Seinen ersten Renntag 2025 hatte sich Jonas Vingegaard sicher anders vorgestellt. Er endete auf der 1. Etappe der Algarve-Rundfahrt im Chaos: Weil die Strecke am letzten Kreisverkehr vor der Zielgeraden in Lagos nicht besonders sorgsam abgesperrt war, schoss ein Großteil des Pelotons auf einer Parallelstraße am Zielkanal vorbei. Die Jury annullierte die Etappe. Die vergleichsweise kleine Rundfahrt blamierte sich gleich beim ersten Besuch des zweimaligen Tour-Siegers.
Immerhin: In den folgenden Tagen normalisierte sich der Rennbetrieb – der 28-jährige Däne bekam noch Gelegenheit, einen Beweis seiner aktuellen Stärke auf dem Weg zu einem dritten möglichen Gesamtsieg bei der Tour de France abzuliefern: Nach fünf Renntagen hatte sich der Radprofi vom Team Visma | Lease a Bike den Gesamtsieg gesichert – dank eines starken Einzelzeitfahrens mit dem Ziel auf dem steilen Alto do Malhão am Schlusstag. Es war ein Signal des aktuell stärksten Herausforderers an Tadej Pogačar (UAE Team Emirates - XRG) auf dem Weg zum Showdown im Juli in Frankreich. Der zwei Jahre jüngere Slowene hatte wenige Stunden zuvor den Gesamtsieg bei der UAE-Tour in den Vereinigten Arabischen Emiraten gefeiert. Auf den ersten Blick war es der Ausgleich im Fernduell der Dauerrivalen um den Tour-Sieg. Schließlich beginnt der Kampf um den Gesamtsieg bei der Tour de France schon mit dem ersten Rennen zwischen den beiden ungleichen Rivalen - es geht um kleine Punktsiege in den Medien und damit in der psychologischen Auseinandersetzung. Bei der Siegerehrung auf dem Aussichtsberg an der Südküste Portugals blickte Vingegaard jedenfalls dem knapp besiegten João Almeida aus dem Rennstall Pogačars tief in die Augen - also wollte er schöne Grüße ausrichten lassen an dessen Kapitän.
Die letzten fünf Jahre haben die beiden aktuell besten Rundfahrtspezialisten abwechselnd das wichtigste Radrennen der Welt dominiert: Pogačar triumphierte 2020, 2021 und im Vorjahr, Vingegaard drängte in den Jahren 2022 und 2023 an die Spitze – seit 2021 war der Kampf um Gelb stets ein Duell der beiden, mit dem Rest des Pelotons als weitgehend chancenlosen Beobachtern. Und auch in diesem Jahr kann sich kaum jemand vorstellen, dass jemand anderes als einer der Genannten in Paris triumphieren könnte. Zumal der einzige nachwachsende Konkurrent, der 25-jährige Belgier Remco Evenepoel vom Team Soudal Quick-Step, durch einen schweren Trainingsunfall schon zu Saisonbeginn aussichtslos im Hintertreffen zu sein scheint und frühestens Mitte April in den Rennbetrieb einsteigen soll. Und so werden schon früh im Jahr die beiden besten Rundfahrtspezialisten der Gegenwart bei jedem ihrer Auftritte beäugt - vom Rivalen, den Fans, den Medien.
Umso wichtiger sind frühe Erfolge. Vingegaard zeigte sich nach dem Auftritt an der portugiesischen Südküste beruhigt. “Nach den letzten Tagen habe ich ein bisschen mehr gezweifelt, aber heute habe ich mein wahres Ich gezeigt, mein wahres Niveau”, sagte er oben auf dem Alto do Malhão, wo einem die Algarve zu Füßen liegt. Vingegaard wusste: Er ist auf einem guten Weg, seinen slowenischen Dauerkonkurrenten wieder vom Thron bei der Tour de France zu stoßen. Zuvor hatte Vingegaard auf der 2. Etappe leichte Schwächen erkennen lassen, als er auf der Königsetappe zum Alto da Foia zwar zunächst das Tempo bei den Attacken mitgehen konnte, dann aber den Anschluss verlor und mit Gesamtrang sechs etwas enttäuschte. Während Pogačars Teamkollege Jan Christen und Joao Almeida einen Doppelsieg feierten – ausgerechnet. Es war ein kleiner Dämpfer.
Die Aufholjagd zum Rundfahrtsieg in Portugal war auch ein wichtiges Signal an seinen ewigen Rivalen Tadej Pogačar (Team UAE Team Emirates - XRG). Der hatte wegen der Zeitverschiebung vorgelegt, und ein paar Tausend Kilometer entfernt die UAE Tour in der Heimat seines Arbeitgebers für sich entschieden. Allerdings hatte der sieghungrige Slowene gleich zu Saisonbeginn so weitergemacht, wie er im vergangenen aufgehört hatte: Dominant, ohne eine Chance auf einen Sieg auszulassen, ohne einen Hauch einer Schwäche auf den Etappen – anders als sein Rivale. Auf der ersten Etappe war er noch im Zielsprint abgefangen worden, aber die Etappensiege bei den Bergankünften auf dem Jebel Jais und Jebel Hafeet sicherte er sich fast spielerisch leicht, ließ sich auch mal aufreizend durchs halbe Peloton sacken, um sich in Ruhe einen Überblick zu verschaffen. Am Schlusstag zeigte er am Jebel Hafeet früh allen Konkurrenten die Grenzen auf und fuhr allein davon. “Es war besser, mein eigenes Tempo zu fahren“, sagte er im Ziel. Das fast selbstredend für alle zu schnell war.
