Er hätte sich zurückhalten können, unauffällig bleiben. Aber er konnte und wollte nicht. Als Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard jüngst bei der Dauphiné-Rundfahrt in den Alpen ihr Duell um die Favoritenrolle bei der kommenden Tour de France starteten, auf den letzten Kilometern hinauf in die Skistation Valmeinier, da konnte Florian Lipowitz nicht an sich halten: Der Profi im Trikot von Red Bull-Bora-hansgrohe folgte den Antritten der beiden und klemmte sich eine Weile an das Hinterrad des Dänen. Viele routinierte Rundfahrtspezialisten konnten das nicht und fielen zurück. Nicht der Doppel-Olympiasieger und Tour-Dritte des Vorjahres, Remco Evenepoel, nicht Enric Mas, der schon viermal bei der Spanien-Rundfahrt auf dem Podium stand, nicht der Tour-Fünfte von 2023 Carlos Rodriguez, nicht das US-Talent Matteo Jorgenson – und Emanuel Buchmann, zuletzt der beste deutsche Rundfahrtspezialist noch weniger.
Der 24-jährige Schwabe Lipowitz drängte sichtbar in die Rolle des ersten Herausforderers der beiden Rennfahrer, die zuletzt die Siege bei der Tour de France unter sich ausmachten. Am Ende der achttägigen Rundfahrt durch die französischen Alpen belegte er Gesamtrang drei und verteidigte das Weiße Trikot als Nachwuchsfahrers. „Er ist sehr jung, sehr stark. Wir müssen ein Auge auf ihn haben“, sagte Vingegaard. Die Aussage war ein Ritterschlag. Bei der Dauphiné waren wenige Deutsche jemals so gut: Udo Bölts gewann das Rennen 1997, 22 Jahre später fuhr Emanuel Buchmann auf Rang drei. Und nun eben der Newcomer aus dem 12.000-Einwohner-Städtchen Laichingen auf der Schwäbischen Alb. Der Auftritt im Juni war gleichermaßen eine beeindruckende Talentprobe und ein erfolgreicher Formtest für den abseits der Rennstrecken eher zurückhaltenden Rennfahrer. Vor seinem ersten Start bei der Tour de France am 5. Juli 2025 ist er zum Hoffnungsträger in Deutschland geworden. Zwischen Flensburg und Oberstdorf entstand stets Euphorie, wenn ein radelnder Landsmann die Hoffnung nährte, er könnte auf Tuchfühlung mit dem Gelben Trikot gehen – von Didi Thurau 1977 angefangen, über Jan Ullrich zu Andreas Klöden, der 2006 hinter Oscar Pereiro auf Rang zwei der letzte Deutsche auf dem Tour-Podium war. Und Lipowitz hat nun bewiesen, dass seine Leistungen keine Eintagsfliegen sind, sondern er auf geradem Weg nach oben in die Weltspitze ist, dauerhaft: Siebter bei der Spanien-Rundfahrt im Vorjahr, trotz Helferrolle im Team für Primoz Roglic. Im vergangenen März Zweiter bei Paris Nizza hinter US-Superallrounder Matteo Jorgenson, kurz darauf Vierter der bergigen Baskenland-Rundfahrt.
„Hoffnungsträger“ überschrieben die TV-Sender ARD und Eurosport ihre Vorschau-Beiträge mit Fokus auf den aufstrebenden deutschen Rundfahrtspezialisten – das Wort fand sich auch in den Überschriften der Vorberichterstattung der großen deutschen Nachrichtenagenturen vor der Tour de France 2025. „Er ist mein Geheimfavorit fürs Podium. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir unter den Top Drei dieselben Namen sehen wie bei der Dauphiné“, sagt Eurosport-Experte Jens Voigt. Geheimfavorit, Hoffnung klingt erst einmal gut – aber dahinter verbergen sich Erwartungen und Druck. Und beim Tragen hat man meist eine Last – auch als Träger von Hoffnungen einer Radsportnation. Jan Ullrich kann davon erzählen. Lipowitz gibt sich vor seinem Debüt unbekümmert: „Wenn man einen Teil beitragen kann, den Radsport in Deutschland wieder ein bisschen größer zu machen, ist das natürlich eine schöne Sache. Aber im Endeffekt will ich nicht groß im Mittelpunkt stehen. Deshalb versuche ich, das ein bisschen auszublenden.“ Bisher fuhr er fast unbemerkt Fahrrad – nun ist er plötzlich beim drittwichtigsten Sportereignis der Welt dabei, muss Scheinwerferlicht, Interviews, Medientermine ertragen. Nicht nur, wenn es gut läuft.
