Bis sich das Peloton in Bewegung setzt, sind es noch vier Stunden. In Ennezat, einem 2700-Seelen-Ort im Departement Puy-de-Dôme, Startort der zehnten Etappe, hat man aber schon jetzt das Gefühl, dass Tadej Pogačar & Co. jede Minute auf ihre Rennmaschinen steigen. Der drittkleinste Startort der diesjährigen Tour de France platzt aus allen Nähten und gleicht einem riesigen Volksfest. In mehreren Reihen drängen sich die Zuschauer an den Absperrgittern, um den Heroen des Radsports so nahe wie möglich zu kommen. Hier, auf der Rue de la République, fällt gegen Mittag der Startschuss zur Etappe am französischen Nationalfeiertag. Ein nicht gerade kleiner Anteil der Zaungäste dürfte auch gekommen sein, um mindestens eines der Zigtausenden Geschenke zu ergattern, welche die „caravane publicitaire“ vor jeder Etappe verteilt.
Die Werbekarawane zuckelt im Schneckentempo übers Land und sondert permanent Krimskrams ab. Ein nie versiegender Regen bedruckter Sonnenhüte, kleiner Getränkedosen oder abgepackter Mini-Salamis ergießt sich über die Zuschauer und wandert in deren Taschen. Einige sind sogar mit Keschern oder selbst gebastelten Fangkörben angerückt. Das Rennen (Giro-Sieger Simon Yates wird Stunden später die erste Bergetappe in Le Mont-Dore gewinnen), spielt noch keine allzu große Rolle. In dem beschaulichen Dorf unweit des legendären Puy de Dôme zeigt sich vielmehr, dass es sich bei der Tour de France abseits der sportlichen Dramen auf der Straße eben auch um eine riesige Werbeveranstaltung handelt. Ein Marketing-Vehikel, als das die Grande Boucle einst vom Vorgängertitel der heutigen „L’Équipe“ ins Leben gerufen wurde.
Neben den offiziellen Sponsoren der Tour de France, in Continental ist ein Unternehmen aus Deutschland vertreten, wird das größte jährliche Sportereignis natürlich auch von den Ausrüstern der Profi-Teams als Bühne genutzt. Rund 10 Millionen Fans am Streckenrand, TV-Übertragungen in 190 Länder und fast 15 Millionen Follower in den sozialen Netzwerken: Mehr Aufmerksamkeit für Marken und Material gibt es für die Hersteller sonst nirgends. Die Eurobike als größte Fahrradmesse der Welt kann von einem vergleichbaren Interesse nur träumen. Für spannende Neuheiten, Trends und Innovationen aus dem sportiven Bereich ist die Frankreich-Rundfahrt die deutlich attraktivere Adresse.
So auch für Cervélo. Zum Grand Départ präsentierte der Fahrradbauer aus Übersee gleich zwei Neuheiten. Das aerodynamisch optimierte S5, Hauptarbeitsgerät von Jonas Vingegaard, und das leichte R5 erfuhren jeweils ein Update. Per se kein ungewöhnlicher Vorgang, auch die Konkurrenz stellte in den vergangenen Jahren pünktlich zur wichtigsten Grand Tour neues Material an den Start. Bei unserem Besuch am Mannschaftshotel überraschten die Kanadier um Global Brand Managerin Sarah Taylor allerdings, indem sie ausführliche Einblicke in die technischen Neuerungen gestatteten. TOUR konnte die Räder von Vingegaard und dessen Edelhelfer Matteo Jorgensen sogar wiegen. Angesichts der sonst üblichen Geheimnistuerei in der Branche eine ebenso erfreuliche wie seltene Ausnahme. Kein Wunder, dass beide Räder folglich schon während der Tour zu den heißesten Technik-News zählten, die international mehr Beachtung fanden als an einem Messestand in Frankfurt.
