Tour de France 2024Auftakt in Italien - voller Geschichte und Herausforderungen

Jürgen Löhle

 · 25.06.2024

Kaum zu glauben: Trotz vieler Auslands-Starts beginnt die Tour erstmals in ihrer Geschichte in Italien – Florenz bildet die Kulisse für den Auftakt
Foto: dpa; pa; imageBroker
Die Tour de France startet zum ersten Mal in ihrer Geschichte in Italien. Der Auftakt und die ersten Etappen sind auch eine Hommage an italienische Radsport-Stars wie Gino Bartali und Marco Pantani. Ein Blick auf die italienischen Momente der Tour.

Florenz freut sich. Zumindest alle Menschen in der Stadt, die ein Herz für den Radsport haben – und das sind in Italien generell viele. Der Auftakt der Tour de France 2024 ist in einer der schönsten und geschichtsträchtigsten Städte des Landes. Dass die Tour zu Gast auf dem Stiefel ist, kam von 1948 an nicht gerade selten vor. Schon 26-mal startete, endete oder führte eine Touretappe über italienisches Gebiet, meist über Alpenpässe. Auch umgekehrt gibt es eine Klammer zwischen den beiden Grand Tours. Schon 1910 führte der Giro d’Italia in die französischen Seealpen und unternahm bis heute sogar einmal mehr einen Ausflug ins Nachbarland als umgekehrt – dabei auch ein “Grande Partenza”, also ein Startwochenende. 1998 begann der Giro mit einem Prolog in Nizza und einer Etappe von der Cote d’Azur ins schweizerische Cuneo.

Premiere bei der Tour de France 2024

Der Grand Depart der Tour de France im Juni in Florenz ist allerdings eine Premiere. Noch nie zuvor startete die Tour beim südöstlichen Nachbarn, was man gar nicht glauben mag angesichts der zahlreichen Auslandsstarts der Tour in den vergangenen Jahren. Damit schließt die Grande Boucle eine Lücke, denn alle anderen an Frankreich grenzenden Länder haben schon mindestens einmal den Start der Tour ausgerichtet. In Deutschland zum Beispiel Köln (1960), Frankfurt (1980), Berlin (1987) und 2017 schließlich Düsseldorf. Holland war sogar schon sechsmal Gastgeber des Grand Depart. Nun also Florenz. “Das war ein notwendiger Schritt nach 121 Jahren Tourgeschichte”, sagt Christian Prudhomme, der Chef der Tour de France.

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Zumal die beiden Länder während dieser langen Zeit vieles verbindet. 1924, also vor 100 Jahren, war Ottavio Bottecchia der erste Italiener, der die Tour gewann. Das gelang dem ehemaligen Maurer ein Jahr später nochmals. Um den Mann rankt sich so manche skurrile und auch tragische Geschichte. Alle mit dem Makel behaftet, dass sie nicht abschließend zu belegen sind. Als Amateur soll der Mann aus Friaul bei einem Rennen eine Stunde Vorsprung herausgefahren haben, nur um ausgiebig im Meer zu baden. Danach übernahm er wohl wieder die Führung im Feld, so genau weiß man das nicht mehr. Verbürgt ist allerdings, dass Bottecchia im Juni 1927 von einer Trainingsfahrt nicht zurückkehrte und Stunden später mit schwersten Schädelverletzungen unweit seines Hauses gefunden wurde.

Zwölf Tage später starb er im Alter von 32 Jahren im Krankenhaus. Angeblich erschlagen von einem Bauern, weil er Trauben gestohlen haben soll (Trauben im Juni!). Der Beweis gegen den Winzer konnte aber nicht geführt werden. 20 Jahre später gestand ein in die USA ausgewanderter Dorfbewohner auf dem Sterbebett den Mord. Das gleiche behauptete dann auch noch 1973 ebenfalls kurz vor seinem Tod der ehemalige Dorfpfarrer. Wer es war, wird also im Dunkeln bleiben. Klar ist nur, dass es kein Trainingsunfall war. Dazu waren die Verletzungen zu schwer.

Beinharter Auftakt der Tour de France 2024

Marco Pantani, letzter Doppelsieger bei Giro und Tour – und vor 20 Jahren aus dem Leben geschiedenFoto: picture alliance / Augenklick/RothMarco Pantani, letzter Doppelsieger bei Giro und Tour – und vor 20 Jahren aus dem Leben geschieden

Solche Risiken für die Profis wird es 2024 sicher nicht geben, zum Traubenpflücken bleibt im Rennen ohnehin keine Zeit und, wie gesagt, Trauben im Juni? Sicher ist aber: Es wird kein Spaß zum Auftakt. Weder für die Chefs, noch für die Helfer. Christian Prudhomme erklärt: “Noch nie startete eine Tour mit einer Etappe gleich über 3600 Höhenmeter - auch das ist eine Premiere.” Wohl wahr, keiner der Favoriten auf den Gesamtsieg kann sich beim Auftakt über die kurzen, giftigen Rampen des Apennin verstecken. Alle müssen bei immerhin sieben klassifizierten Anstiegen hellwach sein auf der Fahrt an die Adria nach Rimini, wo Marco Pantani am 12. Februar 2004 in der Residence Le Rose in Appartement D5 starb. Bis heute ranken sich Mythen um seinen frühen Tod; offiziell starb der damals 34-Jährige an einer Überdosis Kokain, aber es halten sich vom Mafiamord bis hin zum Suizid nach wie vor viele Theorien unter den Fans. Auch Pantanis Mutter Tonina glaubt bis heute nicht an einen Drogentod ihres Sohnes.



