Interview: Stephan Klemm
Der gebürtige Franzose Christian Prudhomme ist 63 Jahre alt und stammt aus Paris. Der ehemalige Radio- und Fernsehkommentator war ab 2004 stellvertretender Tour-Direktor und folgte ab dem 1. Februar 2007 auf Jean-Marie Leblanc als Generaldirektor der Tour de France. Er ist außerdem Präsident der Internationalen Vereinigung der Radrennveranstalter (AIOCC). Prudhomme war selbst nicht als Radprofi aktiv.
Christian Prudhomme empfängt in seinem Besprechungszimmer im siebten Stock des achtgeschossigen Firmensitzes der Amaury Sport Organisation (ASO) in Boulogne-Billancourt, gelegen knapp fünf Kilometer südwestlich des Eiffelturms. Die ASO ist die Besitzerin und Organisatorin der Tour de France.
Auf einem Sideboard hat Prudhomme eine kleine Sammlung mit Miniatur-Radfahrern aufgebaut, einer von ihnen trägt das Gelbe Trikot. Auf der anderen Seite sind in Bücherregalen Sammelwerke zur Frankreich-Rundfahrt arrangiert. In seinem Büro hängt als Planungsgrundlage eine riesige Frankreich-Karte, auf der er mit kleinen Fähnchen Punkte markiert hat, die er mit der Tour in den kommenden Jahren ansteuern möchte, sie sind über das gesamte Land verteilt. Ein gerahmtes Poster der 111. Auflage des wichtigsten und größten Radrennens der Welt nimmt fast die gesamte Wand vor seinem Büro ein. Vor dem Start der Tour beschäftigt Prudhomme vor allem ein Problem: die zunehmende Geschwindigkeit des Pelotons und die damit zusammenhängende Häufung der Stürze.
TOUR: Herr Prudhomme, spätestens seit den grässlichen Unfällen der Top-Fahrer Jonas Vingegaard, Remco Evenepoel und Primoz Roglic bei der Baskenland-Rundfahrt im April erhält die Debatte um die Sicherheit des Pelotons großen Schwung. Wie erleben Sie diese Entwicklung?
Christian Prudhomme: Für die Stürze gibt es drei Hauptgründe: den Parcours, das Verhalten der Fahrer und das Material. Der entscheidende Punkt ist das Material. Natürlich wollen die Profis, die Champions, so schnell wie möglich fahren, sie wollen gewinnen. Aber wenn die Geschwindigkeit weiter steigt, werden wir noch mehr Unfälle erleben. Es ist befremdlich, wenn die Geschwindigkeitsrekorde der ersten drei Monumente des Jahres pulverisiert werden. Bei Paris-Roubaix haben wir diese Entwicklung im dritten Jahr in Folge erlebt – wo soll das hinführen? Die zu hohe Geschwindigkeit ist eine Gefahr für alle, für die Fahrer in erster Linie, aber auch für die Menschen in der Kolonne eines Rennens, die Motorradfahrer, die Sportdirektoren, die Zuschauer am Straßenrand. Ich denke, dass unbedingt Maßnahmen eingeleitet werden müssen.
TOUR: Welche Mittel können ergriffen werden? Lässt sich technischer Fortschritt einfach so aufhalten?
Christian Prudhomme: Ich unterstütze den Vorschlag von Marc Madiot (Teamchef von Groupama-FDJ, Anm. d. Red.), dass über die Ohrhörer vor einer Gefahrenstelle ein allgemeines Warnsignal verbreitet wird, das alle Fahrer auf ihre Ohren gespielt bekommen. Die Frage ist aber auch: Müssen wir über die Scheibenbremsen nachdenken, die so effektiv sind, dass die Fahrer erst viel später bremsen als damals, als es noch die Felgenbremsen gab? Die Rahmen, die Lenker – selbst ehemalige Profis, die vor ein paar Jahren aufgehört haben, sagen, dass sie erst einen Einführungskurs benötigen, um die neuen Räder fahren zu können. Wir müssen die Entwicklung, den technischen Fortschritt, stoppen. Ganz wichtig: Die Fahrer tragen nur ein dünnes Stückchen Stoff über dem Körper. Das hat bei einem Sturz keine Wirkung. Es gibt aber so viele geniale Ingenieure, wir sollten sie damit beauftragen, eine Schutzkonstruktion für die Profis zu entwickeln. Aber an erster Stelle muss die Reduzierung der Geschwindigkeit stehen.
