Thomas Huber
· 22.06.2024
“Tour de France: Im Hauptfeld” ist eine Dokumentation des Streaming-Dienstes Netflix über das größte Radsportevent der Welt: die Tour de France. TOUR hat nach der Veröffentlichung der zweiten Staffel mit dem Produzenten Yann Le Bourbouach und dem Experten Steve Chainel gesprochen.
Am 11.06.2024 ist die zweite Staffel der Netflix-Serie “Tour de France: Im Hauptfeld” erschienen. Während die erste Staffel bereits viel Aufsehen erregt hat und die Ereignisse der Tour de France 2022 aufgreift, blickt die nun erschienene Staffel auf die Frankreich-Rundfahrt von 2023. TOUR hat sich unmittelbar nach der Veröffentlichung mit dem Produzenten Yann Le Bourbouach und dem Experten Steve Chainel unterhalten und blickt unter anderem auf die Produktion der Serie und einen möglichen dritten Teil.
Yann Le Bourbouach: Es geht um den Zugang in die Tiefe des Radsports. Wir wollen dabei die Charaktere in all ihren Facetten beleuchten. Es gibt einerseits Charaktere, die bereits in Staffel eins vorgestellt wurden wie Tom Pidcock, Jonas Vingegaard oder Wout van Aert. Gleichzeitig gibt es neue Charaktere wie Tadej Pogacar. Dadurch, dass wir diese Menschen in ihrer Tiefe noch tiefer beleuchtet haben, konnten wir ihre Geschichten in der vollen Breite erzählen. Das ist der Hauptunterschied im Vergleich zur ersten Staffel.
Es ist unser Job, die Geschichten von Menschen mit ihren Eigenschaften zu erzählen.
TOUR: Herr Chainel, was ist Ihre Rolle in der Serie?
Steve Chainel: Ich bin der Experte. Ich erkläre die sportliche und taktische Situation. Wenn die Öffentlichkeit die Strategie der Teams nicht versteht, bin ich da, um sie zu erläutern. Außerdem erzähle ich über unterschiedliche Fahrer und erkläre ihre Rolle. Mein Auftrag ist es, zu erklären, was im Radsport konkret passiert.
TOUR: Helfen Sie auch dem Team hinter der Kamera mit Ihrem Wissen als langjähriger Radprofi oder liegt Ihr Aufgabenbereich ausschließlich vor der Kamera?
Steve Chainel: Ich bin nur vor der Kamera aktiv. Dabei erkläre ich, was ich sehe. Yann [Le Bourbouach; Anm. d. Red.] organisiert dafür Interviews mit mir. Ich arbeite sowieso beim TV und bin vor der Kamera recht entspannt. Wenn mich jemand etwas über den Radsport, die dortigen Taktiken und Fahrer fragt, habe ich meist eine gute Antwort parat. Innerhalb weniger Tagen erkläre ich dann für die Serie, wie ich die jeweiligen Dinge einschätze. Hinter der Kamera helfe ich nicht.
Yann Le Bourbouach: Steve [Chainel; Anm. d. Red.] ist kein Part des Storytellings. Das machen meine Kollegen und ich. Wir wollen dem Publikum eine objektive Einschätzung geben – vor allem den Zuschauern, die nicht so gut im Radsport bewandert sind. Wir brauchen Leute wie Steve, die den Sport solchen Leuten erklären können.
Wichtig war uns auch, die junge Generation mit der Dokumentation abzuholen.
TOUR: Interessanter Punkt. Was ist denn die Zielgruppe der Serie? Sind es mehr die Radsportfans oder die breite Masse der Netflix-Konsumenten, die womöglich nicht so vertraut mit der Sportart sind?
Yann Le Bourbouach: Es ist für die Puristen und die Touristen. Es sind also beide Gruppen, die wir abdecken wollen. Als Netflix-Produzent geht es zusätzlich darum, den Touch der Plattform mithineinzugeben. Wenn jemand zuerst “Haus des Geldes” auf Netflix schaut und sich dann unsere Dokumentation ansieht, sollte es ein sauberer Übergang sein. Das ist ein weiterer Punkt, den wir versucht haben, umzusetzen. Wichtig war uns auch, die junge Generation mit der Dokumentation abzuholen.
