Akt zwei des großen Finales: 4600 Höhenmeter haben die Fahrer auf der 20. Etappe zu überwinden – mehr als auf jeder anderen Etappe dieser Tour de France. Obendrein ist die Strecke kurz. Es geht entweder rauf oder runter. Wir erwarten, dass die Favoriten fürs Gesamtklassement die Etappe unter sich ausmachen werden. Bei dieser Tour wird durch die Bank so schnell gefahren, dass Ausreißer wenig Gelegenheit bekommen haben, sich zu zeigen.
Die Gipfel liegen heute niedriger als am Vortag. Das bedeutet mehr Sauerstoff, aber auch größere Hitze in den Tälern. Die Vorermüdung wird mit darüber entscheiden, wer heute noch wie sehr auftrumpfen kann.
Doch nun zur Technik: Die Berge sind zahlreich, aber nicht sehr steil, es gibt daher erneut die Option, über einfach-Antriebe etwas Gewicht zu sparen und an der Aerodynamik zu drehen, die auf den Abfahrten ein Faktor ist. Flach durchs Tal geht es heute aber so gut wie gar nicht. Die Entscheidung wird mutmaßlich bergauf am Schlussanstieg fallen.
Wir simulieren die Fahrzeiten für den finalen Anstieg in der Annahme, dass dieser voll gefahren wird. Welche Fahrzeiten ergeben sich unter diesen Voraussetzungen und welches Rad hat den Reifen vorne?
Um unser Rennen um die Konstrukteurswertung spannender zu gestalten, lassen wir virtuell auch ein “illegales” Bike antreten, dass das UCI-Mindestgewicht um ein Kilogramm unterschreitet, unser “Ultralight Custom Bike” (5,8 kg). Ein Hobbyfahrer mit ausreichend Kleingeld könnte sich solch eine Maschine jederzeit zusammenstellen. Aerodynamisch haben wir dieses Rad auf dem Niveau des Cervelo R5 angesiedelt.
Das Ergebnis dieses verboten leichten Rades kann man auch so lesen, dass es die Frage beantwortet, welchen Einfluss ein um ein Kilogramm leichteres Fahrergewicht hätte. Denn für die Fahrzeit ist es unerheblich, wo das Gewicht gespart wird. Weshalb die Bergfahrer ja auch ziemlich dünne Gestalten sind. Das Fernsehbild zeigt dies gar nicht so deutlich, wie man es vor Ort erfährt, wenn man selber hinschaut. Die Fahrer sind nicht nur dünn. Sie sind extrem dünn.
Unsere Berechnung zeigt: Ein Kilogramm weniger Systemgewicht bringt am Schlussanstieg der 20. Etappe 25 Sekunden (Vergleich Custom Bike und Cervelo R5).
Von den Rädern, die wirklich am Start stehen, ist das Tarmac SL 8 das schnellste in unserer Simulation. Da die wahren Gewichte der startenden Räder nicht sehr weit auseinander liegen, ist die Verzerrung im Ergebnis durch die Radtechnik relativ gering.
Bergauf hat die Technik jenseits des Gewichts begrenzten Einfluss. Dass Pogacar und Vingegaard neue Bestzeiten bergauf aufstellen, liegt nach unserer Einschätzung nur bedingt an den Rädern. Die verbesserten Reifen – bergauf kommen zum Teil sogar schlauchlose Zeitfahrreifen zum Einsatz – bringen am Schlussanstieg maximal einen Effekt, der vergleichbar ist mit einem Kilogramm Mindergewicht, also weitere 25 Sekunden. Die stark verbesserte Aerodynamik gegenüber früheren Zeiten bringt einen ähnlichen Vorteil. Damit ist ein modernes Rad am skizzierten Schlussanstieg bei gleichem Gewicht etwa eine Minute schneller als zu den Zeiten eines Lance Armstrong.
Alle weiteren technischen Kniffe haben weniger Potential, an der Uhr zu drehen. Das heißt, dass die Unterschiede im Wesentlichen durch die Fahrer und die Fahrweise verursacht werden, weniger durch das Rad – bergauf wohlgemerkt. Im Flachen zeigen Aerodynamik und Reifen mehr Wirkung.
*) Die Berechnungen beruhen auf den von TOUR in Labor und Windkanal getesteten Rädern. Die Maschinen bei der Tour de France können in Details davon abweichen. Auch Last-Minute-Prototypen konnten wir natürlich noch nicht untersuchen. Hintergründe zur Simulation.
Tabelle: Die berechneten Fahrzeiten am Schlussanstieg der 20. Etappe. Die Wertung wird angeführt von einem Bike, das gar nicht mitfährt: Unser “Ultralight Custom Bike” steht stellvertretend für ein Rad, dass das UCI-Limit um ein Kilo unterschreitet.
Robert Kühnen ist studierter Maschinenbauer, schreibt für TOUR über Technik- und Trainingsthemen und entwickelt Prüfmethoden. Die Simulationsrechnungen verfeinert Robert seit Jahren, sie werden auch von Profi-Teams genutzt.