Zwei Jahre ist die Tour de France Femmes erst alt, und schon erschafft sie epische Momente. Die 7. Etappe zum Tourmalet taugt für Festschriften. Schon der Berg alleine spielte eine Paraderolle. Dichte Nebelschwaden umhüllten ihn, nur mühsam drang die Sonne durch. Ganz wie zu Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens hoben sich die Silhouetten der Rennfahrerinnen nur in dunklen Grautönen vom helleren Grau des Nebels ab.
Die Ersten, die einzeln ins Ziel kamen, Demi Vollering, Kasia Niewiadoma und Annemiek van Vleuten vor allem, genossen noch das Privileg, von Begleitfahrzeugen angeleuchtet zu werden. Viele andere erklommen im Halbdunkel den 2110 Meter hoch gelegenen Zielstrich. Die anschließende Fahrt hinab ins Tal unternahmen sie hektisch pfeifend, um die vom Gipfel talwärts wankenden Fans zur Seite zu bitten. Es war die passende Stimmung für eine Göttinnendämmerung. Und tatsächlich ging an diesem Samstagabend im Juli eine Ära zu Ende, und eine neue Regentin griff mit beeindruckender Kaltblütigkeit und Präzision nach der Macht im Peloton.
Der erste Akt gehörte noch ganz der alten Herrscherin. Am Col d’Aspin beorderte Annemiek van Vleuten ihre Movistar-Helferinnen an die Spitze. Pedaltritt um Pedaltritt wurde das Peloton ausgedünnt. Auf halber Höhe aber waren alle Kräfte verbraucht, auch die der durch einen Sturz zu Beginn der Etappe lädierten Liane Lippert. So blieb van Vleuten nichts anderes übrig, als früh zu attackieren.
Ihr Antritt war so hart, dass auch der neue deutsche Kletter-Star Ricarda Bauernfeind zurückfiel. Die 23-Jährige rettete sich immerhin in die Gruppe um die Trägerin des Weißen Trikots der besten Nachwuchsfahrerin, Cédrine Kerbaol, vom deutschen Rennstall Ceratizit-WNT, und verteidigte am Tourmalet ihre Top-10-Platzierung. Van Vleuten war an diesem Tag für sie aber noch zu stark.
Lediglich Vollering und Niewiadoma vermochten der kampfeslustigen Welt- und Altmeisterin zu folgen. Die 40-jährige (!) van Vleuten leistete die meiste Führungsarbeit, vermochte aber ihre Rivalinnen nicht abzuschütteln. Vor zwölf Monaten, bei der ersten Ausgabe der Tour de France Femmes, hatte sie an Le Markstein Vollering fast dreieinhalb Minuten und Niewiadoma mehr als fünf Minuten abgenommen. Entgeistert hatte Vollering damals gestöhnt: „Das ist nicht normal, was du heute gemacht hast.“ Ihre Rivalin prophezeite vor Jahresfrist allerdings: „Auch du wirst eines Tages dahin kommen.“
Dass dieser Tag nur eine Saison auf sich warten lassen würde, hatte van Vleuten sicher nicht erwartet. Vielleicht hatte sie es befürchtet. Während sie vorne fuhr und ab und an Hilfe von Niewiadoma bekam, hielt Vollering sich zurück, ganz die kühle Rechnerin. Van Vleuten hingegen ließ sich von ihrem Rennfahrerinnenherzen hinreißen. „Ich wollte nur das Rennen hart machen, ein paar Nadelstiche setzen. Vielleicht hatte ich in dem Moment auch etwas zu viel Enthusiasmus und habe mir dort mein eigenes Grab geschaufelt“, meinte sie später.
In der Abfahrt löste sich Kasia Niewiadoma von den Rivalinnen. Für etwa eine halbe Stunde schien die Frontfrau des deutschen Rennstalls Canyon-SRAM auf dem besten Weg, sich zur neuen Königin des Straßenradsports zu krönen. Denn hinter ihr belauerten sich die Gegnerinnen. „Demi sagte mir, sie wolle keine Führungsarbeit leisten. Und dann sagte ich ihr, dass ich das auch nicht mache“, schilderte van Vleuten das absurd anmutende Zaudern zwischen Col d’Aspin und Col du Tourmalet.
Doch sie zeigte Verständnis für ihre Konkurrentin: „Demi hatte ein gutes Argument für sich: Sie hatte noch zwei Teamkolleginnen hinten“, sagte van Vleuten. Die Helferinnen rollten schließlich tatsächlich heran. Und vor allem die Schweizerin Marlen Reusser verkürzte für Teamkapitänin Vollering drastisch den Rückstand auf Niewiadoma.
