Im Gespräch mit TOUR ordnet der 37-Jährige unter anderem die bisherige Tour de France ein. "Es ist Wahnsinn, wie sich das Niveau erhöht hat", sagt der Ex-Profi, der 2019 seine Karriere beendet hat.
TOUR: Marcel Kittel, früher warteten Sie im Teambus auf die Etappenstarts. Heute sind Sie als Experte im Fahrerlager unterwegs, um die Profis zu interviewen. Wie fühlt sich das an?
Marcel Kittel: Mega! Es ist für mich immer noch wie nach Hause kommen. Die Tour de France hat meine Karriere geprägt und macht mir auch jetzt noch sehr viel Spaß. Ich treffe Alle von früher, wie hier bei Soudal Quick-Step – eine tolle Erfahrung.
TOUR: Sechs Etappen sind vorbei: Wie fällt Ihr erstes Resümee bislang aus?
Marcel Kittel: Wir haben in den vergangenen Tagen nur Spezialisten vorne gesehen. Sprinter, Klassementfahrer, Zeitfahrer oder Ausreißer. Mein Gefühl bei der Tour ist, dass es immer mehr in diese Richtung geht. Da musst du Weltklasse sein, um vorne mitfahren zu können. Ich habe mich eben noch mit einem Trainer von Soudal Quick-Step unterhalten. Er meinte, dass die Werte von gestern (sechste Etappe, Anm. d. Red.) extrem waren. Es gibt nicht einen Moment, in dem es ruhig ist. Das sieht man ja auch als Zuschauer. Es ist Wahnsinn, wie sich das Niveau erhöht hat.
TOUR: Macht die A.S.O. als Veranstalter das Rennen zu selektiv, zu anspruchsvoll, zu gefährlich?
Marcel Kittel: Es gibt natürlich immer Kritik und die ist auch oft zurecht. Wir haben in den ersten Tagen Stürze gesehen, die nicht nur durch die Fahrer, sondern auch durch die Strecke verursacht wurden. Das ist einfach ein Fakt. Mir geht es aber mehr darum, dass sich die Tour ständig weiterentwickelt. Auch durch den Sport, der natürlich immer professioneller wird. Ernährung, Rennfahrer, Material: Da muss man sich immer wieder anpassen.
TOUR: Es wirkt so, als ob die Fahrer ständig am Limit fahren. Bestes Beispiel war die sechste Etappe, bei der sich das Peloton schon früh selektierte. Beine hochnehmen war da nicht angesagt.
Marcel Kittel: Durch die Spezialisierung entwickeln sich neue Dynamiken. Eigentlich hätte gestern irgendwann eine Ruhephase kommen müssen. Man dachte schon, dass die Sprinter wieder ins Hauptfeld zurückkommen. Aber die Fahrer ziehen heute eben über 180 Kilometer durch. Das ist eine neue Qualität, die man in der Evolution des Radsports sieht.
TOUR: Wären Sie heute nochmal gerne Profi?
Marcel Kittel: Ich finde die Frage schwierig, weil sie extrem subjektiv ist. Wenn ich daran denke, dass ich im Training Intervalle fahren müsste und 350 Tage im Jahr unterwegs wäre, würde ich sagen: “Darauf hab' ich keinen Bock, da ich drei Kinder habe.” Aber als 23-Jähriger hätte ich geantwortet: “Geil, lass uns das machen.” So bin ich auch in den Sport gekommen, war erfolgreich und bin hängen geblieben.
TOUR: Wir stehen vor dem Teambus bei Soudal Quick-Step. Was trauen Sie Remco Evenepoel in diesem Jahr im Gesamtklassement zu? Wer steht in Paris ganz oben auf dem Treppchen?
Marcel Kittel: Es wird für Remco sehr schwer… (an dieser Stelle musste Marcel Kittel unser Gespräch für ein Fahrer-Interview beenden, Anm. d. Red.).