Unbekannt
· 15.09.2020
Lennard Kämna ist das deutsche Gesicht der Tour de France 2020. Warum er schon als Kind in Alpe d'Huez war und dass Jens Voigt sein Vorbild war, verrät er im TOUR- Interview.
Bei der Tour de France 2020 ist Lennard Kämna mit seinen Leistungen ins Rampenlicht der Radsportwelt gefahren. Im August 2019 haben wir mit Lennard Kämna gesprochen - das Interview ist immer noch aktuell.
Interview: Andreas Kublik
TOUR Erzählen Sie uns doch mal: Warum muss man als Radprofi bei der Tour de France dabei sein?
KÄMNA Das muss man nicht unbedingt, aber jeder ist heiß drauf, obwohl es jede Menge anderer schöner Radrennen gibt. Die Tour ist nun mal das größte Highlight und die bekannteste Rundfahrt. Gerade in Deutschland ist man als Profiradsportler erst so richtig akzeptiert, wenn man bei der Tour war. Das ist es vielleicht, was die Tour am meisten ausmacht: die Aufmerksamkeit.
Wenn man auffällt wie Sie, mit starken Auftritten auf den Bergetappen, sehen das viele Leute im Fernsehen. Wird man dann auch beim Dorfbäcker von jedem angesprochen?
Das ist mir am allerunangenehmsten von allem. Ich mag es, unerkannt durch die Gegend zu gehen. Beim Dorfbäcker kannten sie mich allerdings schon von klein auf.
Sie stammen aus dem norddeutschen Ort Fischerhude. Sind Sie wegen Ihrer neuen Bekanntheit jetzt nach Bremen gezogen?
Es hat sich ja alles in Grenzen gehalten. Eigentlich sind das nur ein paar Tage im Jahr, an denen man als Radsportler mal mehrere Autogramme, mehrere Interviews geben muss. Am Teambus sind nun ein paar Leute, die sich freuen, mich zu sehen. Und man wird öfter erkannt, wenn man zum Start fährt. Aber das ist eher schön als eine Last. Doch wenn ich durch Bremen gehe und mich erkennt niemand, dann ist mir das auch sehr, sehr lieb.
Was hat sich durch die Tour de France 2019 verändert?
Vor allem hat es mir Selbstbewusstsein und den Glauben an mich selbst zurückgegeben; ich weiß, wenn alles gut läuft, wenn ich mich gut vorbereiten kann, kann ich ein sehr guter Fahrer sein. Ich hoffe, das in den nächsten Jahren bestätigen zu können.
Sie hatten 2018 eine schwierige Phase. 2017 waren Sie noch Achter im Vuelta-Zeitfahren und Vize-Weltmeister im Straßenrennen der U23-Klasse. Dann ging 2018 nichts mehr, und Sie nahmen sich eine Auszeit ...
Das war in dem Moment der einzig logische Schritt. Ich bin von einer Krankheit in die nächste geraten und einfach nicht mehr in Form gekommen. Irgendwann muss man das halt anerkennen. Und wenn es körperlich nicht mehr so läuft, leidet auch das Mentale – dann muss man sich eine Auszeit nehmen. Ich würde das gar nicht als eine so riesenschwierige Phase bezeichnen. Manche interpretieren auch Sachen rein, die überhaupt nicht stimmen. Am Ende bin ich einfach nur sechs Wochen lang nicht Rad gefahren. Immerhin habe ich mit 14 angefangen, Leistungssport zu machen.
In jenem Sommer 2018 sind Sie dann, statt wie urspünglich geplant zur Tour de France zu fahren, nach Thailand in den Rucksackurlaub geflogen ...
Das war eine schöne Zeit, die ich sehr genossen habe. Und ich bin glücklich, dass ich mir diese Zeit genommen habe.
Sie scheinen nicht gerne darüber zu sprechen. Dabei war es doch ein mutiger Schritt, über den es sich zu sprechen lohnt.