Und auch im flachen Einzelzeitfahren verlor der Tour-Sieger 2024 nur wenige Sekunden auf die Spezialisten Joshua Tarling und Stefan Bissegger. Zwischendurch leistete er sich noch eine Art Clownerie, als er mit dem Teamkollege Domen Novak auf einer Flachetappe dem Peloton auf und davon fuhr und in einer Spitzengruppe noch drei Bonussekunden für die Gesamtwertung sicherte. Später wurden sie vom Peloton gestellt - ein typischer Pogačar. Als wolle er die Langeweile auf den langen Renntagen in der arabischen Wüste bekämpfen. Die Botschaft an die Konkurrenz: Der 26-Jährige ist auch nach seinem Superjahr 2024 noch nicht satt. Im Gegenteil.
Nach wesentlich mehr harter Arbeit sah es bei Vingegaard aus. Mit einem Kraftakt auf den letzten 2,6 Kilometern und fast 10 Prozent steilen Schlussanstieg preschte er noch von Rang sechs der Gesamtwertung nach ganz vorne. Und zeigte: Es ist im neuen Jahr wieder mit ihm zu rechnen. Zum dritten Mal in Serie gewann er gleich sein Auftaktrennen. Zuletzt zweimal das spanische Etappenrennen O Gran Camiño, diesmal entschied er sich für das Jahresdebüt im Süden Portugals, wo sich traditionell Klassikerspezialisten und Klassementfahrer zum Formaufbau treffen. Prestigeträchtig war der Erfolg auch, weil der Däne in einem packenden Finale dem Portugiesen João aus Pogačars UAE-Rennstall den Gesamtsieg entriss. Was wäre das für ein Signal gewesen, wenn er sich dem Edelhelfer des Rivalen hätte beugen müssen? “Ich bin super zufrieden mit dem Sieg und meiner Leistung”, betonte der Algarve-Gesamtsieger in seiner Bilanz.
Zuvor war der Schlaks aus Dänemark schwerer in die Gänge gekommen. Auf der zweiten Etappe zeigte er sich zunächst noch gut im Bilde, musste dann aber auf dem Weg zur Bergankunft am Alto da Foia abreißen lassen und Pogačars Teamkollegen Jan Christen und Almeida auf dem Weg zum Tagessieg ziehen lassen. Erst Der knapp 20 Kilometer lange Kampf gegen die Uhr gab ihm die Sicherheit zurück, auf den letzten 2,6 Kilometern mit fast 10 Prozent Durchschnittssteigung verwies er Teamkollege Wout van Aert um elf Sekunden auf Rang zwei, preschte von Gesamtrang sechs ganz nach vorne und verwies einen weiteren Tour-Podiumsanwärter wie Primož Roglič (Red Bull-Bora-hansgrohe) deutlich in die Schranken.
Duelle, ob Rad an Rad oder nur über die Ferne, wird es zwischen den beiden erst wieder im Sommer geben. “Ich werde jetzt kein Etappenrennen bis Juni bestreiten, ich werde mich jetzt auf die Eintagesklassiker konzentrieren”, sagte “Pogi”. Den Giro, den der Slowene im Vorjahr souverän für sich entschieden hatte, lässt er in diesem Jahr aus. Zum ersten Showdown zwischen den beiden langjährigen Rivalen wird es voraussichtlich bei der Dauphiné-Rundfahrt im Juni geben, wo beide einen Start planen. Während der antrittsschnelle Allrounder Pogačar Starts bei Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt und Lüttich-Bastogne-Lüttich plant, hat der eher ausdauernde Rundfahrtspezialist bis dato keine Ambitionen bei Eintagesrennen im Jahr 2025 erkennen lassen. Er fuhr sich an der Algarve für noch stärkere Auftritte bei den nächsten Etappenrennen in Form: Paris-Nizza und Katalonien-Rundfahrt sind die nächsten Ziele.
Die Spannung steigt, wie sich das Duell entwickelt, sollten diesmal beide in absoluter Topform und ohne Verletzungspausen am 5. Juli 2025 am Start der 1. Tour-Etappe in Lille am Start stehen. Zuletzt kam jeweils einer von beiden durch Stürze geschwächt zum Grand Départ. Pogačar schwächelte 2023 im Juli, weil ihn der Sturz bei Lüttich-Bastogne-Lüttich mit Handbruch wertvolle Vorbereitungszeit kostete. Vingegaard bezeichnete es im Vorjahr als Wunder, überhaupt am Start der Grande Boucle stehen zu können, nachdem er im April bei der Baskenland-Rundfahrt in einen großen Massensturz verwickelt war und nach eigenen Worten damals um sein Leben gefürchtet hatte. Trotzdem war er keine drei Monate später als der Rest der Radsport-Welt. Diesmal wäre es ein Wunder, wenn jemand anderes als einer der beiden tatsächlich um den Triumph in Paris mitmischen könnte.