Beachtenswert: Obwohl die Mannschaft nur über eine Lizenz als international zweitklassiges Pro Team verfügt, entschied sich der zweimalige Straßen-Weltmeister Alaphilippe für einen Wechsel in die Schweiz. “Ich habe bei meiner Entscheidung nicht daran gedacht, ob das Team in der World Tour ist oder nicht – ich habe mich auf mein Gefühl verlassen.” Die Struktur sei gut, hier könne er Spaß am Rennen fahren haben, so der Franzose.
Dem Aufsteiger unter den kleinen Pro-Teams gelang ein echter Coup – nachdem Alaphilippe bei Soudal - Quick Step zuletzt vom Teamchef Patrick Lefevere immer wieder hart kritisiert worden war. Der Verschmähte suchte eine Art Neuanfang. “Ich habe am Telefon wirklich seine Motivation gespürt”, berichtete Cancellara bei der Teampräsentation. Der Schweizer Rennstall will nach oben, Alaphilippe will im fortgeschrittenen Alter dorthin, wo er schon einmal war.
Tatsächlich haben sich durch die Neuverpflichtungen bei Tudor die Kräfteverhältnisse im Profiradsport verschoben. Denn beim neuen Arbeitgeber wird der mittlerweile 32-jährige Franzose eine Doppelspitze mit dem Berner Marc Hirschi bilden – ein weiterer Rennfahrer, der bei den schwersten Rennen des Jahres zum Favoritenkreis zählt. “Der Unterschied ist: Wir müssen Wildcards anfragen”, erläutert Hirschi, bei seinem bisherigen Team UAE waren Starts bei allen wichtigen Rennen sicher.
Hirschi sprach bei der Teampräsentation am 7. Januar das zentrale Problem an: Cancellaras Männer haben wenig Planungssicherheit. Teammanager Raphael Meyer kann seinen Rennfahrern zu Jahresbeginn nur einen Rennkalender in Rudimenten anbieten. Ohne World-Tour-Lizenz ist man auf Einladungen der Rennveranstalter angewiesen, sogenannte Wildcards – die kommen erst nach und nach im Saisonverlauf. Aber man gibt sich optimistisch. “Wir werden erstmals eine komplette Klassikerkampagne bestreiten”, sagt Meyer – es klingt so, als hätte man schon Signale empfangen, dass die Chancen nicht schlecht stehen, beispielsweise erstmals bei Lüttich-Bastogne-Lüttich oder Paris-Roubaix dabei zu sein. 2023 gab Team Tudor sein Debüt bei Mailand-San Remo, im vergangenen Jahr war man erstmals bei der Flandern-Rundfahrt dabei.
In Frankreich trauen Experten der Equipe gar zu, in diesem Jahr eine der zwei Einladungen zur Tour de France zu ergattern. Als Hauptkonkurrenten gelten das aufstrebende norwegische Team Uno-X und die französische Equipe TotalEnergies. Im Vergleich hat Tudor mindestens ein Ass mehr im Ärmel: Schließlich gilt Alaphilippe in seiner Heimat als Publikumsliebling und Entertainer – er gewann bereits sechs Etappen und trug 18 Tage das Gelbe Trikot. Vielleicht begeistert das Projekt dank der Personalie schon in diesem Jahr Tour-Chef Christian Prudhomme derart, dass er die Equipe schon in diesem Jahr auf die große Bühne in Frankreich bittet.
Auch für den deutschen Radsport hat das Team große Bedeutung: Sechs Rennfahrer stammen aus Deutschland, darunter der Mann im schwarz-rot-goldenen Trikot des nationalen Champions: der 22-jährige Marco Brenner. Marius Mayrhofer, Anfang 2023 Sieger beim World-Tour-Rennen Cadel Evans Great Ocean Road Race, möchte wieder in die Erfolgsspur finden und liebäugelt mit Starts bei den Klassikern übers Kopfsteinpflaster. Dazu kommen der bergfeste Florian Stork, Sprintanfahrer Alexander Krieger und die Kletter-Talente Hannes Wilksch und Mika Heming. Die Deutschen profitieren vom schnellen Wachstum - zumal Red Bull-Bora-Hansgrohe nicht mehr betont den deutschen Fahrermarkt sondiert.
Begonnen hatte bei Tudor alles erst in der Saison 2022, nachdem sich Cancellara und sein Geschäftspartner Raphael Meyer, der jetzige Teammanager, entschlossen hatten, das Schweizer Nachwuchs-Projekt Swiss Racing Academy zu übernehmen, das plötzlich ohne Geldgeber vor dem Aus stand. Nach dem Start als Conti-Team fährt das Projekt nun im dritten Jahr als Pro-Team mit zunehmend ambitionierteren Zielen.
Ob der Aufstieg so einfach weitergeht? Wenn Ende 2025 nach drei Jahren abgerechnet wird und auf der Basis der gewonnenen Punkte die Lizenzen für die World-Tour neu vergeben werden, dürfte Tudor nicht dabei sein – zu groß ist der Rückstand der Newcomer, um einen der ersten 18 Plätze der Drei-Jahres-Wertung der Teams zu erreichen. Ob es überhaupt ein Ziel seines Projekts sei, eine Lizenz für die World Tour zu lösen, wurde Teameigner Cancellara vor dem Saisonstart gefragt. “Ich glaube nicht, dass die World Tour in der bisherigen Form 2029 noch existiert”, antwortete der einstige Zeitfahr-Olympiasieger. Es wäre das Jahr, in dem das Tudor Pro Cycling Team erstmals realistische Chancen haben könnte, die Top-Lizenz mit Startgarantie bei allen wichtigen Rennen zu ergattern.
Es bleibt jedoch eine weitere Chance, die besseren Kreise des Weltradsports zu erreichen: Das UCI-Reglement lässt ein Hintertürchen zu den World-Tour-Rennen offen. Wer in der Saisonabrechnung 2025 zu den zwei besten Pro-Teams des Jahres zählt, erhält für 2026 Startgarantie bei allen wichtigen Radrennen inklusive der Tour de France. Es ist das realistische Ziel 2025 für die Radsportler von Tudor, diese Qualifikation zu schaffen. “Wir laufen den Punkten aber nicht hinterher”, betont Cancellara. Er wäre mit seinem Team eben gerne voraus.