Sicher. Mutig, mutig – das ist jetzt ein großes Wort. Für mich war es in dem Moment die beste Lösung. Ich hatte einen starken Manager (den TV-Journalisten Marc Bator; Anm. d. Red.) und ein starkes Team hinter mir, die gesagt haben: Okay, wir geben dir jetzt die Zeit. Das war schon sehr gut.
Zurück zu Ihren Anfängen als Radsportler: Stimmt es, dass Sie als knapp Zehnjähriger nach Alpe d’Huez geradelt sind?
Ja, das waren die Anfänge damals. Es war ein großes Highlight für mich, Alpe d’Huez hochzufahren. Ich habe zwei Stunden gebraucht und mich ganz schön gequält. Trotzdem war das ein schönes Erlebnis. Zu der Zeit bin ich ein bis zwei Stunden Rad gefahren, maximal.
Der Anstieg ist schon für Erwachsene eine große Herausforderung. Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich war mit meinem älteren Bruder und meinem Vater im Urlaub. Die beiden sind immer viel Rad gefahren, und natürlich schaut man zu seinem Bruder und speziell zu seinem Vater auf. Da wollte ich denen zeigen: Ich kann’s auch, ich hab Lust dazu und es macht mir Spaß. Man guckt sich ja viel von seiner Familie ab.
Was ist Ihre erste Erinnerung an die Tour de France?
Das erste Mal habe ich 2006 richtig Tour de France geguckt. Ich erinnere mich noch, wie Floyd Landis auf einer Bergetappe wie ein Verrückter vorneweg strahlt, Patrik Sinkewitz einholt – das sind Bilder, die ich im Kopf habe.
Floyd Landis wurde kurz nach dem Tour-Sieg als Doper enttarnt. Diese Tour de France war ja eigentlich nicht so ideal als Motivationsschub für den Radsport ...
Da war ich noch sehr jung, noch nicht ganz zehn und weit weg davon, irgendetwas zu verstehen, was damals in diesem Sport passiert ist. Das waren trotzdem meine Vorbilder zu der Zeit, ich war ein Riesen-Fan. Am Ende hat sich herausgestellt, dass das eine sehr schmutzige Phase war. Keine Frage.
Apropos Vorbilder. Sie haben gesagt, in jungen Jahren sei Jens Voigt Ihr Vorbild gewesen. Warum gerade er?
Ich fand die Fahrweise von Jens Voigt einfach interessant, die hat mich begeistert.
Er war ein Rennfahrer, der gerne angriffslustig gefahren ist...
Ich habe meinen Vater früher im Training auch immer attackiert, nach fünf Kilometern. Der hat mich dann immer kurz wegfahren lassen. Irgendwann wusste ich den Weg nicht mehr oder konnte nicht mehr. Dann hat er mich wieder eingeholt.
Ihr erster Trainer in Bremen war der ehemalige DDR-Bahnsprinter Siegfried Schreiber.
Am meisten trainiert habe ich mit meinem Vater. Der Sigi hat mir keine Trainingspläne geschrieben, es war mehr so, dass er mal gesagt hat: ‚Fahr mal die letzte Stunde mit ’nem dicken Gang‘ oder so. Oder einmal haben wir die Oder-Rundfahrt zu Hause simuliert. Ich habe damals keinen Leistungssport betrieben. Das hat sich ziemlich radikal geändert, als ich in den Sommerferien in die Sportschule wechselte. Der Sigi hat erst meinen Bruder nach Cottbus vermittelt und dann auch mich.
Die Sportschule dort pflegt durchaus die Radsport-Tradition der DDR ...
Klar, in Cottbus ist noch alles so ein bisschen alte Schule, was die Trainingsansätze angeht. Und die Strukturen von damals sind so übernommen worden. Daher weiß ich, welches Gedankengut die DDR hatte – es hat sich aber in Sachen sauberer Sport auch da etwas getan. Da wird sehr, sehr darauf geachtet, dass der Sportler nicht anfängt, irgendwelche Nahrungsergänzungsmittel zu nehmen.