TOUR: In einem Sport, dessen Fahrer immer schon versucht haben, mit allen Mitteln schneller zu werden, soll Ihrer Meinung nach ein Gebot zur Langsamkeit erlassen werden. Glauben Sie wirklich, dass die Teams da mitziehen werden?
Christian Prudhomme: Mir ist auch klar, dass Champions nicht auf technische Vorteile verzichten wollen. Aber dennoch müssen wir darüber nachdenken. Wir benötigen ein allgemeines Werkzeug zur Reduzierung der Geschwindigkeit. Beim Schwimmen wurden die Anzüge reglementiert, um der Rekordflut Einhalt zu gebieten. Dabei ging es nur um den Sport, es ist nicht die Sicherheit aller gefährdet, wenn die Schwimmer immer schneller schwimmen. Bei Paris-Roubaix haben wir vor dem Wald von Arenberg eine Schikane eingebaut, das wäre eine Möglichkeit, die aber alle mittragen müssen.
TOUR: Wenn es nach Projekt “One Cycling” geht, dann sollte vor allem auch die ASO, die Großorganisatorin von Radrennen, die dahinterstehende Idee mittragen. Es geht dabei um einen Zusammenschluss bestehender und neuer Rennen, die sich zentral und damit lukrativer vermarkten lassen. Wie stehen Sie als Tour-Direktor dazu?
Christian Prudhomme: Meine Antwort ist: Wir haben derzeit ein fundamentales Problem im Radsport, das ist die Sicherheit. Darauf müssen wir alle unsere Kräfte lenken.
TOUR: Ein Gedanke dieser neuen Bewegung zielt auch dahin, für Schlussanstiege bei den Bergetappen Eintrittsgelder zu verlangen. Ist das mit Ihnen zu machen?
Christian Prudhomme: Verrückt. Eine völlige Verrücktheit ist das. Wir sprechen von der Tour de France. Sie ist das einzige Sportspektakel, das die Zuschauer gratis am Straßenrand verfolgen können. Die Zuschauer wollen die Champions sehen, und das passiert kostenlos, das muss auch so bleiben. Was Leute, die ein Geschäft mit der Tour machen wollen, nicht verstehen, ist, dass sie so viel mehr ist als bloßer Sport – es geht dabei um ein Kulturerbe und um die Verbindung der Menschen durch dieses Rennen. Wir stehen in der Tradition der Geschichte, daher muss die Tour gratis am Straßenrand zu sehen sein.
TOUR: Die Tour können nun erstmals auch die Menschen in Italien live am Streckenrand verfolgen. Was ist Ihre Mission mit dem Grand Depart in Florenz?
Christian Prudhomme: Wir starten zum dritten Mal in Folge im Ausland, nach Kopenhagen 2022 und Bilbao 2023. Wir wollten dafür ein neues Land präsentieren, eines, in dem die Tour noch nicht zu Gast war. Florenz war schon seit längerer Zeit ein Kandidat. Die Stadt wollte schon 2014 den Grand Depart ausrichten, aus Anlass des 100. Geburtstages von Gino Bartali, ihrem Helden, der aus der Region von Florenz stammt. Allerdings hatte 2012 erstmals ein Brite die Tour gewonnen, Bradley Wiggins. Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2012 in London standen drei Menschen im Mittelpunkt: die Queen, James Bond und Bradley Wiggins im Gelben Trikot. Das hat uns dazu veranlasst, zu sagen, dass wir so schnell wie möglich nach Großbritannien gehen müssen – dafür bot sich 2014 an. Damals waren wir zu Gast in Yorkshire, ein immenses Erlebnis, unglaublich. Florenz haben wir vertröstet. Später, im März 2020, mitten in der Pandemie, habe ich eine WhatsApp von Dario Nardella erhalten, dem Bürgermeister von Florenz. Einen Moment, ich suche sie gerade …
TOUR: … kein Problem …
Christian Prudhomme: ... hier ist sie, sie ist vom 18. März 2020: “Florenz. Schön und traurig. Ich habe nicht den Traum von der Tour vergessen. Lassen Sie uns darüber sprechen.” Dario hat noch ein kleines Video angehängt. Das hat mich sehr bewegt: diese wunderschöne Stadt, verlassen, weil die Menschen wegen der Pandemie nicht vor die Tür gingen. Da war mir klar: Wir müssen nach Florenz. Damit verbinden sich für uns als Organisatoren der Tour eine ganze Menge an Erinnerungen, was uns immer sehr wichtig ist. Vor 100 Jahren, 1924, gewann Ottavio Bottecchia als erster Italiener die Tour. Und vor zehn Jahren mit Vincenzo Nibali zum bisher letzten Mal. Dann haben wir Gino Bartali, an den wir erinnern werden, dazu Gastone Nencini, den Tour-Sieger von 1960, auch er kommt aus der Toskana. Aber wir gedenken in Italien auch Fausto Coppis, der in Tortona gestorben ist – die Stadt passieren wir während der dritten Etappe. Am zweiten Tag erreichen wir Cesenatico, den Geburtsort von Marco Pantani.