Aber schwierige Umstände hat Lipowitz stets erfolgreich gemeistert. Von der Schwäbischen Alb hört man, der junge Florian Lipowitz sei ein Spätentwickler, lange Zeit der Kleinste gewesen, aber stets seinem ein Jahr älteren Bruder Philipp auf den Fersen. Das Ausdauertalent war damals vor allem im Ski-Langlauf zu erkennen. Der kleine Bruder war schon auf der Überholspur, da hatte der späte Wachstumsschub noch nicht eingesetzt - zunächst vor allem in der Langlaufloipe. Nun muss er unter den Augen von Millionen sein Talent beweisen, wenn auch vorläufig ein kleines bisschen in einer Nebenrolle, weil beim Team Red Bull-Bora-hansgrohe offiziell auf Kapitän Primoz Roglic setzen. Aber der Slowene wird im Herbst 36 – in diesem Alter hat kaum ein Rennfahrer bei der Tour ganz vorne mithalten können. Der älteste Tour-Sieger der jüngeren Vergangenheit war Cadel Evans – der Australier triumphierte 2011 mit 34 Lenzen. Immerhin schaffte es Geraint Thomas vor drei Jahren in ähnlichem Alter wie Roglic auf Rang drei.
Die früheren Wegbegleiter und Förderer trauen dem jungen Radprofi einiges zu. „Für mich wäre das keine Frage, wer der Kapitän bei der Tour ist“, sagt Thomas Pupp, in dessen Team Tirol-KTM der junge Deutsche mit Wohnsitz in Seefeld in Tirol seine erste Chance bekam, sich im Radsport zu beweisen. Er meint: “Lipo” müsste Roglic in der Teamhierarchie eigentlich schon überholt haben. Aufgefallen war der junge Lipowitz, weil er bereits im Teenager-Alter den Engadin-Radmarathon gewann. Die Ergebnisse eines folgenden Leistungstests beim angesehenen Radsport- und Triathlon-Trainer Dan Lorang waren ein Versprechen, dass man da ein großes Talent an Land ziehen könnte, das aufgrund einer sehr kurzen Rennfahrervita viel Potenzial bietet. Im gleichen Rennstall, der sich die Nachwuchsarbeit auf die Fahnen geschrieben hat, wurden auch andere spätere Profis wie Patrick Konrad, Gregor Mühlberger, Georg Zimmermann, Georg Steinhauser und Felix Engelhardt groß und schafften von dort den Sprung zu World-Tour-Teams. Lipowitz habe von allen die besten körperlichen Anlagen gehabt, so ist zu hören. Dazu den Biss, den Steinhauser und Zimmermann zeigten, wenn es auf dem Rennrad um etwas ging. Seine Wurzeln hat „Lipo“, wie er im Radsport genannt wird, auf der Schwäbischen Alb, wo er im Winter fast vor der Haustüre Skilanglauf betreiben konnte. Die letzten Schuljahre bestritt er als Biathlet am bekannten Sportinternat in Stams/Tirol. Eine Knieverletzung und nach eigener Ansicht eher maue Leistungen am Schießstand bremsten seine Karriere im Wintersport – anders als bei seinem ein Jahr älteren Bruder Philipp, der 2021 in Obertilliach den WM-Titel bei den Junioren im Biathlon gewann.
Talent und die Begeisterung für den Ausdauersport haben die Lipowitz-Söhne geerbt. Vater Marc ist seit Jahrzehnten in der Radmarathonszene bekannt, gewann selbst den Engadin-Radmarathon, hat beim „Ötztaler“ eine Bestzeit von 7:12 Stunden stehen. Mutter Evelyn ist begeisterte Langstreckenläuferin. Und Radfahren war stets Teil des Familienurlaubs: Mal ging es von Genf nach Nizza durch die Alpen, mal quer durch die Pyrenäen. Andere lümmeln in diesem Alter am Pool. Die herausragende körperliche Veranlagung war bei Tests beim jüngsten Lipowitz zu erkennen: Eine maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit (VO2max) von rund 80 ml O2/min/kg gilt als Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere im Ausdauersport – dieser Wert ist aber nur ein Versprechen, mehr nicht. Der promovierte Sportwissenschaftler und Trainer Peter Leo begleitete den Quereinsteiger Lipowitz über die ersten Jahre im Radsport und betont: „Diese Werte haben viele, aber viele scheitern, hören früh auf oder kommen nicht über das Conti-Niveau hinaus.” Lipowitz hat eben noch mehr Qualitäten. Biss, innere Ruhe, die nötige Muskulatur, Lernfähigkeit, gute Fahrtechnik, die vielen Quereinsteigern oft fehlt. „Die stürzen sehr häufig“, weiß Leo aus Erfahrung. Auch Lipowitz hatte schmerzhafte Erfahrungen, in den ersten Rennen für die Tiroler schlug er hart auf dem Asphalt auf – er habe nur nachhause gewollt und gezweifelt, ob es nicht besser gewesen wäre, es weiter im Biathlon zu versuchen.
