Die Staublungen arbeiten heftig. Man kann das hören. Kurze, gepresste Atemzüge. Sauerstoffinhalation mit Nachdruck. Eine kleine Gruppe von Radsportlern kämpft sich über eine der zahllosen Wellen in den Weiten der Toskana.
Der Italiener Alessandro, der wie ein riesiger Grizzlybär auf seinem Rennrad sitzt und die viel schlankeren Mitfahrer damit verblüfft, wie gut er über die Steilstücke mithält, Csaba aus Rumänien, der nach halber Distanz noch kämpferisch versucht hatte, die Mitfahrer an die nächste Gruppe heranzuziehen. Vergeblich. Sie sind Teil einer versprengten Handvoll Radsportler, die sich im Zickzack durch die Hügel schlägt.
Eine Handvoll von 6500 Frauen und Männern, die meist einen weiten Weg genommen haben, um hier bei der Plackerei an den Start rollen zu dürfen. Gekommen aus Ungarn, Polen, Irland, Großbritannien, Spanien, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Deutschland, den USA oder Brasilien, nur um sich richtig wehzutun oder – wie es der Veranstalter RCS bewirbt – Teil der “Legende” zu werden: beim Granfondo Strade Bianche die Spuren der Profis wie Mathieu van der Poel, Tom Pidcock oder Lotte Kopecky vom Profirennen am Vortag nachzufahren.
Mitmachen und nachmachen ist hier die Devise – bei einem Rennen für Profis, das vergleichsweise neu ist und zugleich irgendwie aus der Zeit gefallen scheint: Strade Bianche, eine Schleife durch die malerischen Hügel der Toskana, aber eben zu großen Teilen nicht auf gut asphaltierten Hauptstraßen, sondern auf vielen der ruppigen Schotterstraßen, die hier abgelegene Gehöfte mit den Verkehrsadern verbinden: Auf den 184 Kilometern Renndistanz bei den Profi-Männern führen 63 Kilometer über Staubpisten (mehr als ein Drittel und damit deutlich mehr als Kopfsteinpflaster-Passagen bei Paris-Roubaix), bei den Profi-Frauen und im Granfondo sind es 31,6 von knapp 140 Kilometern Strecke.
Premiere feierte die staubige Angelegenheit unter dem Namen L’Eroica 2007 – ein Spätzünder unter den World-Tour-Terminen. “Es hat innerhalb von ein paar Jahren geschafft, zu einem der wichtigsten Rennen im Kalender zu werden. Ich würde nicht sagen, dass es eines der fünf Monumente ist – aber direkt dahinter hat es seine Daseinsberechtigung”, sagt Ralph Denk, der Chef des Profirennstalls Bora-Hansgrohe.
Die Monumente, die Big Five des Profiradsports – das sind: Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt. Alles Veranstaltungen, die weit mehr als 100 Jahre alt sind und bei denen Distanzen jenseits der 250 Kilometer zu bewältigen sind. Strade Bianche ist zu jung und zu kurz geraten – aber doch ein äußerst erfolgreicher Parvenü.
Die Profis haben es lieb gewonnen. “Es ist ein kurzes, intensives Rennen, mit spektakulären Aussichten, tollen Fans direkt an der Straße, 3300 Höhenmetern auf 180 Kilometer – es ist ein sehr, sehr hartes Rennen”, sagt Zdenek Stybar morgens am Start – und strahlt dabei über das ganze Gesicht.
Er ist stolz auf seinen Sieg im Jahr 2015 – womit er sich in eine illustre Siegerliste eingetragen hat neben dem dreimaligen Sieger Fabian Cancellara, neben Julian Alaphilippe, Wout van Aert, Mathieu van der Poel und Tadej Pogacar. Das Who’s who des Profi-Radsports gibt sich hier Jahr für Jahr ein Stelldichein.
“Das ist eines der Monumente im Frauen-Radsport: Die Landschaft ist großartig, das Rennen ist hart – und fair. Es gewinnt immer die Beste”, sagt Danny Stam, der Sportliche Leiter des Frauen-Teams SD Worx. In der vergleichsweise jungen Tradition des Frauen-Radsports ist der Stellenwert noch größer – schließlich gibt es die Strade Bianche hier seit 2015 und damit länger als die Frauenversion von Paris-Roubaix.