TOUR: Betrachten Sie Pantani nicht eher als einen problematischen Fahrer?
Christian Prudhomme: Licht und Schatten, das ist Pantani. Es handelte sich bei ihm um einen exzellenten Kletterer, der mit Doping in Berührung kam. Sein Tod war tragisch. Und der jährt sich 2024 zum 20. Mal. Pantani gehört zur Geschichte des italienischen Radsports. Die Tour passiert 2024 auch Pantanis Sterbeort Rimini.
TOUR: Lässt sich die Tatsache, dass die Tour nun erstmals nach Italien übersetzt, auch so deuten, dass Sie den Italienern klarmachen wollen, dass die Frankreich-Rundfahrt im Vergleich zum Giro d’Italia das deutlich größere und angesehenere Rennen ist?
Christian Prudhomme: Es gibt ein harmonisches Verhältnis. Der Giro ist auch schon in Frankreich gewesen. Oft sogar, 1998 ist er in Nizza gestartet. Ich habe auch eine Botschaft von Mauro Vegni erhalten, dem Direktor des Giro. Er unterstützt unsere Pläne und hat sich dafür starkgemacht, dass die Tour in Turin Station macht. Das haben wir realisiert, die dritte Etappe endet dort. Bei dieser Gelegenheit erinnern wir auch an den Vertrag von Turin aus dem Jahre 1860, damals wurden die Grafschaft Nizza und Savoyen an Frankreich übertragen.
TOUR: Die erste Etappe über 206 Kilometer von Florenz nach Rimini weist bereits 3700 Höhenmeter auf. Ist das für den Auftakt eines dreiwöchigen Rennens nicht ein wenig zu schwer?
Christian Prudhomme: Das kann man durchaus so sehen, das räume ich ein. Möglicherweise ist dies die schwerste Auftaktetappe, die wir je hatten. Aber ich sage Ihnen auch, dass wir kritisiert worden wären, wenn die erste Etappe flach verlaufen würde. Dann nämlich, wenn sich wegen der Hektik und der Aufregung des ersten Tages rund um den finalen Sprint 50 Fahrer auf dem Asphalt wiederfinden.
TOUR: Bereits am vierten Tour-Tag überqueren die Profis den Galibier, das ist extrem früh. Wollen Sie die Klassementfahrer gleich schon richtig aufwecken?
Christian Prudhomme: Wir fahren den Galibier über den Col du Lautaret an, also über die leichtere Südseite. Wir haben das so ausgewählt, weil es der direkteste Weg ist, der von Turin aus nach Frankreich führt. Dass dabei ein legendärer Berg mit von der Partie sein könnte, hat uns allerdings auch gereizt. Ich denke, dort werden sich die Fahrer zeigen, die in der zweiten Reihe lauern, Jai Hindley zum Beispiel.
TOUR: Bald darauf jagen Sie die Fahrer während der neunten Etappe über die Schotterstrecken rund um Troyes, ein Kurs, der dem der Strade Bianche in der Toskana ähnelt. 14 Schottersektoren mit 32 Kilometern Länge sind gefordert. Ralph Denk, der Teamchef von Bora-Hansgrohe, blickt sehr skeptisch auf diesen Tag. Was entgegnen Sie ihm?
