenn schwarze Wolken über La Plagne aufgezogen waren. „Es ist schön für mich, in den Alpen zu sein, auf gesperrten Straßen, mit anderen Radsportlern“, sagt der Botschaftsangestellte, der von seinem Arbeitsplatz in Tunesien angereist ist.
Er ist zum dritten Mal bei diesem Event dabei. „Immer anders, immer schön“, sagt er. Unterwegs hat er eine Idee gehabt. Er will 21 Etappen fahren – wie die Profis. Aber nicht Tag für Tag hintereinander. Sondern 21-mal das Jedermann-Rennen der Tour. 18 Teilnahmen fehlen ihm noch. Zuletzt hat er immer Frankreich für den Sommerurlaub gebucht. „Meine Frau ist die Leidtragende“, sagt er. Den Plan, dass das Land der Tour de France auch für die kommenden anderthalb Jahrzehnte das gemeinsame Reiseziel sein könnte, hat er mit der Gattin noch nicht besprochen. Könnte spannend werden, ob seine Begeisterung für das Jedermann-Rennen der Tour de France auch bei ihr derart ansteckend wirkt ...