Pyrenäen oder Alpen? Es ist jedes Jahr die große Frage, welches der beiden Gebirge bei der Tour de France die Entscheidung bringt. Gut, manchmal spielen auch die Vogesen diese Rolle. Oder noch seltener ein abschließendes Zeitfahren. Das Rätsel löst sich, sobald die Organisatoren die Route offiziell präsentieren. In diesem Jahr also die Alpen. Höhepunkt der letzten Woche dürfte wohl die Bergankunft in La Plagne am drittletzten Tag werden. La Plagne? Manche Wintersportler mögen den Namen der Skistation in den Savoyer Alpen schon einmal gehört haben. Bei der Tour de France hingegen spielte der Ort bislang keine allzu große Rolle. Oder ist zumindest in Vergessenheit geraten. Denn die letzte Bergankunft liegt bereits 23 Jahre zurück, als 2002 der Niederländer Michael Boogerd dort eine Etappe gewann. Davor waren es Alex Zülle im Jahr 1995 und immerhin zweimal der französische Rad-Nationalheld Laurent Fignon in den Jahren 1987 und 1984.
Das relativ unbekannte La Plagne ist jedoch keine Ausnahme bei der diesjährigen Tour durch die Alpen. Man findet im Etappenplan kein L’Alpe d’Huez, keinen Galibier, keinen Izoard. Selbst der Mont Ventoux ist – wenn man es an der Zahl der Befahrungen festmachen will – eigentlich kein Berg, der zum engsten Kreis der Tour-Klassiker zählt. Lediglich zehn Befahrungen in 75 Jahren stehen hier 31 Bergankünften in L’Alpe d’Huez gegenüber. Allerdings ist der Ventoux aufgrund seiner außergewöhnlichen Topografie und der unwägbaren klimatischen Verhältnisse immer gut für Schlagzeilen. Leider auch traurige, wenn man sich an den Tod des britischen Radprofis Tom Simpson erinnert, der 1967 an der Südrampe des Ventoux ums Leben kam.
Aber müssen es denn immer die altbekannten Klassiker sein, über die das Fahrerfeld gejagt wird? Wo man jede Kurve kennt? Wo man schon im Voraus weiß, an welcher Stelle die nächste Attacke lanciert wird? Selbstverständlich nicht. Zum einen sieht sich die Tour de France seit jeher auch in der Pflicht, den Zuschauern das Land Frankreich in all seinen Facetten zu präsentieren. Zum anderen soll die Streckenführung Überraschungen im Rennverlauf und Klassement ermöglichen. Besonders in den vergangenen Jahren war zu beobachten, dass ganz neue Routen in den Bergen vorgestellt wurden. Zum Beispiel der Col de Portet in den Pyrenäen, der zwar bereits als holperige Schlaglochpiste existierte, für die Tour jedoch komplett renoviert wurde. Ein noch markanteres Beispiel ist der Col de la Loze in den Alpen, über den ein Asphaltweg völlig neu gebaut wurde – und der am 24. Juli zum dritten Mal das Ziel einer Bergankunft sein wird.
Es spricht also vieles dafür, der Tour vielleicht sogar dieses Jahr mal einen Besuch abzustatten – um diese noch weniger etablierten Bergstraßen kennen zu lernen und die einmalige Stimmung während einer solchen Etappe als Zuschauer zu erleben.
Ein weiterer Vorteil ist, dass die Region mit den Schauplätzen des erwartbaren Showdowns relativ überschaubar ist. Die meisten Anstiege zweigen vom oberen Isèretal ab, zwischen Moutiers und Bourg-Saint-Maurice. Man sollte sich auch nicht davon abschrecken lassen, dass sich in der Tarentaise – so der Name der Region – ein Skigebiet ans nächste reiht. Die ausgebauten Zubringerstraßen im Tal lassen sich nämlich für Rennradler geschickt vermeiden. Zum Beispiel auf dem Balcon de Tarentaise, einer Panoramastraße am Südhang zwischen Aime und Bourg Saint-Maurice. Auch auf der gegenüberliegenden Seite kleben Dörfer am Berg, die mit Serpentinensträßchen verbunden sind. Schon mal was von Col du Tra gehört? Jetzt ist die Gelegenheit, ihn zu entdecken. Aber der Reihe nach.
Wenn das Peloton auf die Alpen zurollt, haben die Fahrer schwere Pyrenäen-Etappen hinter sich, darunter ein Bergzeitfahren. Nicht zu vergessen die extrem hügeligen Etappen durchs Zentralmassiv. Die Strecke mutet wie eine typische, überwiegend flache Überführungsetappe an, bei der am Ende jedoch der Mont Ventoux mit einer Bergankunft wartet. Die Klassement-Fahrer werden versuchen, möglichst viel Kraft zu sparen, um im Finale vorne dabei sein zu können. Denn es geht zum Gipfel hinauf von Bédoin aus über die schwerste der drei Varianten. Ungewöhnlich: Am nächsten Tag auf der Flachetappe nach Valence bietet sich nochmals die Gelegenheit, sich wenigstens ein bisschen zu erholen.