Neben Cervélo gelang während der dreiwöchigen Rundfahrt auch Factor ein Werbe-Coup. Der Sponsor von Israel - Premier Tech machte in Frankreich mit einem der spektakulärsten Konzepte der jüngeren Vergangenheit von sich reden. Der namenlose und unlackierte Prototyp, unter anderem vom deutschen Sprinter Pascal Ackermann gefahren, dürfte nicht nur unter den Rennfahren eine der meistdiskutierten Neuheiten gewesen sein. Der Grund dafür: Die Gabelscheiden sind extrem weit ausgestellt und wecken Assoziationen an das Bahnrad der britischen Nationalmannschaft, für dessen Forke der Automobilhersteller Lotus verantwortlich zeichnet.
Im Gegensatz zu Cervélo stellte Factor das „Raumschiff“ schon wenige Tage vor der Tour de France tatsächlich auch auf der Eurobike aus. Wirklich viel ist über das Rad allerdings nicht bekannt. Auf mehrfache Nachfrage beim Team teilte man lediglich mit, dass der britisch-taiwanische Hersteller vorerst keine Angaben zu Gewicht, Aerodynamik oder Geometrie machen wolle. Vor der ersten Etappe war sogar die Rede davon, dass der Prototyp in Frankreich gar nicht zum Einsatz komme und Ackermann & Co. hauptsächlich das vielseitige Ostro VAM fahren würden. Eine mögliche Erklärung für die Verschwiegenheit könnte die Mitteilung des Radsport-Weltverbands UCI liefern, die kurz vor der Tour die Rennrad-Industrie erreichte – und aufschreckte. Demnach wird das technische Reglement zur kommenden Saison wieder einmal angepasst; unter anderem darf die Innenweite der Gabel ab 1. Januar 2026 maximal 115 Millimeter betragen. Verstößt das neue Factor also womöglich gegen die künftigen UCI-Regeln? Mangels Messwerten lässt sich darüber nur mutmaßen, doch rein optisch dürfte sich die futuristische Gabel zumindest an der Grenze des Erlaubten bewegen.
Deutlich konventioneller präsentierte sich eine neue Generation des Merida Reacto, die bei Bahrain - Victorious erstmals Rennluft schnupperte. Allerdings waren auch zum neuen Race-Allrounder des taiwanischen Herstellers keine belastbaren Informationen zu bekommen.
Für Van Rysel, Rennradmarke des Sportartikel-Discounters Decathlon, hielt der Streckenplan der diesjährigen Tour de France eine besondere Pointe bereit. Da die Rundfahrt unweit des Firmensitzes in Lille startete, öffnete das Unternehmen großzügig seine Türen für die Öffentlichkeit. Neue Räder präsentierte der Ausrüster des Teams Decathlon-AG2R La Mondiale zwar nicht, aber der Blick hinter die Kulissen des riesigen Unternehmens erweckte den Eindruck, dass hier dank enormer technischer und personeller Ressourcen ein Konkurrent heranreift, der etablierte Hersteller noch das Fürchten lehren könnte.
Neben den Fahrradbauern wird die „Freiluftmesse“ in Frankreich selbstverständlich auch von Komponenten- und Zubehörherstellern bespielt. Bei Soudal Quick-Step um Remco Evenepoel beispielsweise waren an den Zeitfahrmaschinen neue Mono-Kettenblätter zu sehen, die keinem Hersteller zugeschrieben werden konnten. Das Team Alpecin-Deceuninck fuhr zudem einen (noch) nicht erhältlichen neuen Laufradsatz von Shimano. Laut eines Teammechanikers soll es sich dabei um ein neues Modell des Dura-Ace C50 mit breiterer Carbonfelge handeln. Schade eigentlich, dass die vielen Räder- und Komponenten- und Teile-Sponsoren der Teams nicht auch Teil der Werbekarawane sind und nette Kleinigkeiten aus ihren Sortimenten ins Publikum werfen ...