Sven Bremer
· 23.06.2024
Ein Mann liegt am Boden, mitten auf den Champs-Elysees, er krümmt sich, als habe er Schmerzen, die Augen fest verschlossen. Die Fotografen, die über ihm stehen, nimmt er nicht wahr. Genauso wenig wie die Fans. Er will sie nicht sehen, er will gar nichts mehr. Der Mann auf dem Pflaster der Pariser Prachtstraße würde am liebsten sterben. Er hat tatsächlich Schmerzen, aber sie sind weniger physischer Natur, er ist nicht gestürzt, er ist in sich zusammengesunken. Sein Name: Laurent Fignon. Noch trägt er ein gelbes Leibchen, das Gelbe Trikot des Gesamtführenden der Tour de France. Aber er wird es abgeben müssen – an dem einen Tag, an dem es zählt.
Jahre später schreibt Fignon in seiner Autobiografie über diese Augenblicke am 23. Juli 1989: “Ich wusste nichts mehr – nicht, wer ich war und nicht wo ich war. Dann nahm der Schock Form an in meinem Kopf. Er begann Realität zu werden.” Die Realität waren acht Sekunden. Acht Sekunden die ihm nach insgesamt 87:38:35 Stunden Fahrtzeit auf seinen Kontrahenten Greg LeMond fehlten. Ziemlich genau 82 Meter nach einer zurückgelegten Distanz von 3285,30 km das hatten Schlaumeier schon damals sehr schnell ausgerechnet.
Es gab nie vorher und bis heute nie wieder einen so knappen Vorsprung des Gesamtsiegers der Frankreich-Rundfahrt auf den Zweitplatzierten. Vor 35 Jahren wurde die Tour de France zum bisher letzten Mal in einem Einzelzeitfahren auf der Schlussetappe entschieden. Im vergangenen Jahr überraschte der Veranstalter ASO die Radsportwelt daher mit der Entscheidung wieder ein Einzelzeitfahren am letzten Tag anzusetzen. Und weil wenige Tage später die Olympischen Spiele in Paris beginnen, endet die Tour am 21. Juli dieses Jahres bekanntlich erstmals seit 1905 nicht auf den Champs-Elysees in der Hauptstadt, sondern in Nizza.
“Man kann Paris und den Sprint auf den Champs-Elysees nicht einfach so ersetzen. Also haben wir erstens nach einem prestigeträchtigen Ort gesucht, ihn mit Nizza gefunden und uns zweitens etwas Besonderes ausgedacht”, sagt Tour-Direktor Christian Prudhomme und ergänzt: “Wir haben die Hoffnung, dass die Abstände der Spitzenfahrer in der Gesamtwertung bis zum finalen Einzelzeitfahren am Schlusstag so gering sind, dass es wirklich bis zur letzten Sekunde spannend bleibt.”
1989 verlor Laurent Fignon die Tour um Sekunden, weil sein Kontrahent LeMond ihm um Jahre voraus war. Der US-Amerikaner zauberte damals einen aerodynamischen Helm aus dem Ärmel und stattete seine Rennmaschine mit einem speziellen Zeitfahrlenker aus, wie ihn bis dahin nur die Triathleten nutzten. LeMond flog von Versailles aus nur so in Richtung Champs-Elysees. Fignon, der als Gesamtführender kurz nach LeMond startete, schien das nicht zu sorgen: 50 Sekunden waren für ihn, den exzellenten Zeitfahrer, genügend Vorsprung, davon war damals nicht nur er selbst überzeugt. Fignon fuhr ohne Helm – was damals noch normal war. Seine blonden langen Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, wippten bei jeder Pedalumdrehung.
Kilometer für Kilometer schmolz der Vorsprung dahin wie Butter in der Sonne. Schon bald hatten Experten ausgerechnet: Greg LeMond hatte das 24,5 Kilometer lange Zeitfahren und damit die Gesamtwertung aufgrund seines Equipments gewonnen; der futuristisch anmutende Tropfenhelm und die windschlüpfige Sitzposition aufgrund des Lenkers hatten ihm den entscheidenden Vorteil gebracht. Mit 54,545 km/h im Schnitt raste der US-Amerikaner durch Paris; ein neuer Rekord. Und aus dem Zeitfahren, wie es bis Ende der 1980er-Jahre ausgetragen wurde, auf weitgehend identischen und kaum veränderten Straßenrädern, wurde im Laufe der Zeit eine eigene Disziplin. Greg LeMond gab quasi nur den Startschuss dazu.
