Nach dem Ruhetag bekommen die Fahrer 150 Kilometer lang die Gelegenheit sich einzurollen, bevor sich der mächtige Mont Ventoux erhebt. So wie bislang gefahren wurde, dürfen wir annehmen, dass trotz des absehbar dicken Endes der Etappe schon früh Attacken laufen werden.
Wer sein Heil in der Flucht sucht, wird aber mutmaßlich nicht als Erster über die Ziellinie fahren. Tadej Pogačar will sich an diesem ikonischen Anstieg sicherlich als Sieger feiern lassen wollen und UAE in Gestalt von Nils Politt Ausreißer an der langen Leine halten. Das Team wird Tadej Pogačar dann voraussichtlich Geleit geben bis zur flacheren Passage am Chalet Reynard. Sobald die Steigung danach wieder anzieht, könnte jederzeit die Attacke kommen.
Wenn sich ein Fahrer sehr gut fühlt und im Klassement angreifen will, bietet sich dafür aber im Prinzip schon der steilere Einstieg in den Berg an. Je länger die Attacke, desto größer der mögliche Vorsprung! Hat Jonas Vingegaard einen großartigen Tag und die Beine für eine ganz verwegene Attacke?
In unserer Simulation des Tages verleihen wir unserem Avatar die Superkräfte von Tadej Pogačar und schauen, welche Fahrzeiten sich daraus für die verschiedenen Bikes ergeben.
Vier Sekunden Vorsprung erkämpft sich das Cervélo S5 gegenüber dem Tarmac SL8 in unserem Szenario - aufgrund besserer Aerodynamik. Je nachdem wie sehr der Wind bläst, bekommt die Aerodynamik im kahlen oberen Teil des Berges noch mehr Bedeutung, obwohl die Fahrgeschwindigkeit nicht besonders hoch ist.
Die Tabelle zeigt die Fahrzeiten für den Schlussanstieg mit den verschiedenen Rädern. So wie hier skizziert, würde die durchschnittliche Aufstiegsrate bei 1909 Höhenmeter pro Stunde liegen. An der Spitze ballen sich erwartungsgemäß die leichten Räder, das Zünglein an der Waage ist dann die Aerodynamik.
*) Die Berechnungen beruhen auf den von TOUR in Labor und Windkanal getesteten Rädern. Die Maschinen bei der Tour de France können in Details davon abweichen. Auch Last-Minute-Prototypen konnten wir natürlich noch nicht untersuchen. Hintergründe zur Simulation.
Der Sieg von Tim Wellens auf der 15. Etappe unterstreicht, welche Bedeutung die Aerodynamik für eine lange Flucht hat. Aufs Timing kommt es aber auch an. Der Belgier setzte seine Attacke geschickt an unübersichtlicher Stelle und trat in der letzten Kehre voll durch, wohingegen sein direkter Verfolger in Schräglage lieber einen Tritt ausließ, um nicht aufzusetzen. Dann beschleunigte Wellens seine Maschine auf über 80 km/h, hatte offensichtlich Gangreserven, um auch bei sehr viel Speed noch mitzutreten, und nahm eine perfekte Haltung ein.
43 Kilometer leicht fallend waren es bis in Ziel und Wellens schaffte es, nachdem eine kleine Lücke gerissen war, seinen Vorsprung schnell und kontinuierlich auszubauen. Die Zutaten hierfür: bedingungsloses Wollen, eine sehr gute Position auf dem Rad – und eines der schnellsten Räder im Peloton als Basis.
Diese Situation zeigte mustergültig, dass ein Aerorad keine Spinnerei ist. Eine gute Aerodynamik ist der Schlüssel, um sich gegen mehrere Verfolger durchsetzen zu können. Zur Wahrheit gehört dabei aber auch, dass diese sich nicht einig waren. Nur dann ist eine so lange Flucht erfolgreich möglich.
Sichtlich noch aerodynamischer saß Victor Campenaerts auf dem Rad, der eine bemerkenswert kleine Stirnfläche besitzt. Der Tempofahrer von Visma stahl sich aus der Fluchtgruppe nach vorne weg und schlüpfte sichtbar effektiver durch den Wind als der Rest der Gruppe, wozu auch der ausgefallene Zeitfahrhelm einen Beitrag leistete, den der gute Zeitfahrer fast immer trägt. Dass er dabei auf einem der schnellsten Räder, dem Cervélo S5, saß, half auch.
Robert Kühnen ist studierter Maschinenbauer, schreibt für TOUR über Technik- und Trainingsthemen und entwickelt Prüfmethoden. Die Simulationsrechnungen verfeinert Robert seit Jahren, sie werden auch von Profi-Teams genutzt.