Das Dach der Tour de France 2023 steht an und damit möglicherweise der Tag der Entscheidung. Am Ende der sehr gebirgigen Etappe wartet der Col de la Loze auf die Fahrer – 2304 Meter hoch, 28 Kilometer lang (im Schnitt 6 Prozent Steigung).
Der Anstieg gliedert sich in drei Abschnitte. Die ersten 14 Kilometer sind nicht besonders steil, in der Spitze werden 8,7 Prozent Steigung erreicht. Im Mittelteil flacht der Berg kurz ab, es geht sogar einige Meter bergab. Die zweite Hälfte des Anstiegs ist steiler, vor allem aber die letzten fünf Kilometer haben es in sich. Über zwei Kilometer liegt die mittlere Steigung bei 10,9 Prozent, in der Spitze kurzzeitig bei 24 Prozent. Attackieren sich die Duellanten Pogacar und Vingegaard hier?
Das Ziel aber liegt nicht auf dem Gipfel. Es folgt eine sechs Kilometer lange Abfahrt, unterbrochen durch einen kurzen Zwischenanstieg, bevor es am Ende für rund 300 Meter extrem steil (18%) bergauf zum Flugplatz von Courchevel geht. Sollten die Führenden Rad an Rad über den Col de la Loze kommen, wie schon so oft zuvor, endet die Etappe fürs Gesamtklassement mit der Kombination aus Abfahrtsrennen plus Bergaufsprint. Wer hat das bessere Material am Start für die sich abzeichnenden Szenarien?
Jonas Vingegaard wird mit Sicherheit wieder das Cervelo R5 wählen, sein Bergrad, das mutmaßlich etwas leichter ist als das Colnago V4Rs von Tadej Pocacar (von TOUR vor Ort gewogen: 7,42 kg). Tadej Pogacar wählte im Unterschied zu Jonas Vingegaard bislang auch im Hochgebirge stets höhere (und schnellere) Laufräder. Aerodynamisch hat Pogacar damit einen Vorteil, auch wenn der Colnago-Rahmen nicht sonderlich aerodynamisch ist. Das R5 von Vingegaard ist aerodynamisch in jedem Fall schlechter.
Attackiert Pogacar kurz vor dem Col de la Loze und kann er ein Loch reißen, hat er einen Materialvorteil in der Abfahrt. Springt Vingegaard direkt an sein Rad, wie auf der 14. Etappe nach Morzine, kann er diesen Vorteil neutralisieren. In der Abfahrt nach Morzine hing er allerdings so dicht an Pogacar dran, dass er sich mehrfach verbremste und nicht immer die Ideallinie traf; das sah bisweilen riskant aus. Die Strategie, dem Gegner am Rad zu kleben, ging aber am Ende auf für Vingegaard.
Kommt es zum bergauf-Sprint nach Courchevel? Dann ist das Setup von Vingegaard schneller – zwischen einigen Hundertstel- und drei Zehntelsekunden. Das niedrigere Gewicht schlägt bei der extremen Steigung durch. Das Ziel für die Teams sollte daher sein, das Rad auf das erlaubte Mindestgewicht zu bringen.
Für den gesamten Schlussanstieg der 17. Etappe der Tour de France 2023 liegt die Fahrzeit für die Spitze bei rund 1:10 Stunden. 52 Sekunden ist das schnellste Rennrad in unserer Liste schneller als das langsamste. In der Summe machen aerodynamische Unterschiede mehr aus als geringe Gewichtsunterschiede. Das schnellste Rad im Schlussanstieg ist das Giant Propel mit einer Mischung aus niedrigem Gewicht, dicht am Gewichtslimit der UCI, und guter Aero-Performance.
*) Die Berechnungen beruhen auf den von TOUR in Labor und Windkanal getesteten Rädern. Die Maschinen bei der Tour de France können in Details davon abweichen. Auch Last-Minute-Prototypen konnten wir natürlich noch nicht untersuchen. Hintergründe zur Simulation.
Robert Kühnen ist studierter Maschinenbauer, schreibt für TOUR über Technik- und Trainingsthemen und entwickelt Prüfmethoden. Die Simulationsrechnungen verfeinert Robert seit Jahren, sie werden auch von Profi-Teams genutzt.