Mit der Entscheidung, die Frankreich-Rundfahrt 2024 mit einem Einzelzeitfahren zu beenden, ist die Tradition der letzten Etappe zumindest für ein Jahr ausgesetzt. Es wird keine Tour d’Honneur geben, die als Bummelfahrt in Sektlaune bis auf die Champs-Elysees führt, wo das Rennen um den begehrten Etappensieg wieder Fahrt aufnimmt. Mit Sektglas in der Hand wird während der 21. Etappe dieses Jahres kein Rennfahrer unterwegs sein.
Aber wer lässt nach dem Zeitfahren an der Promenade des Anglais in Nizza die Korken knallen? Zu den Top-Favoriten auf den Gesamtsieg zählen zweifellos Tadej Pogacar (UAE Team Emirates), Gesamtsieger von 2020 und 2021, und sein Nachfolger aus den beiden vergangenen Jahren, Jonas Vingegaard (Visma | Lease a Bike) – sofern er sich rechtzeitig und vollständig von seinem Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt und den daraus resultierenden schweren Verletzungen erholt.
Doch auch Remco Evenepoel (Soudal - Quick Step), der 2024 sein Tour-Debüt gibt, und Bora-Hansgrohe-Neuzugang Primoz Roglic rechnen sich Chancen aus, die Grande Boucle zu gewinnen. Alle vier haben in der Vergangenheit herausragende Zeitfahren hingelegt. Roglic wurde 2021 in Tokio Olympiasieger und überzeugte beim Auftakt-Zeitfahren der diesjährigen Baskenland-Rundfahrt. Evenepoel ist der amtierende Zeitfahr-Weltmeister, Pogacar entpuppte sich einst beim Bergzeitfahren bei der Tour 2020 in La Planche des Belles Filles als “Wunderkind in einer eigenen Liga”.
“Das Zeitfahren zwischen Monaco und Nizza ist superinteressant. Darauf freue ich mich, aber man muss es mit wirklich guten Beinen erreichen”, sagte Tadej Pogacar. Vingegaard wiederum distanzierte Pogacar im einzigen Einzelzeitfahren der Tour 2023 um mehr als anderthalb Minuten und erklärte schon bei der Präsentation der Strecke im Oktober 2023: “Wenn ich die Beine vom diesjährigen Tour-Zeitfahren habe, kommen mir die Zeitfahren entgegen, wenn die von der Vuelta, dann eher nicht.”
Der Schlussakkord an der Cote d’Azur ist ein hammerhartes, 34 Kilometer langes Bergzeitfahren. Die Strecke führt nach dem Start im Fürstentum Monaco hinauf nach La Turbie, 8,1 Kilometer mit durchschnittlich 5,6 Prozent Steigung, anschließend ist der kürzere, aber noch knackigere Anstieg zum Col d’Eze mit 8,1 Prozent zu bewältigen.
Das erste Bergzeitfahren der Tour de France fand übrigens gegen Mittag des 27. Juli 1939 statt. Am Morgen hatte Tour-Direktor Henri Desgrange die Fahrer bereits auf eine 126 Kilometer lange Bergetappe geschickt, ehe er sie zu einem 63,5 Kilometer langen Einzelzeitfahren über den Col de l’Iseran auf eine Höhe von 2764 Metern hetzte. Am späten Nachmittag dann durften die Fahrer auf einer 106 Kilometer langen Flachetappe “ausfahren”. Rückblickend schrieb der Sportinformationsdienst (SID), dieser Tag sei “ein Fall für Amnesty International” gewesen.
Das erste “normale” Zeitfahren fand übrigens bereits fünf Jahre zuvor über eine Distanz von 83 Kilometern in Richtung Nantes statt und wurde von Antonin Magne gewonnen. Es gab im Verlauf der Tour-Historie immer wieder ausgewiesene Zeitfahrspezialisten, die bei ihren Gesamtsiegen die Einzelzeitfahren dominierten und anschließend ihren Vorsprung in den Bergen “verwalteten”. Insbesondere der Spanier Miguel Indurain, den sie den “Unberührbaren” oder den “Außerirdischen” nannten, war in den 1990er-Jahren so ein Fahrer. TOUR betitelte ihn einst als “Rechner auf Rädern”.