Das große Finale beginnt: Zwei Pässe und eine Bergankunft stehen heute auf dem Programm, alles Anstiege der Hors Catégorie, also der höchsten Schwierigkeitsstufe bei der Tour. Col du Glandon und Col de la Madeleine sind zwar alte Bekannte, zählen aber nicht zum engsten Kreis der Klassiker. Beide kommen sehr oft im Profil der Tour vor, führen aber meist „nur“ zu Vorentscheidungen im Verlauf einer Etappe. Wie spannend das dennoch sein kann, zeigt ein Rückblick auf die Tour von 1998, als Jan Ullrich seinen Widersacher Marco Pantani am Madeleine attackierte, nachdem er tags zuvor im Regen von Les Deux Alpes einen desaströsen Einbruch erlitten hatte. Überhaupt bezeichnete Ullrich den Col de la Madeleine stets als seinen Lieblingspass, vielleicht wegen der überaus gleichmäßigen Steigung.
Auch der vorgeschaltete Col du Glandon ist mit einem Höhenunterschied von rund 1.400 Metern alles andere als eine Kaffeefahrt. Ihn zeichnet, von Süden her kommend, vor allem ein extrem unrhythmischer Anstieg aus, was selbst manche Bergfahrer nicht mögen. Durchaus eine Chance für spritzige Fahrer, das Feld früh zu zerreißen und vielleicht sogar eine Gruppe zu bilden. Eine solche Flucht jedoch ins Ziel zu bringen, dürfte an diesem Tag wohl kaum gelingen. Denn am Ende bietet der Col de la Loze mit seinem 26,5 Kilometer langen Anstieg reichlich Gelegenheit, müde Ausreißer wieder einzufangen. Die Paradedisziplin eines Tadej Pogačar.
Nach der rauschenden Abfahrt vom Madeleine sind es nur wenige flache Kilometer bis zum letzten Anstieg. Definitiv keine Zeit, um sich zu erholen. Der 2.304 Meter hohe Col de la Loze rückte erstmals 2020 ins Rampenlicht der Tour. Davor war das auch gar nicht möglich, denn die Strecke wurde erst in jenem Jahr eröffnet: Eine Passstraße ausschließlich für Radfahrer, welche die Skistationen Courchevel und Méribel verbindet. Gebaut im Rahmen eines Tourismus-Projekts, das in Zukunft einmal alle drei Täler des Skigebiets Trois Vallées miteinander verbinden soll. Denn die weiterführende Verbindung zwischen Méribel und Les Menuires ist bis heute erst zur Hälfte fertig. Die Tour wird den Loze erstmals von Courchevel aus befahren. Zuvor war der Retorten-Ort im östlichsten der drei Täler bereits dreimal Ziel der Tour, und zwar in den Jahren 1997, 2000 und 2005. Also wie La Plagne ein eher unbeschriebenes Blatt. Die eigentliche Passrampe ist ab Courchevel lediglich 5,8 Kilometer lang, aber die haben es mit Rampen von bis zu 16 Steigungsprozenten in sich. Und das nach rund 170 Kilometern im Renntempo!
Auf der letzten, lediglich 130 Kilometer langen Alpenetappe gibt es bei fünf Bergwertungen nochmals einige Punkte für die Kletterer zu holen. Interessant: Die Streckenführung ist weitgehend identisch mit jener der 9. Etappe von 1995, als der Schweizer Alex Zülle in La Plagne triumphierte. Auch damals fungierte der Col de Saisies als Vorspiel und der Cormet de Roselend als Scharfrichter, bevor es in den finalen Anstieg ging. Außerdem war es eine der seltenen Bergetappen in der Geschichte, bei denen ein früher Ausreißer seinen Vorsprung bis ins Ziel brachte. Den Cormet de Roselend kann man durchaus als Halb-Klassiker bezeichnen, denn der Pass steht heuer bereits zum 15. Mal im Profil der Tour. Am Tag nach Zülles Erfolg stand übrigens eine weitere Bergankunft auf dem Programm: Alpe d’Huez. Grund genug für einen Vergleich, denn die beiden Anstiege offenbaren überraschende Parallelen.
