Tour de France Femmes 2024Holländische Festspiele?

Jens Claussen

 · 10.08.2024

Die holländischen Fans werden sich nicht lumpen lassen und auch den Frauen auf dem Weg nach Alpe d’Huez ein Spektakel in Orange bereiten
Foto: Getty Images/Justin Setterfield
Start in den Niederlanden, Finale am “Berg der Holländer” in Alpe d’Huez und niederländische Fahrerinnen und Teams im engen Kreis der Favoritinnen: Die Tour de France Femmes könnte in diesem Jahr ein Fest in “Oranje” werden.

Nur einen Tag nach Beendigung der Olympischen Sommerspiele in Paris rollt die Tour de France Femmes avec Zwift an die Startlinie zu ihrer dritten Auflage. Dabei könnte man den Eindruck gewinnen, als versuchten die Organisatoren all das nachzuholen, was in 110 Jahren Tour-de-France-Historie der Männer zu finden ist. Nach zwei Starts in der Heimat schickt die ASO den Tour-Tross zum Grand Depart erstmals ins Ausland, um dann nach einer Schleife über das benachbarte Belgien den Fahrerinnen und Zuschauern ein spektakuläres Finale am legendären Anstieg nach Alpe d’Huez in den französischen Alpen zu servieren.

Tour de France der Frauen zu Gast in Rotterdam

Tour-Chefin Marion Rousse entwickelt das Rennen mit Umsicht und Geschick weiterFoto: dpa; pa; Justin SetterfieldTour-Chefin Marion Rousse entwickelt das Rennen mit Umsicht und Geschick weiter

Die Auswahl Rotterdams als Gastgeberin des ersten Auslandsstarts der Frauen-Tour erfolgte laut Renndirektorin Marion Rousse nicht zufällig. Nachdem die Männer erstmals 1954 in Amsterdam ausländischen Boden betraten, habe sich die Tour- Organisation bewusst für die Niederlande entschieden. Rousse, die selbst sechs Jahre als Radprofi aktiv war, sagt: “Mit dem Start in Rotterdam möchten wir einerseits die herausragenden Erfolge des holländischen Radsports im Allgemeinen ehren, im Besonderen aber die Leistungen großer holländischer Fahrerinnen wie Leontien Zijlaard-van Moorsel, Annemiek van Vleuten oder aktuell Demi Vollering und Marianne Vos hervorheben.”

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Einen Steinwurf entfernt von Europas größtem Hafen, fällt am 12. August der Startschuss zu einer siebentägigen Dreiländerreise, die auffallend niederländisch geprägt ist. Gleich die Hälfte aller acht Etappen starten im Heimatland der Vorjahresiegerin Demi Vollering. Eine, die die flachen und windanfälligen Straßen der Auftaktetappen wie keine andere kennt, ist Lidl-Trek-Profi Lucinda Brand. Die 35-jährige Cross-Weltmeistern von 2021 kommt gebürtig aus Dordrecht, dem Startort der zweiten Etappe. Als Kind der Region skizziert sie mögliche Rennszenarien der ersten Tage.



“Die Region Westland, in der die ersten drei Etappen stattfinden, ist zwar ziemlich stark besiedelt, beinhaltet aber auch viele offene Flächen mit Wasser und Feldern. Auf denen steht immer viel Wind, der gefühlt von allen Seiten kommt. Diese Abschnitte sind aber meiner Meinung nach nicht lang genug, um eine entscheidende Fluchtgruppe zu etablieren, die es dann auch ins Ziel schafft. Es wird auf den ersten zwei Etappen auf einen finalen Sprint des Feldes hinauslaufen”, so Brand.

Offenes Rennen bei der Tour de France der Frauen 2024 erwartet

Nachdem Straßenweltmeisterin Lotte Kopecky mit Fokus auf die Olympischen Wettbewerbe ihren Tour-Verzicht erklärte, könnte die Dominanz des niederländischen Teams SD Worx - Protime indes bröckeln. Erste Anzeichen dafür schienen die Ergebnisse der Frühjahrsklassiker zu zeigen, in denen Demi Vollering kein einziges Mal ganz oben auf dem Podium stand. Die 27-Jährige schien nicht die Frühjahrsform aus dem Jahr 2023 zu haben, in dem ihr das Ardennen-Triple gelang. Ihr bevorstehender Teamwechsel zum Saisonende und die Bekanntgabe eines lukrativen Sponsorendeals schrieben mehr Schlagzeilen als ihre Leistungen auf dem Rad. Mit ihren umso eindrucksvolleren Siegen bei der Spanien- und der Baskenland-Rundfahrt hat sie allerdings gezeigt, dass mit ihr zu rechnen ist.