Elizabeth Deignan, Anna van der Breggen und Annemiek van Vleuten haben sich schon als Tagesbeste im Zentrum Sienas feiern lassen – im Vorjahr Lotte Kopecky, es war ihr bis dato größter Sieg als Profi.
Die 27-jährige Belgierin sagt, bevor es losgeht: “Ich liebe die Offroad-Strecken, in jeder Kurve fühlt es sich an, als würden deine Reifen ein bisschen wegrutschen. Man muss in seine Fahrtechnik vertrauen, darf keine Angst haben.” Es klingt wie Faszination für eine Geisterbahnfahrt: je gruseliger, je angsteinflößender, je gefährlicher, desto besser.
Im Vorjahr hatte sich Julian Alaphilippe in einer Abfahrt spektakulär überschlagen – und dennoch kommt er gerne wieder, sagt morgens am Start in den Mauern der Stadtfestung: “Es ist eines meiner Lieblingsrennen.” 28 Millimeter breite Reifen, 4,5 bis 5 Bar Luftdruck, das ist die einzige Tuning-Maßname auf den “weißen Straßen”, die die Teammechaniker den Profis gönnen.
Auch wenn Strade Bianche ein vergleichsweise junges Ding im Radsport ist, entstanden als Profi-Ableger des populären Retro-Events L’Eroica – es ist eine Reise in die Vergangenheit des Radsports. In die Zeit, als die italienischen Radsportheroen Fausto Coppi und Gino Bartali bei ihren Triumphfahrten lange Staubfahnen durch die Landschaften des zerstörten Nachkriegsitalien zogen, epische Soloritte die Radsportgeschichtsbücher füllten, wie der von Coppi, der 1946 bei Mailand-San Remo schon nach der Hälfte der Distanz alle Begleiter abgeschüttelt hatte und 150 Kilometer weit allein zum Sieg fuhr. Es war eine Zeit, als im Radsport die Besten nicht von einer Leibgarde aus Teamkollegen bis auf die Zielgerade oder an den Fuß des Schlussanstiegs geschleppt wurden.
Hier in der Toskana geht es auch im 21. Jahrhundert früh im Rennen Mann gegen Mann. Schottersektor für Schottersektor fallen Helfer zurück, bis nur noch die Besten übrig bleiben – und erfolgreiche Soloritte zum Sieg gestartet werden, wenn in anderen Rennen noch gebummelt wird. Wie im Vorjahr, als sich Tadej Pogacar bereits rund 50 Kilometer vor dem Ziel auf der Piazza del Campo aus dem Staub machte.
Immerhin: Bei der Auflage 2023 sind die Rüttelpisten in den Erosionslandschaften von Crete und Chianti wohl in so gutem Zustand wie selten – für das Profi-Rennen werden sie stets mit Gradierer und Walze präpariert und sind dank des Regens in den Vortagen diesmal ein vergleichsweise solider Fahrbahn-Belag. Mathieu van der Poel klingt morgens am Start enttäuscht, als er diese Erkenntnis aus seinen Erkundungsfahrten den Journalisten preisgibt. Kein Vorteil für den amtierenden Cross-Weltmeister.
“Die größten Schwierigkeiten sind die Anstiege auf Schotter, auf denen die Reifen rutschen. Man hat keinen Grip, auch in den Abfahrten nicht”, erläutert Alberto Bettiol dennoch vor seinem Heimrennen gegenüber TOUR. “Man kann einen platten Reifen haben oder stürzen – man braucht hier eine Kombination aus Glück und guten Beinen”, sagt der Profi des Teams EF Education EasyPost, der 30 Kilometer von Siena aufgewachsen ist. Die Schlüsselstelle? “Monte Sante Marie ist entscheidend: Es ist der längste Sektor, der schwerste und der gefährlichste”, erklärt Lokalmatador Bettiol.