Indurain ließ das kalt. Er sagte: “Um die Tour zu gewinnen, muss man nur einmal attackieren. Aber das muss ein K.-o.-Schlag sein.” Hatte der Spanier den im Zeitfahren gelandet, bestimmte Taktik den Rest der Rundfahrt. Sollte einer seiner Gegner nach dem ersten K.-o.-Schlag wieder aufstehen, ließ Indurain spätestens im zweiten Zeitfahren den entscheidenden Punch folgen. Der Spanier, zwischen 1990 und 1995 fünfmal in Folge Gesamtsieger, gewann in dieser Zeit praktisch alle Einzelzeitfahren, zehn seiner zwölf Tour-Etappensiege. Der italienische Radprofi Gianni Bugno sagte im Hinblick auf Indurains Zeitfahrqualitäten einmal, er habe am Start der Tour 1994 “180 Menschen und einen Außerirdischen” gesehen.
Der Franzose Jacques Anquetil, der aufgrund seiner herausragenden Qualitäten im Kampf gegen die Uhr den Beinamen “Monsieur Chrono” trug, war ähnlich dominant wie Indurain. Bei seinen fünf Gesamtsiegen (1957 und 1961–1964) verlor er nicht ein einziges Zeitfahren. Und auch der Italiener Fausto Coppi, “Il Campionissimo” (“Der Meister der Meister”), der zweimal bei der Tour und fünfmal beim Giro d’Italia triumphierte, verdankte seine Siege ebenfalls insbesondere seiner Stärke im Kampf gegen die Uhr. Das Zeitfahren während der 20. Etappe 1949 von Colmar nach Nancy gewann er mit 7:02 Minuten Vorsprung auf den Zweitplatzierten Gino Bartali; das ist bis heute die größte Differenz zwischen Platz eins und zwei bei einem Tour-Zeitfahren, allerdings führte das Rennen auch über die Distanz von 137 Kilometern.
“Mit seinen langen Beinen, die mit denen eines Reihers verglichen wurden, einem kurzen Rumpf und einer leichten Wölbung des Rückens verschmolz Coppi mit seinem Rad zu einer untrennbaren Einheit”, heißt es in einem Buch über den “Campionissimo”, der seinen Sport als einer der ersten Radprofis mit beinahe wissenschaftlicher Akribie betrieb: Er las medizinische Fachbücher, ging stets vor 22 Uhr zu Bett, installierte einen Hometrainer bei sich zu Hause und achtete auf seine Ernährung. Anquetil, im Ruf eines Lebemanns, hielt es anders. Er erklärte einst: “Um sich auf ein Rennen vorzubereiten, gibt es nichts Besseres als einen leckeren Fasan, etwas Champagner und eine Frau.”
Wer die wichtigste Rundfahrt der Welt gewinnen will, muss im Klettern und Zeitfahren herausragend sein; das ist ein “truisme”, eine Binsenweisheit, die so alt ist wie das contre-la-montre bei der Tour. Nur relativ selten haben reine Bergflöhe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Paris im Gelben Trikot erreicht. Der Spanier Federico Bahamontes 1959, der Belgier Lucien van Impe 1976 und natürlich Marco Pantani 1998 waren eher Ausnahmen. Oft genug vor und nach jenem denkwürdigen 23. Juli 1989 wurde das Gesamtklassement im Kampf gegen die Uhr entschieden, und auch die Duelle am vorletzten Tag der Frankreich-Rundfahrt gerieten nicht selten zum Spektakel, hatten reichlich Drama zu bieten.
2003 hatte Jan Ullrich noch die zumindest theoretische Chance, beim Einzelzeitfahren von Pornic nach Nantes Lance Armstrong auf der vorletzten Etappe das Gelbe Trikot zu entreißen. Strömender Regen verwandelte die Straßen in rutschiges Parkett. Ullrich stürzte rund 13 Kilometer vor dem Ziel, Armstrong hingegen riskierte nichts mehr und kam als Dritter des Tages ins Ziel. Der Traum vom zweiten deutschen Tour-Sieg durch Ullrich, der 2003 so konkret war wie lange nicht, war ausgeträumt, trotz Ullrichs guter Form in jenem Jahr und seiner überragenden Zeitfahrfähigkeiten, die ihm unter anderem zwei Weltmeistertitel und olympisches Silber 2000 in Sydney eintrugen.
Legendär: Bei seinem Tour-Sieg 1997 hatte Ullrich beim 55 Kilometer langen Zeitfahren über den Col de la Croix de Chaubouret den drei Minuten vor ihm gestarteten Richard Virenque überholt. Ähnliches gelang übrigens 1994 Indurain, als er zu einem gewissen Lance Armstrong auffuhr und ihn stehen ließ wie einen Schulbuben.