Elisa Longo Borghini gewann 2024 unter anderem die Flandern-RundfahrtFoto: picture alliance / Roth / CVElisa Longo Borghini gewann 2024 unter anderem die Flandern-Rundfahrt

Dennoch: Mit Lidl-Trek und Canyon//SRAM stehen zwei Teams in den Startlöchern, die nicht gewillt sind, die Dominanz von SD Worx - Protime bzw. deren Frontfrau kampflos hinzunehmen. Lidl-Trek stellt in der Flandern-Rundfahrt- und Giro-Siegerin Elisa Longo Borghini eine Mitfavoritin auf den Gesamtsieg; ihre Equipe hat mit großer mannschaftlicher Geschlossenheit im bisherigen Saisonverlauf einen Großteil der Rennen dominiert.



“Bei uns gibt es keine Machtkämpfe, denn alle Fahrerinnen wissen, dass wir eine starke Mannschaft brauchen, um ein großes Rennen wie die Tour zu gewinnen”, weiß Ina-Yoko Teutenberg, ehemalige Weltklassesprinterin und Sportdirektorin der US-amerikanischen Mannschaft. Sie führt aus: “Wir sind breit aufgestellt und haben mehrere Optionen, um das Rennen erfolgreich zu gestalten. Elisa Longo Borghini war bislang in Top-Form und unsere jüngere Abteilung hat in den letzten Monaten noch mal einen Riesensprung gemacht. Neben Elisa werden Shirin van Anrooij und Gaia Realini als junge, ambitionierte Fahrerinnen am Start stehen. Ich sehe uns aber nicht in der Rolle des Hauptkonkurrenten von SD Worx, auch andere Teams können das Rennen sehr ausgeglichen gestalten.”

Kasia Niewiadoma ist einer der Stars im Team Canyon//SRAM RacingFoto: Getty Images/Dario BelingheriKasia Niewiadoma ist einer der Stars im Team Canyon//SRAM Racing

Auch Canyon//SRAM Racing kann mit viel Selbstvertrauen nach Rotterdam reisen - auch wenn mit der letztjährigen Tour-Etappensiegerin Ricarda Bauernfeind eine Top-Fahrerin ausfällt. Trotzdem hat der deutsche Rennstall von Ronny Lauke mit der amtierenden Gravel-Weltmeisterin Kasia Niewiadoma eine der Top-Favoritinnen für die Gesamtwertung am Start, die sich am Schlusstag in Alpe d’Huez entscheiden könnte.

Nach Verletzung wieder da, mit der Kapitänsrolle bei Movistar: Liane LippertFoto: Getty Images/Alex BroadwayNach Verletzung wieder da, mit der Kapitänsrolle bei Movistar: Liane Lippert

Nachdem Joop Zoetemelk 1976 als erster Niederländer in Alpe d’Huez gewann, folgten im Verlauf der Jahre gleich sieben seiner Landsleute, die in dem Skiort jubeln konnten. Mit Frikandel und Bier werden Tausende radsportverrückter “Oranjes” alles geben, um am “Berg der Holländer” eine von ihren Landsfrauen zum Sieg zu brüllen. Die Rolle der Spielverderberin könnte dabei Liane Lippert einnehmen, die nach ihrem Ermüdungsbruch bei der La Vuelta Femenina wieder ins Peloton zurückgekehrt ist. “Nachdem Annemiek van Vleuten ihre Karriere beendet hat, konzentrieren wir uns bei der diesjährigen Tour nicht auf die Gesamtwertung”, gewährt die Deutsche Meisterin Einblicke in die Strategie ihres spanischen Teams von Manager Unzue. “Etappensiege für das Team stehen an erster Stelle und Emma Norsgaard und ich werden versuchen, an unsere Erfolge des Vorjahres anzuknüpfen. Zudem werde ich bei der Tour im Team die Leaderrolle von Annemiek übernehmen, eine Aufgabe, auf die ich mich sehr freue und auch bereit bin, diese anzunehmen”, gibt Lippert sich selbstbewusst.



Langsam weiterwachsen

Trotz der rasanten Entwicklung der Tour de France Femmes avec Zwift in den vergangenen drei Jahren übt sich Marion Rousse bei der Prognose für zukünftige Veränderungen der Rundfahrt in Zurückhaltung. “Die letztendlich vergeblichen Versuche in den zurückliegenden Jahrzehnten, eine Tour de France der Frauen langfristig zu etablieren, haben gezeigt, dass es klüger ist, kleine Schritte zu gehen. Sonst ist die Tür schnell wieder zu. Wir wollen mit der Tour nicht schneller wachsen als der internationale Frauenradsport im Allgemeinen. Dann kann man zukünftig auch mal über eine Ausweitung der Etappenanzahl nachdenken”, so Rousse. Die Honneurs an die Niederlande als Radsportland werden aber sicherlich nicht die letzten ihrer Art gewesen sein. Auch andere Länder wie Belgien oder Italien – und im Frauen-Radsport durchaus auch Deutschland – weisen eine lange, tief verwurzelte Radsporttradition auf und würden sicher gerne als Gastgeber der Tour der Frauen auftreten.

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