Andreas Kublik
· 09.08.2024
***** Demi Vollering
*** Katarzyna “Kasia” Niewiadoma, Gaia Realini
** Neve Bradbury, Mavi Garcia, Juliette Labous, Evita Muzic
* Yara Kastelijn, Cedrine Kerbaol, Riejanne Markus, Pauliena Rooijakkers
Wer die Chancen der Favoritinnen bewerten will, muss einen Blick auf die Strecke werfen: Die dritte Auflage der Tour de France Femmes bietet viele Höhenmeter, zwei Alpenetappen und sehr wenige Kilometer im Einzelzeitfahren. Ein Vorteil für extrem kletterstarke Rennfahrerinnen. Es beginnt nach dem Auslandsstart in Rotterdam mit zwei Flachetappen in den Niederlanden. Es folgt am zweiten Renntag noch ein kurzes Einzelzeitfahren (6,3 Kilometer) - so wenige Kilometer im Kampf gegen die Uhr gab es bei drei Auflagen bisher nie. Auf Streckenabschnitten der bekannten Frühjahrsklassiker Amstel Gold Race und Lüttich-Bastogne-Lüttich in Belgien (4. Etappe) geht es weiter nach Frankreich. Dort warten mittelschwere hügelige. Abschnitte in Nordfrankreich (5.) und durch die Ausläufer der Vogesen in den französischen Jura (6.).
Über den Gesamtsieg werden dann die beiden Alpen-Etappen entscheiden. Auf der siebten Etappe geht es ins Etappenziel nach Le Grand-Bornand. Es wird der mit 167 Kilometern längste Tagesabschnitt mit zusätzlich rund 3000 Höhenmetern Kletterei. Am Tag darauf wartet als Finale die Königs- oder Königinsetappe mit 3748 Höhenmetern. Von Le Grand-Bornand führt die Strecke über den 1923 Meter hohen Col du Glandon (die letzten acht Kilometer weisen 8,8 Prozent Durchschnittssteigung auf) zum legendären Anstieg nach Alpe d’Huez. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Etappensiegerin auch über den Gesamtsieg bei der dritten Auflage der Tour de France Femmes jubeln darf. Es ist die einzige Etappe, auf der mit sehr großen Zeitabständen zu rechnen ist.
Wer kommt angesichts des Streckenprofils als Gesamtsiegerin in Frage? Annemiek van Vleuten, Siegerin der Tour-Premiere 2022 hat nach Gesamtrang vier im Vorjahr ihre Karriere beendet. Auch Weltmeisterin Lotte Kopecky, im Vorjahr Gesamtzweite, verzichtet auf den Start, weil sie am Vortag des Tour-Starts noch bei den Olympischen Spielen in Paris den Omnium-Wettbewerb auf der Bahn bestreiten will. Mit Elisa Longo Borghini musste zudem die Giro-Siegerin nach einem Trainingssturz kurzfristig absagen. Aus deutscher Sicht besonders schade: Ricarda Bauernfeind, im Vorjahr Etappensiegerin und Gesamtneunte bei der Tour de France Femmes, hat ihren Start für dieses Jahr wegen Knieproblemen abgesagt.
Wird Alpe d’Huez zum Berg der Holländerin? Die Vorjahressiegerin Demi Vollering muss als Topfavoritin gelten. Die stärkste Allrounderin im Frauen-Radsport ist in Topform kaum zu schlagen. Allerdings blieb sie bei den Olympischen Spielen in Paris – in der vorletzten Woche vor der Tour - ohne Medaille. Insgesamt scheint die 27-jährige Niederländerin nicht in der Form des Vorjahres zu sein. Damals wirkte sie, als könne sie die Nachfolge der zurückgetreten Landsfrau Annemiek van Vleuten als Seriensiegerin antreten. Weil die Teamkollegin und Vorjahreszweite Lotte Kopecky fehlt, die den Bahnwettbewerben bei Olympia den Vorzug vor dem Tour-Start gab, muss sie beim Team SD Worx die Führungsrolle nicht teilen – zumindest nicht, in Sachen Gesamtwertung. Voraussichtlich nimmt der belgische Rennstall jedoch Lorena Wiebes mit nach Frankreich – die fünf Helferinnen müssen also ihre Kräfte auf Kampf um die Gesamtwertung und Sprintvorbereitung aufteilen. Nicht ideal.
Die Vorjahresdritte zählt ohne Zweifel zu den besten Klassementfahrerinnen im Peloton der Frauen und ist im deutschen Team Canyon//SRAM die Hoffnungsträgerin auf einen Podiumsplatz. Im Vorjahr war die 29-jährige Polin am Tourmaletpass nach Vollering die beste Bergfahrerin. Sie wirkt, als habe sie sich am Berg weiter verbessert und an ihrer Explosivität gearbeitet – vielleicht auch dank des Trainings mit Lebenspartner Taylor Phinney, einem US-amerikanischen Ex-Profi, dessen Mutter Connie Carpenter-Phinney 1984 als erste Olympiasiegerin im Straßenrennen jubelte. Mitunter wirkt Niewiadomas Fahrweise ungestüm – während der sieben Etappen muss man seine Kräfte jedoch gut einteilen und auch auf den mittelschweren Etappen wachsam sein. Vorteil: Die wenigen Zeitfahrkilometer. Im Vorjahr verlor sie im abschließenden Kampf gegen die Uhr noch Gesamtrang zwei an Lotte Kopecky.