Der letzte Berg. Und nur noch zwei Etappen bis Paris! Damit wird La Plagne am 25. Juli im Rampenlicht des Radsports stehen. Aber würde der Showdown im Kampf ums Gelbe Trikot nicht eher einem ungleich berühmteren – und vermeintlich schwereren – Anstieg wie Alpe d’Huez zustehen? Vielleicht. Ein Blick auf die Daten zeigt jedoch, dass die Rampe nach La Plagne mit ihren Anforderungen gar nicht weit hinter dem Klassiker zurücksteht – wenn nicht unterm Strich sogar gleichzieht. So stehen in La Plagne zwar 1,2 Prozent weniger Durchschnittssteigung an, dafür ist der Anstieg 5,3 Kilometer länger als Alpe d’Huez, und es warten rund 200 Höhenmeter mehr. Hinzu kommen weitere Ähnlichkeiten: Beide Orte sind auf dem Reißbrett geplante Ski-Retortenorte mit entsprechender Architektur. Und fast schon kurios mutet die Tatsache an, dass beide Anstiege bis zum Ortseingang 21 nummerierte Kehren zählen. Vorteil La Plagne: Im Gegensatz zu Alpe d’Huez wäre an den dortigen Serpentinen noch jede Menge Platz für Ehren-Schilder von Etappensiegern.
Bleibt die Frage: Wer braucht eigentlich die so genannten Klassiker? Nein, Spaß beiseite. Galibier und Alpe d’Huez werden ihren Kult-Status natürlich behalten, auch wenn die beiden Promi-Rampen in diesem Jahr nicht im Streckenplan auftauchen. Sicher ist jedoch, dass das Alpenfinale der Tour 2025 angesichts der Alternativen in den Bergen Savoyens kein bisschen weniger spannend werden dürfte.
Wer die Tour besuchen möchte, sollte die Gelegenheit nutzen, selbst ein paar der Anstiege zu bezwingen: Selten liegen so viele rennentscheidende Passstraßen und Bergankünfte so nah beieinander. Außerdem sind die Savoyer Alpen von Deutschland aus leichter erreichbar als beispielsweise ein Finale in den Pyrenäen, oder wie im vergangenen Jahr an der Côte d’Azur. Als Standort bietet sich das Städtchen Bourg-Saint-Maurice im oberen Isèretal an, Talort der Pässe Kleiner St. Bernhard, Col d’Iséran und Cormet de Roselend. Außerdem nehmen im näheren Umkreis zahlreiche Stichstraßen in hochgelegene Skistationen ihren Ausgang. Bergfahrer kommen hier definitiv auf ihre Kosten, respektive Höhenmeter. Wir haben vier Touren zusammengestellt, die sich auf Wunsch auch mit den Etappen verbinden lassen.
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Über die Südrampe des Col de la Madeleine klettert das Peloton in die Tarentaise. Die Anfahrt für Zuschauer über die Nordrampe ist genauso gleichmäßig zu fahren und mit 6,4 Prozent Steigung im Schnitt sogar leichter. Ideal für eine Zusatzrunde ist die relativ neu asphaltierte Verbindung zwischen dem kleinen Col du Chaussy und der Madeleine-Südrampe. Der Anstieg führt über die spektakulären Lacets du Montvernier, einen der wohl schönsten Serpentinenabschnitte der Alpen.
Der erst im Jahr 2020 eröffnete Col de la Loze lässt sich ideal in eine kleine Runde einbinden. Ein Fest für Rennradler, denn die Scheitelstrecke zwischen Méribel und Courchevel ist ein für den öffentlichen Verkehr gesperrter Radweg. Erstmals endet eine Tour-Etappe von Courchevel her an der Passhöhe, laut Profil die etwas einfachere Seite. Dennoch ist auch sie gespickt mit einigen Steilrampen jenseits der 15-Prozent-Marke. Zuschauen am besten weit oben, denn die Strecke ist im unteren Teil bis Courchevel eher langweilig.
Die Westseite des Cormet de Roselend bietet zwei Varianten und darüber hinaus Anschluss an schöne Nebenstraßen rund um den Col des Saisies. Kürzeste Variante für Zuschauer: Von Osten her über den Cormet und zwischen See und Passhöhe im freien Gelände einen Platz suchen. Länger und schmerzhafter ist eine Runde über Beaufort und direkt zurück über den Col du Pré. Dort fährt auch das Peloton hinauf zum See. Die Zusatzrunde Richtung Col des Saisies führt über den Mont Bisanne und hat zwei Gesichter: Gegen den Uhrzeigersinn mäßig steil, aber anders herum eine ordentliche Quälerei.
Eine extrem aussichtsreiche Runde, die sich stets an den Hängen des Isèretals entlanghangelt. Und damit auch den verkehrsreichen Talboden weitgehend meidet. Tipp: Unbedingt gegen den Uhrzeigersinn fahren und früh starten, denn ab Mittag kann es am Balcon de Soleil, dem Sonnenbalkon der Tarentaise, extrem heiß werden. Nach der Zwischenabfahrt nach Moutiers lässt sich ein kurzer Abschnitt auf der N90 nicht vermeiden, bevor es rechts abgeht zum wohltuenden Anstieg Richtung Col du Tra. Bei Aime, wo auch die Bergankunft nach La Plagne startet, kann man zum Glück den Radweg zurück nach Bourg Saint-Maurice nutzen.