Die Reihe der Zeitfahren, deren Ergebnis das Klassement der Tour kräftig durcheinanderwirbelte, ist damit aber längst noch nicht zu Ende. Das Drama an der Planche des Belles Filles in den Vogesen liegt gerade erst vier Jahre zurück. Primoz Roglic, der mit seinem damaligen Team Jumbo-Visma die Rundfahrt zuvor dominiert hatte, startete mit 57 Sekunden Vorsprung auf seinen hoch talentierten Landsmann und Tour-Debütanten Tadej Pogacar ins Zeitfahren der 20. und vorletzten Etappe. Seit der 9. Etappe trug Roglic das begehrteste Leibchen des Radsports und man sah ihn schon im Gelben Trikot auf den Champs-Elysees jubeln.
Doch der 19. September 2020 (aufgrund der Coronapandemie war die Tour später im Jahr gestartet worden) ging in die Geschichtsbücher ein – und es war ein Tag zum Weinen für Roglic. Weil Pogacar das 36,2 Kilometer lange und schwere Bergzeitfahren wie von einem anderen Stern bewältigte. 1:56 Minuten nahm der damals 21-Jährige seinem neun Jahre älteren Landsmann ab und ging mit 59 Sekunden Vorsprung auf die Tour d’Honneur nach Paris. Wenige Minuten nach der bittersten Niederlage seiner Karriere sagte er: “Ich habe geweint, und ich werde noch mehr weinen.” Und dann ging er zu Pogacar, umarmte ihn und gratulierte.
Ähnlich wie Roglic erging es 1958 dem Italiener Vito Favero. Sieben Sekunden betrug dessen Vorsprung auf den Luxemburger Charly Gaul. Der “Engel der Berge” galt nicht einmal als herausragender Zeitfahrer, nahm Favero im contre-la-montre jedoch mehr als drei Minuten ab und triumphierte in Paris. Das mit dem Engel passte Gaul, der später jahrelang als Eremit in den Luxemburger Wäldern hauste, sowieso nicht. Er hatte stets gesagt: “Ich bin kein Engel; ich bin ein Krieger.” Zehn Jahre später waren es die exorbitant guten Zeitfahrqualitäten eines gewissen Jan Janssen, die – auch auf der Schlussetappe – zu einem Wechsel des Gelben Trikots und zum ersten Gesamtsieg eines Niederländers bei der Frankreich-Rundfahrt führten. Zuvor hatte Janssen nicht einen Tag das Gelbe Trikot getragen.
Der erste Luxemburger, der seit Charly Gaul wieder kurz vor dem Gesamtsieg der Tour stand, war Andy Schleck im Jahr 2011. Doch Cadel Evans, der vor dem Zeitfahren 57 Sekunden Rückstand auf den jüngeren der Schleck-Brüder hatte, erwies sich im Kampf gegen die Uhr in Grenoble als der Stärkere, nahm dem Mann in Gelb mehr als zweieinhalb Minuten ab und war damit der erste Australier, der die wichtigste Rundfahrt der Welt gewinnen konnte.
Und es gab natürlich die Fahrer, die alles konnten. Eddy Merckx, der Kannibale, und Bernard Hinault, der Dachs, die auch aufgrund ihrer Zeitfahrqualitäten jeweils fünfmal die Gesamtwertung der Tour gewannen. Genau genommen war Hinault eigentlich schon der Vorreiter für LeMond, denn bereits 1978 war er erstmals mit einem aerodynamischer gestalteten Rad und einem Nylonanzug zum Zeitfahren angetreten. Wie Merckx und Hinault können auch die Top-Favoriten 2024 beides: Sie sind erstklassig im Klettern und Zeitfahren.
Was also bedeutet es, dass 2024 erstmals seit Jahrzehnten wieder ein contre-la-montre auf der letzten Etappe ausgefahren wird? Tour-Chef Christian Prudhomme, dessen Name übersetzt etwa “kluger, vorsichtiger Mann” bedeutet, ist ins Wagnis gegangen. Er hat dann alles richtig gemacht, wenn die Führenden im Klassement mit wenigen Sekunden Abstand ins Schlusszeitfahren gehen. Aber selbst wenn einer der Stars schon einen sehr deutlichen Vorsprung auf die Verfolger haben sollte, ist das keine Gewähr dafür, das Gelbe Trikot auch im Ziel in Nizza noch zu tragen – nachzuschlagen in der reichhaltigen Historie der Tour de France.