1,50 Meter und 40 Kilogramm – niemand unter den Favoritinnen braucht so wenige Watt für eine Bergauffahrt. Das bringt Vorteile an langen und steilen Anstiegen. Die 23-jährige Italienerin ist das absolute Leichtgewicht im Peloton und nun nach der kurzfristigen Absage von Elisa Longo Borghini die Trumpfkarte von Lidl-Trek. Ihre Klasse bewies Realini im Vorjahr, als sie jeweils bei Vuelta a Espana, Giro d’Italia und dem Nachwuchswettbewerb Tour de l’Avenir Gesamtrang drei belegte. Die größte Herausforderung dürften für Realini bei ihrer Tour-Premiere die ersten beiden Flachetappen in den Niederlanden sein, in denen das Peloton vom Wind verweht werden könnte - und Leichtgewichte tendenziell im Nachteil sind. Ihre Stunde schlägt im Hochgebirge bei den Bergankünften in Le Grand Bornand und besonders in Alpe d’Huez.
Das 50-Kilo-Leichtgewicht aus Melbourne könnte die Überraschung der diesjährigen Tour werden. Ihren Durchbruch in die absolute Weltspitze der Kletterinnen feierte sie beim Giro d’Italia im vergangenen Juli. Sie gewann die schwere Bergankunft auf dem Blockhaus und belegte in der Gesamtwertung hinter Siegerin Elisa Longo Borghini und der zweitplatzierten Weltmeisterin Lotte Kopecky Rang drei. Wenn sie neben der erwarteten Helferrolle für Kapitänin Kasia Niewiadoma Freiheiten bekommt, könnte sie ihre Chance beim ersten Tour-Start für einen Erfolg nutzen.
Spät war die Spanierin vom Duathlon in den Profi-Radsport gewechselt. In der Kombination aus Laufen und Radfahren war die Spanierin zweimal WM-Medaillengewinnern. Die mittlerweile 40-Jährige zählt zu den besten Kletterinnen im Peloton. Ihre Geschichte mit der Tour de France Femmes ist bisher allerdings nicht erfolgreich: Im ersten Jahr 2022 verlor sie viel Zeit nach einem Zusammenstoß mit ihrem Mannschaftswagen, im Vorjahr trat sie krankheitsbedingt nicht mehr zur Schlussetappe an.
Bei den Männern warten die Franzosen seit 1985 auf einen Heimsieg. Seit Bernard Hinault stand kein Franzose am Ende der Tour ganz oben. Bei den Frauen ist die aktuell aussichtsreichste Kandidatin Juliette Labous. Die 25-Jährige aus Montfaucon war bereits Tour-Vierte (2022) und Giro-Dritte (2023). Im Team dsm muss sie sich die Helferinnen allerdings mit Topsprinterin Charlotte Kool teilen, die voraussichtlich wichtigste Herausforderin von Lorena Wiebes im Kampf um Sprintsiege und Grünes Trikot sein wird. Es wird ihr vorerst letzter Auftritt für Team dsm. Zur kommenden Saison wechselt sie in die Heimat zur Equipe FDJ-Suez.
Die Französin hat schon vor dem Start der Tour die bisher mit Abstand beste Saison ihrer Karriere hingelegt. Die 25-Jährige vom Team FDJ-Suez dürfte als Anführerin ihrer Equipe ins Rennen gehen. Teamkollegin Cecilie Uttrup Ludwig scheint nach Verletzung nicht in absoluter Topform. Muzic setzte Anfang Mai bei der Vuelta (Spanien-Rundfahrt) ein Ausrufezeichen, als sie bei ihrem Etappensieg bei der Bergankunft an der Laguna Negra die spätere Gesamtsiegerin und Tour-Favoritin Demi Vollering hinter sich ließ.
Der Frauen-Radsport entwickelt sich aktuell sehr schnell – auch angesichts der neuen Attraktivität der Tour de France Femmes. Neue Gesichter tauchen auf. Darunter Riejanne Markus vom Team Visma | Lease a Bike um Marianne Vos. Die 27-jährige Niederländerin ist spätestens seit ihren starken Auftritten bei der diesjährigen Vuelta zum Kreis der besten Bergfahrerinnen zu zählen. Ihr Nachteil: Der starken Zeitfahrspezialistin bieten sich bei dieser Tour angesichts von nur 6,3 Kilometern im Kampf gegen die Uhr wenig Möglichkeiten, Zeit auf die Konkurrentinnen herauszuholen. Auch auf ihre Landsfrauen Ex-Cross-Europameisterin Yara Kastelijn und die Gesamtvierte des Giro d’Italia Pauliena Rooijakkers (beide Fenix-Deceuninck) sollte die Gegnerinnen ein Auge haben. Die Franzosen könnten besondere Freude an der 23-jährigen Bretonin Cedrine Kerbaol haben. Die junge Rennfahrerin vom deutschen Team Ceratizit-WNT deutete ihr Potenzial im Vorjahr als Gewinnerin der Nachwuchswertung um das Weiße Trikot an. Von hinten drängt die 19-jährige Landsfrau Marion Bunel, die aktuell noch beim kleinen französischen Team St Michel - Mavic - Auber93 WE fährt.