Die Zweifel sind längst verflogen. Der ehemalige Biathlet hat sich als einer der weltbesten Radsportler etabliert – gerade mit Blick auf das Gesamtklassement schwerer Etappenrennen. Er kann sehr gut klettern, auch wenn er mit seinen Körpermaßen von 68 Kilogramm Körpergewicht bei 1,81 Meter Körpergröße beileibe keine Bergziege ist. Landsmann Buchmann wiegt bei vergleichbarer Größe rund neun Kilogramm weniger. In der Weltspitze sind das Welten – und beim Bergauffahren ist der Quotient Watt pro Kilogramm entscheidend. Bei der Dauphiné bewies Lipowitz zudem, dass er mittlerweile auch im Kampf gegen die Uhr nicht mehr viel auf die Besten verliert. Der vom Team INEOS Grenadiers zu Red Bull gewechselte Aerodynamik-Experte Dan Bigham ließ den jungen Deutschen für Aero-Tests durch einen stillgelegten Eisenbahntunnel in England fahren – was wohl beim Einsparen von einigen Watt Leistung auf dem Zeitfahrrad geholfen hat. Selbst beim Arbeitgeber Red Bull-Bora-hansgrohe ist man mittlerweile vom Können des Quereinsteigers überzeugt. Dort wird der aufstrebende Radprofi zum eigenen Erfolgsprojekt hochgejubelt, laut Branchengerüchten wurde sein Vertrag bis 2027 verlängert. Dabei hört man aus dem Umfeld, bei dem deutschen Top-Rennstall habe man 2022 durchaus gezögert, das Talent für das folgende Jahr mit dem ersten World-Tour-Vertrag auszustatten.
„Ich bin froh, wenn ich ganz normal mein Leben leben kann, ohne groß in der Öffentlichkeit zu stehen“, sagte Lipowitz jüngst der Deutschen Presse-Agentur. Ein normales Radsportlerleben zusammen mit seiner Freundin Antonia Weeger, selbst erfolgreiche Mountainbikerin. Es ist ein Satz, dessen Bedeutung sich nur ganz erschließt, wenn man mehr weiß über Spitzensport und die Folgen in der Familie Lipowitz. Der große Bruder Philipp, das Vorbild, der sportliche Wegbegleiter, mit dem er einst gemeinsam ans Sportgymnasium in Stams wechselte, verkraftete seinen WM-Titel im Biathlon schlecht. Der Triumph führte in eine schwere Depression. Eine Krankheit, die der ältere der beiden Brüder, in der Südwest Presse öffentlich machte – Erwähnung von Selbstmordgedanken inklusive: “Ich bin froh, dass ich das überlebt habe”, sagte er der heimischen Regionalzeitung. Der große Bruder erzählte, er habe sich in Sachen sportlichem Erfolg, konkret der Qualifikation für den Biathlon-Weltcup “total reingesteigert“ und sich „extremen Druck“ gemacht. Zuhause in Laichingen, wo Vater Marc als Geschäftsführer eine Firma für Sicherheitstechnik und Alarmanlagen führt, will man so etwas nicht mehr erleben. Mit den Medien möchte der Radsportbegeisterte erst einmal nicht sprechen. Junior Florian solle jetzt erst einmal in aller Ruhe seine erste Tour de France bestreiten, reden könne man danach immer noch.
Beruhigend: Es heißt Florian Lipowitz habe auch ein großes Talent, die Dinge mit großer Ruhe und Entspanntheit anzugehen – wenn es nicht gerade um kompliziertere Rennsituationen geht. „Wenn er ein bisschen den Kopf einschaltet, kann er sogar noch stärker fahren“, sagt Nils Politt, Teamkollege des Topfavoriten Pogacar. Er meint: “Lipo” müsse seine Energiereserven noch mehr schonen, den Krafteinsatz auf die wirklich entscheidenden Momente im Rennen konzentrieren. Aber vielleicht ist die größte Stärke des Aufsteigers, dass er eben nicht zu oft den Kopf einschaltet, sich nicht zu viele Gedanken macht. Was bitte soll dabei herauskommen, wenn ein junger Mensch darüber nachdenkt, ob es möglich ist, die Erwartungen einer 80-Millionen-Einwohner-Landes auf den Schultern zu tragen? Vielleicht hat er auch das Talent den Erwartungen einfach davonzufahren – so schnell er eben kann…