Christian Prudhomme: Es wird immer einen Zwiespalt zwischen den Teamchefs geben, die am liebsten alle Eventualitäten ausschließen möchten, und den Liebhabern des Radsports. Wir arbeiten schon lange an der Etappe rund um Troyes. Wichtig ist: Es wird keine Abfahrt geben bei unserem Abstecher in die Weinberge, das wollten wir aus Sicherheitsgründen unbedingt vermeiden. Die Schotterpassagen sind kurz und sehr steil. Letztlich suchen wir einen Tour-Sieger, der sich auf jedem Terrain als widerstandsfähig erweist.
TOUR: Erstmals seit 1903 wird die Tour wegen der Olympischen Sommerspiele nicht in Paris enden, sondern in Nizza. Sie machen daraus ein Event – ein schweres Einzelzeitfahren am allerletzten Tag …
Christian Prudhomme: Als klar wurde, dass wir wegen der Olympischen Spiele kein Finale in Paris haben würden, hat uns Christian Estrosi, der Bürgermeister von Nizza, gefragt, ob wir nicht wie bei Paris-Nizza diesmal die Tour in seiner Stadt enden lassen könnten. Für uns fügt sich das, wir kennen Nizza, wir kennen die Umgebung, und das Zeitfahren am Schluss könnte sogar entscheidenden Charakter haben. Das hatten wir zuletzt 1989, als Greg LeMond noch Laurent Fignon abgefangen hat und mit nur acht Sekunden Vorsprung die Tour gewann. Im Übrigen nähern wir uns mit Nizza wieder unserem Startpunkt in Italien.
TOUR: Die Tour hat in gewisser Weise Zuwachs bekommen. Seit 2022 gibt es wieder eine Frankreich-Rundfahrt für Frauen. Wie nehmen Sie das Rennen wahr?
Christian Prudhomme: Es ist fantastisch. Ich habe einmal gesagt, dass es zwei Frankreich-Rundfahrten gibt, eine für Männer und eine für Frauen. Das war ein Fehler. Es gibt auch nicht zwei Wimbledons. Es gibt eine Tour, das bezieht die Frauen mit ein. Wir haben 300 Anfragen von Städten und Gemeinden vorliegen, die gerne Start- oder Zielort der Tour wären. Manchen bieten wir an, Teil der Strecke der Frankreich- Rundfahrt der Frauen zu werden. Sie schlagen ein. Und sind stolz. Marion Rousse, die Tour-Direktorin, ist eine herausragende Persönlichkeit. Sie ist extrem kompetent und großartig in ihrem Job. Darüber hinaus kommentiert sie die Tour der Männer für das französische Fernsehen, sie ist zudem die Ehefrau von Julian Alaphilippe und Mutter eines kleinen Kindes. Marion ist faszinierend.
TOUR: Sie sind 63 Jahre alt und seit 17 Jahren Tour-Direktor, wirken aber immer noch sehr leidenschaftlich und voller Enthusiasmus. Denken Sie bisweilen auch schon mal über das Ende Ihrer Amtszeit nach?
Christian Prudhomme: Tatsächlich denke ich mehr und mehr an das Thema Übergabe. Bisher war der Tour-Direktor in seinem ersten Leben immer ein Journalist. Ich denke, heute wäre das nicht mehr die wichtigste Voraussetzung. Mein Nachfolger muss allerdings jemand sein, der die Tour, Frankreich und die Menschen zutiefst liebt. Und er muss bereit sein, zu geben. Damit meine ich vor allem Zeit. Für Reisen, für Gespräche, Arbeitsessen, Strecken-Erkundigungen. Tour- Direktor bist du nicht 35 oder 40 Stunden die Woche, du bist es immer, jeden Tag des Jahres. Tour-Direktor, das ist kein Beruf, sondern eine Mission. Ich weiß allerdings nicht, wie lange ich diesen Job noch ausüben werde. Ich weiß nur, dass ich nicht den Rekord von Jacques Goddet brechen werde, der 38 Jahre lang Tour-Direktor war.
TOUR: Frankreich wartet seit 1985 auf einen französischen Tour-Sieger. Wann wird es wieder einen französischen Triumph bei der Tour geben?
Christian Prudhomme: Puh. Schwere Frage. Mein Gefühl jedoch sagt mir, dass der nächste französische Tour-Sieger eine Frau sein wird.