Jens Claussen
· 17.09.2024
Die Tour de France Femmes avec Zwift fand in ihrer derzeitigen Form zum dritten Mal statt. Start war Rotterdam, Ziel in Alpe d’Huez. An sieben Fahrtagen und auf acht Etappen wurden insgesamt 949,7 Kilometer zurückgelegt. TOUR hat mit der diesjährigen Siegerin gesprochen.
TOUR: Sind Sie mit dem Gefühl zum Grand Depart nach Rotterdam gereist, dass Sie diesmal die große Favoritin Demi Vollering schlagen könnten?
Kasia Niewiadoma: Grundsätzlich gehe ich immer eher ruhig in Rennen und habe auch eine gewisse Überzeugung in mir, dass die Dinge schon gut ausgehen werden. Beim Start in Rotterdam hatte für uns alle oberste Priorität, mich einfach zunächst sicher durch die ersten hektischen Etappen zu bringen. Ich wusste, dass, selbst wenn ich mit etwas Rückstand auf Demi aus dem Zeitfahren gehen würde, im harten, bergigen Terrain meine Zeit kommen wird. Ich hatte einfach das Gefühl der Ruhe in mir, das hat mich stark gemacht.
TOUR: Ist der Sieg – nach zwei dritten Plätzen in den Vorjahren – auch eine Art Genugtuung?
Kasia Niewiadoma: Der Sieg ist tatsächlich nicht unbedingt eine Genugtuung für die dritten Plätze der letzten beiden Jahre, sondern vielmehr für das, was ich die letzten Jahre und über meine gesamte Karriere hinweg geleistet habe. Und nicht nur für mich selbst, sondern auch für alle Entbehrungen und Anstrengungen, die mein Ehemann, Coach und meine Familie meinetwegen auf sich genommen haben.
TOUR: Gab es für Sie den einen Schlüsselmoment bei der diesjährigen Tour?
Kasia Niewiadoma: Das ist schwer zu sagen, denn es gab einige prekäre Momente an diesem letzten Tag der Tour. So beispielsweise, als Demi mich am Col du Glandon stehen ließ. Da dachte ich wirklich, es wäre vorbei. Aber wahrscheinlich war der wirkliche Schlüsselmoment der Anstieg hinauf nach Alpe d’Huez. Ich habe gefühlt, dass mir auf diesen letzten Kilometern das Gelbe Trikot aus den Händen zu gleiten drohte. Das wollte ich aber partout nicht akzeptieren. Es gab in diesen Momenten keine andere Option für mich, ich durfte nicht langsamer werden! Im Teamfahrzeug haben sie mich die letzten zwei Kilometer den Berg regelrecht hochgeschrien, jede Sekunde war das pure Leiden.
TOUR: Sie scheinen sich gut mit Demi Vollering zu verstehen. War das nach der fünften Etappe immer noch so? Als Vollering zu Fall kam, hat die Gruppe mit Ihnen vorne nicht gewartet und damit das gestürzte Gelbe Trikot attackiert.
Kasia Niewiadoma: Ich würde diese Situation definitiv nicht als Attacke auf das Gelbe Trikot bezeichnen. Stürze gehören zum Rennen und wir wollten in der Konstellation, die sich dann ergab, unbedingt auf den Etappensieg gehen. Ich war sehr enttäuscht, als Kata Blanka Vas mich im Sprint noch überholt hat und ich nur Zweite wurde. Erst danach haben wir erfahren, dass ich im Gelben Trikot bin.
TOUR: Demi Vollering wirkt in manchen Rennsituationen recht emotional, Sie hingegen agieren immer ruhig und bedacht auf dem Rad. War dieser mögliche Mentalitätsunterschied bei der Tour das Zünglein an der Waage?
Kasia Niewiadoma: Da möchte ich eigentlich gar nicht näher darauf eingehen. Man sollte sich nicht nur auf Demi und mich fokussieren, das ist für meinen Geschmack bei der Tour viel zu sehr in den Vordergrund gerückt. Wir haben während dieser Rundfahrt noch so viele weitere unglaubliche Leistungen von anderen Fahrerinnen gesehen, die es mindestens genauso verdient haben, im Rampenlicht zu stehen. Wir sind bei Canyon//SRAM eine Gruppe von engen Vertrauten, mit der ich noch mehr erreichen möchte.
TOUR: Sie haben vier Jahre lang keine Rennen gewonnen. Mit dem Sieg beim Fleche Wallonne in diesem Frühjahr konnten Sie diese Serie beenden. Wie wichtig war dieser Erfolg in der Vorbereitung auf die Tour?
Kasia Niewiadoma: Der Sieg beim Fleche hat mir natürlich eine Menge an Motivation gegeben. Aber als noch wichtiger würde ich den Prozess bewerten, den wir als ganzes Team seit Saisonbeginn durchlaufen haben. Es fing schon in Australien gut an und dann hatte die Mannschaft ein extrem gutes Frühjahr mit weiteren schönen Resultaten über den Saisonverlauf. In diesen Monaten konnten wir viel Selbstvertrauen tanken und wussten, dass wir bei der Tour einfach nur von Etappe zu Etappe geduldig sein müssen.
TOUR: Sie sind die erste Polin, der dieser Sieg bei der Tour de France Femmes gelungen ist, wobei Ihr Land schon einige erfolgreiche Profifahrerinnen hervorgebracht hat. Können Sie eine junge Fahrerin in Polen nennen, die vielleicht einmal in Ihre Fußstapfen treten könnte?
Kasia Niewiadoma: Es gibt einige junge Fahrerinnen in Polen mit viel Potenzial. Auch Athletinnen aus der U17-Kategorie, die ihr Können besonders auf der Bahn schon gezeigt haben. Wenn ich aber einen Namen nennen sollte, ist es der von Dominika Wlodarczyk. Sie war schon als Juniorin und in der U23-Klasse sehr erfolgreich und hat als Belohnung in diesem Jahr einen World-Tour-Vertrag beim UAE Team ADQ erhalten.
TOUR: Sie sind seit 2018 beim Team Canyon//SRAM unter Vertrag und dort noch bis 2026 gebunden. Was hat dieses Team, was andere vielleicht nicht haben?
Kasia Niewiadoma: Als ich zu diesem Team kam, war es wie eine Art Entdeckungsreise für mich. Und diese Reise bleibt bis heute spannend. Jedes Mal, wenn ich die Mannschaft hätte wechseln können, dachte ich: warum eigentlich? Wir haben hier so viel gemeinsam aufgebaut und ich habe in diesem tollen Umfeld trotz all der Jahre immer noch das Gefühl, dass ich mich als Fahrerin und Person weiterentwickeln kann. Ich würde für mich selbst Canyon//SRAM auch gar nicht als ein professionelles Radteam bezeichnen, sondern vielmehr als eine Gruppe von engen Vertrauten, mit der ich noch mehr erreichen möchte.
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