Als der Tourmalet am steilsten wurde, und der Nebel immer dichter, setzte die Niederländerin zum finalen Schlag an. Ihrer Attacke konnte keine folgen. „Der Nebel war so dicht dort, dass ich wusste, wenn ich schnell bin, können mich die anderen nicht mehr sehen“, beschrieb Vollering die Szenerie. Nur die noch führende Niewiadoma hatte kurz Blickkontakt, als Vollering von hinten aus dem Nebel auftauchte, kurz neben ihr verweilte und dann weiter vorne vom grauen Vorhang wieder verschluckt wurde.
Angestrahlt von den Scheinwerfern der Begleitfahrzeuge beendete sie als Solistin ihre Triumphfahrt auf den Tourmalet. „Dafür habe ich ein Jahr lang gearbeitet. Jetzt habe ich mein großes Ziel erreicht“, bilanzierte sie stolz. Beim abschließenden Zeitfahren in Pau am nächsten Tag vollendete sie ihr Werk, nahm als Tageszweite – hinter Siegerin und Teamkollegin Marlen Reusser – van Vleuten weitere anderthalb Minuten ab.
Mit der 26 Jahre alten Demi Vollering hält ein neuer Stil im Frauenradsport Einzug. Statt der Hurra-Attacken von van Vleuten gelten jetzt strikte Teampläne, die von physisch wie mental starken Rad-Soldatinnen umgesetzt werden. „Ich möchte, dass unsere Frauen noch so frisch wie möglich ins Finale kommen“, erläuterte Anna van der Breggen, Sportliche Leiterin von SD Worx, ihren Ansatz.
Das kann mitunter auch noch schiefgehen. Dann nämlich, wenn die Frauen des derzeit übermächtigen Rennstalls zu spät in die Verfolgung einsteigen und deshalb Ausreißerinnen wie Yara Kastelijn (4. Etappe), Ricarda Bauernfeind (5. Etappe) und Emma Norsgaard Bjerg (6. Etappe) durchkommen. An diesen Tagen hatte sich SD Worx mit der kraftschonenden Fahrweise verrechnet, wenngleich das Team um Demi Vollering für das große Ziel Gesamtsieg stets auf Kurs blieb – dominant dank Zurückhaltung, so könnte man das Motto von SD Worx benennen.
Für die Show und den sportlichen Wert der Tour war das Finale mit Tourmalet und abschließendem Einzelzeitfahren natürlich Gold wert. Bei aller Unterschiedlichkeit im Detail rückten Frauen-Tour und Männer-Tour dichter aneinander – was die ASO als Veranstalterin auch genau so beabsichtigt. „Wir haben eine Tour de France erlebt, die jetzt den ganzen Monat Juli umfasst und über vier Wochen geht“, meinte Christian Prudhomme, Chef der Männer und ständiger Begleiter auch der Tour de France Femmes in diesem Jahr. Das französische Fernsehen übertrug durchgehend auf dem zweiten Kanal – auch das ein Zeichen des Zusammenkommens. Die Tourmalet-Etappe wurde sogar so gelegt, dass sie abends zur besten Sendezeit über die linearen Endgeräte flimmerte. Ein Testballon vielleicht auch für die Männer-Ausgabe.
Auch zahlreiche Fans hängten eine vierte Woche „Tourlaub“ dran. Die Bewohner des legendären Radsport-Dorfes Noorderwijk schlugen am Tourmalet ihr Lager mit den Vintage-Caravans und historischen Molteni-Rädern auf. „Wout van Aert kommt aus Noorderwijk, wir haben schon 15 Tour-Etappen der Männer gemacht. Wir wollen aber auch den Frauenradsport unterstützen und sind jetzt hier“, erklärte Jo Helsen, gelernter Gastwirt und Betreiber der mobilen Bar.
Wollen denn auch die Fahrerinnen aufstocken und mehr als nur acht Etappen fahren? „Ich habe mit meiner Zimmerkollegin Elena Cecchini schon mal überlegt, wie es über zwei Wochen gehen könnte“, bestätigte die neue Regentin des Frauenradsports, Demi Vollering, solche Gedanken. „Drei Wochen wären aber schwierig, weil wir dann in einen kompletten Zyklus kommen würden – und wie sich das auswirkt, wissen wir nicht“, gab die Niederländerin jedoch zu bedenken.
Für Ricarda Bauernfeind, Etappensiegerin und bei ihrer Tour-Premiere Gesamtneunte, waren die acht Tage erst mal genug. Die Aufgabe für die nächste Tour lautet ohnehin, die Konkurrentinnen das Team SD Worx schon früher zum Arbeiten zu zwingen, damit die ohnehin Besten im Feld nicht andauernd noch am frischesten ins Finale kommen.