Steve Chainel: Diese Serie ist eine der besten Veröffentlichungen über den Radsport. Viele Menschen kennen Radsport, verstehen aber den Sport und den Wettbewerb dahinter nicht. Sie kennen das Wort “Tour de France” - sie wissen aber nicht, was alles in diesem Rennen passiert. Und genau das ist mir aber gleichermaßen auch Netflix wichtig: den Leuten die Tür zu öffnen, die sich mit dem Sport noch nicht so gut auskennen. So war es ja auch bei “Drive to Survive”, dort hat die Formel 1 ebenfalls zahlreich neue Zuschauer bekommen, weil die Menschen begonnen haben, den Sport zu verstehen.
TOUR: Würden Sie sagen, dass “Drive to Survive” eine Art Vorbild für “Tour de France: Im Hauptfeld” ist?
Yann Le Bourbouach: In ihrer Form schon, in ihrer Eigenart nicht. Ich glaube, du kannst die Formel 1 und den Radsport nicht vergleichen. Man kann dabei nicht das gleiche Storytelling nutzen. Die Formel 1 ist eine Meisterschaft, in der es viele Rennen innerhalb eines Jahres gibt. Die Tour de France ist ein Rennen innerhalb von drei Wochen. Daher kann das Storytelling von Grund auf nicht gleich sein und ist eindeutig anders. In ihrer Form und im Aufbau ist es aber schon ähnlich.
Wir brauchen Fahrer mit klaren Zielen und Charakterzügen.
TOUR: In Staffel zwei wird immer wieder das Team AG2R La Mondiale mit seinem Fahrer Ben O’Connor in den Fokus gerückt. Warum haben Sie den Fokus ausgerechnet auf sie gesetzt und anhand welcher Kriterien suchen Sie sich die Fahrer heraus?
Yann Le Bourbouach: Es geht alles ums Storytelling. Als Produzenten ist es unser Job, die Geschichten von Menschen mit ihren Eigenschaften zu erzählen. Es ist eine von Charakteren geleitete Handlung. Wenn ich zu Bora-Hansgrohe gehe, weiß ich, dass Ralph Denk einige großartige Geschichten erlebt hat. Außerdem gab es dort Jai Hindley. Er hatte das Ziel, ins Gelbe Trikot zu fahren und hat das getan. Wir brauchen Fahrer mit klaren Zielen und Charakterzügen, darum geht es. Es geht nicht nur um die Mannschaften.
Steve Chainel: In der ersten Staffel liegt ein Fokus auf dem AG2R-Sportdirektor Julien Jurdie. Obwohl er kein Fahrer ist, ist er ein wichtiger Teil der Serie - eben aufgrund seines Charakters. Auch in Staffel zwei geht es deshalb oft um AG2R, Jurdie hat einfach einen großen Charakter.
An den Champs Elysees habe ich begriffen, wie groß diese Produktion ist.
Bora-Hangrohe wird in der dritten Staffel “definitv” eine wichtige Rolle einnehmen
TOUR: Eindrucksvoll sind immer wieder die Kameraaufnahmen in der Serie. Wie kommen sie zustande?
Yann Le Bourbouach: Wir haben zwölf Shooting-Teams bei der Tour de France. Sie bestehen aus einem Filmmaker, einen Sound-Operator und einem Field-Operator. Letzterer ist wichtig, um koordiniert von A nach B zu kommen. Die anderen beiden sollen sich dabei voll auf das Filmen konzentrieren. Zusätzlich haben wir Kameras an den Rädern der Fahrer und Zugänge zu allen Kameras, die für die Tour de France selbst arbeiten. Wir haben eine riesige Anzahl an Kameras.
Steve Chainel: Ich habe Yann das erste Mal an den Champs Elysees beim Drehen der ersten Staffel gesehen. Als er mir gezeigt hat, dass alle zwölf Kamerateams genau diesen einen Moment an den Champs Elysees einfangen, habe ich begriffen, wie groß diese Produktion ist.
TOUR: Bereits im Voraus ist es angeklungen, dass auch eine dritte Staffel erscheinen könnte. Könnte dort ein größerer Fokus auf Bora-Hansgrohe liegen? Mit der Verpflichtung von Primoz Roglic und dem Einstieg von Red Bull gewinnt das Team ja an Strahlkraft.
Yann Le Bourbouach: Definitiv, wir mögen das Team!