Zurück nach Frankreich

Am nächsten Tag startet die zweite Etappe ein paar Kilometer nördlich in Cesenatico, einem Ort, der in den 70er-Jahren wegen der vielen deutschen Touristen “Teutonengrill” genannt wurde. Dort ist der 1970 geborene Pantani, bislang letzter Doppelsieger von Tour und Giro im selben Jahr, aufgewachsenen und vor 20 Jahren auch beerdigt worden. Von Cesenatico geht es ähnlich schwer wie am ersten Tag über sechs Anstiege weiter nach Bologna. Es folgt ein Tag für die Sprinter nach Turin, ehe sich die Tour am vierten Tag mit der Passage über den Galibier nach Frankreich sowie ins Hochgebirge aufmacht.

Tadej Pogacar wird also gleich zu Beginn der Tour voll gefordert, wenn der Plan vom Sieg bei Giro und Tour in einem Jahr klappen soll. Der Slowene zählt nach seinem souveränen Erfolg in Italien natürlich zu den großen Favoriten. So ein Double gelingt nicht vielen; bislang sieben Berufsradfahrer konnten insgesamt zwölf Doubles auf sich vereinen. Eddy Merckx schaffte es dreimal, Fausto Coppi, Bernard Hinault und Miguel Indurain zweimal, schließlich noch Jacques Anquetil, Stephen Roche und, wie gesagt, zuletzt vor 26 Jahren Marco Pantani. Seither gab es zwar Versuche, aber gelungen ist es keinem.

Sein bestes Jahr: 1987 gelang dem Iren ­Stephen Roche nicht nur das Double aus Giro und Tour, er wurde auch noch StraßenweltmeisterFoto: dpa; pa; AFPSein bestes Jahr: 1987 gelang dem Iren ­Stephen Roche nicht nur das Double aus Giro und Tour, er wurde auch noch Straßenweltmeister

Auch nicht Chris Froome, der als viermaliger Toursieger 2018 den Giro gewann, dann aber bei der Tour stürzte und später seinem Helfer Geraint Thomas in den Alpen nicht mehr folgen konnte. Plötzlich war Thomas im Gelben Trikot und gab es auch nicht mehr her. Große Spannung scheint zum Start der Tour garantiert.

So wird schon die erste Etappe die Fernsehbilder produzieren, auf die die seit Jahren darbende Profi-Radszene in Italien hofft. Beim Tourstart wird auch an den 2000 gestorbenen Gino Bartali erinnert, der zwischen 1936 und 1948 dreimal den Giro und zweimal die Tour gewann. Bartali war auch abseits des Sports ein Held, weil er zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs eine jüdische Familie versteckte und bei als Training getarnten Kurierfahrten Pässe in seinem Rad schmuggelte. So hat er etwa 800 Menschen das Leben gerettet und wurde von Israel als “Gerechter unter den Völkern” geehrt.

Kein Favorit aus Italien?

Zwar gab es auch nach Bartali zahlreiche italienische Profis in der Weltspitze, im Moment ist da aber keiner, der eine Grand Tour gewinnen könnte; der letzte Tour-Sieg eines Italieners ist zehn Jahre her, Vincenzo Nibali gewann 2014. Unter den 18 World-Tour-Teams findet sich seit 2017 keine italienische Mannschaft mehr. Mit den drei Tour-Etappen in Italien hofft man auch das Interesse möglicher Sponsoren wieder zu wecken. Allein, es fehlt mutmaßlich ein Profi, der die nötige Begeisterung entfachen könnte. Da wundert man sich schon, dass es in Florenz keinen Prolog, kein kurzes Auftaktzeitfahren gibt, denn dafür wäre Filippo Ganna, Weltmeister gegen die Uhr 2020, 2021 und Vize 2023, ein heißer Kandidat und Anwärter auf das erste Gelbe Trikot 2024 gewesen.

Es gibt allerdings zumindest eine Erklärung dafür, dass man die aktuelle Situation der Profiszene in Italien nicht in der Streckenwahl wiederfindet. So ein Grand Depart hat einen jahrelangen Vorlauf, zudem hat sich Florenz zusammen mit der Region Emilia-Romagna um das Spektakel beworben, sodass auch die zweite und dritte Etappe zum Start-Ensemble zählen. Und als Florenz geplant wurde, war Ganna noch ein Nachwuchsfahrer. Abgesehen davon kann so ein Start im eigenen Land natürlich manchem Azzurri Flügel verleihen, den im Moment keiner auf dem Zettel hat.

Gegen einen Italiener in Gelb spricht allerdings, dass zumindest die ersten beiden Etappen von den Kapitänen der Teams bestimmt werden dürften. Und wenn die auf dem schweren Kurs sofort ernst machen, kommt auch einer von denen vorne ins Ziel. Aber erstens kommt es manchmal anders und zweitens als man denkt, und vielleicht schafft es ja doch eine Fluchtgruppe bis ins Ziel. In der sind dann mit ziemlicher Sicherheit italienische Profis. Die Chance, sich zu Hause vor Hunderttausenden Fans zu präsentieren, lässt sich sicher keiner entgehen, der vom Team die Chance bekommt. Forza Italia? Am 29. Juni werden wir es wissen.



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