Sie zählen zu einer Rennfahrergeneration mit starken Individualisten, die früh erfolgreich sind – zum Beispiel Mathieu van der Poel, Wout Van Aert, Remco Evenepoel. Woran liegt das?
Im Unterschied zu den zehn Jahre Älteren haben wir schon sehr früh sehr professionell trainiert. Heutzutage fährt man schon als U17-Fahrer mit Powermeter durch die Gegend. Wir versuchen wirklich sehr früh, alles auszureizen.
Sie sind ungewöhnlich früh Profi geworden, mit 19 Jahren. Mit 20 unterschrieben Sie beim World-Tour-Team Sunweb. War das im Nachhinein die richtige Entscheidung?
Nee, ich wäre sehr, sehr glücklich gewesen, wenn ich noch zwei Jahre in der U23 hätte fahren können. Das war damals eine Fehlentscheidung, direkt zu Stölting gegangen zu sein (sein erstes Team 2015, Anm. d. Red.).
Im Jahr nach Ihrem Wechsel löste Stölting eine Lizenz als Professional Continental Team, fuhr eine Klasse höher. Was spricht denn dafür, früh Profi zu werden, was dagegen?
Dafür spricht vielleicht, dass man sehr früh anfängt, sehr professionell zu arbeiten – oder zumindest das Umfeld hat, das zu tun. Man lernt sehr viel und ist dadurch dem einen oder anderen Konkurrenten aus der U23 einen Schritt voraus. Dagegen spricht, dass man mental noch nicht wirklich ready dafür ist.
Was meinen Sie damit?
Also in der U23, bei einem KT-Team (international dritthöchste Liga, meist mit Rennfahrern, die noch in der U23-Klasse startberechtigt sind; Anm. d. Red.), da fährt man mit Freunden zum Radrennen, man trainiert ein bisschen. Das sind Spaßjahre, bevor der Ernst losgeht.
Apropos Ernst: Im TOUR-Interview sagte Wout Van Aert vor einiger Zeit, dass er sich nie zum Klassementfahrer entwickeln wolle; abgesehen vom Körperbau sei ihm auch die Entbehrung zu groß. Empfinden Sie es auch als Entbehrung?
Wenn man die Tour gewinnen möchte, muss man natürlich auf viele Dinge achten. Entbehrung – viele sagen Abhungern – gehört für mich nicht dazu. Wenn man die Chance hat, die Tour zu gewinnen oder ein Top-Ergebnis herauszufahren, dann fühlt sich das nicht an, als würde man auf irgendwas verzichten. Man hat ein klares Ziel, auf das man sich freut, da muss man sich halt mal drei Monate zusammenreißen. Und: Weniger essen stimmt nicht mal. Vor der Tour, als ich im Trainingslager auf Mallorca war, habe ich wirklich viel gegessen. Da hieß es: ‚Ist deine Portion nicht zu groß? Aber wenn man fünf Stunden trainiert, mit Intervallen, in der Sonne, dann kann man sich danach auch Spaghetti gönnen, bis man satt ist. Man kann natürlich nicht ein Kilo Tiramisu zum Dessert essen. Das würde ich aber jetzt nicht als Entbehrung bezeichnen.
Zur Person: Lennard Kämna
Geboren 9.9.1996 in Wedel
Größe 1,81 Meter
Gewicht 65 Kilo
Wohnort Bremen
Profi seit 2016
Teams
2015–16 Stölting
2017–19 Sunweb
ab 2020 Bora-Hansgrohe
Wichtige Erfolge
2014 Junioren-Europa- und Weltmeister Einzelzeitfahren
2015 Gesamtwertung U23-Bundesliga, U23-Europameister und U23-WM-Dritter Einzelzeitfahren
2017 Weltmeister Mannschaftszeitfahren (mit Team Sunweb), U23-WM-Zweiter Straßenrennen
Das Interview erschien in TOUR 11/2019 und wurde am 15.9.2020 online veröffentlicht