“Hier zeigt sich, wer nicht gewinnen wird, hier wird jeder dort hingesetzt, wo er hingehört – die Besten sind ganz vorne.” Es gibt nicht wenige im Profizirkus, die glauben, dass der 11,5 Kilometer lange, gewundene Weg zum Monte Sante Marie in der kargen Erosionslandschaft der Crete bald in einem Atemzug mit dem Carrefour de l’Arbre oder dem Oude Kwaremont genannt wird, und das letzte Steilstück Le Tolfe einen Ruf wie der Paterberg genießen wird – den Schlüsselstellen von Paris-Roubaix und Flandern-Rundfahrt.
Und gleichsam im Windschatten und in den Staubfahnen ziehen die Profis Tausende Hobbyradsportler zuerst samstags zum Zuschauen an die Strecke, tags darauf zum Selbstversuch im Granfondo, wo sich ein bunter Mix zur Leidensprüfung versammelt: Männer und Frauen, rasende Rennfahrer und eher gemütliche Gravelbiker mit Packtaschen. 6500 Starterinnen und Starter – ausverkauft. Was alle vereint: der Spaß am Leiden.
Was sie trennt: Wo die Profis ihre siegbringenden Attacken starten, geht es für Hobbyfahrer darum, krampffrei über die letzten, besonders steilen Schotterstücke zu kommen und dann noch die 16 Prozent steile Via Santa Catarina im Sattel sitzend zu bewältigen – anders als Wout van Aert, der hier 2018 als Debütant beim Profirennen Strade Bianche keine 500 Meter vom Ziel entfernt von Krämpfen geschüttelt vom Rad fiel. Ein paar Meter weiter vorn ackerte Landsmann Tiesj Benoot als Solist mit einer Maske aus Schlamm zum Sieg.
“Damals war die bisher schwerste Auflage”, erinnert sich Jo van der Auwera. Er war damals dabei beim Jedermann-Rennen, dem Granfondo. Die Fahrt durch den Regen konnte ihn nicht dauerhaft abschrecken – er kommt immer wieder. “Siena, die schöne Landschaft der Toskana, das gute Essen, ein hartes Rennen”, das ist in wenigen Worten das, was für den Flamen das Suchtpotenzial von Strade Bianche ist.
Im März 2023 ist er zum sechsten Mal dabei und hat diesmal zwölf Kumpel aus Flandern mitgebracht, alle aus dem Retro-Radteam De Eddy’s, darunter Bart De Wit, den Bürgermeister von Tremelo, der die Erzählungen der Clubkollegen so verlockend fand, dass er die Amtsgeschäfte zu Hause für ein verlängertes Wochenende ruhen ließ.
Für den Ausblick, ein Profi-Rennen hautnah zu erleben – erst samstags am Streckenrand, im dichten Zuschauerspalier, tags darauf der Selbsterfahrungstrip mit dem spektakulären Zieleinlauf auf der Piazza del Campo, einer der schönsten Stadtplätze der Welt, mit Sicherheit einer der eindrucksvollsten Zielpassagen im Radsport –, direkt vor dem mächtigen Palazzo Pubblico mit seinem mächtigen Turm. Allenfalls die Champs-Elysees oder das Velodrom in Roubaix, mit seinem allerdings viel raueren Charme, können sich mit dieser Kulisse messen.
Wieder erleben die Fans auf den Terrassen der Cafés und Restaurants Bilder, die die junge Legende des Rennens nähren. Selbst der bis zu 16 Prozent steile Schlussanstieg in der Via Santa Caterina brachte bei den Frauen keine Entscheidung: Schulter an Schulter preschen Vorjahressiegerin Kopecky und ihre niederländische Teamkollegin Demi Vollering ins Zentrum Sienas.
Es gibt ein Fotofinish zwischen den beiden Profis im Trikot von SD Worx – Vollering liegt etwas mehr als eine Reifenbreite vorn. “Wer Strade Bianche gewinnt, kann jedes Rennen gewinnen”, sagt ihr Sportlicher Leiter Danny Stam. Der Zieleinlauf in die kleine Senke, die Il Campo inmitten der historischen Altstadt bildet, ist mehr als eine Momentaufnahme.
Auch Bettiol, der schon als kleiner Bub mit seinem Vater hier Fabian Cancellara siegen sah, will Bleibendes schaffen – wie einst bei seinem Sieg bei der Flandern-Rundfahrt 2019. Er wirft den Fehdehandschuh 53 Kilometer vor dem Ziel hin, setzt die erste wichtige Attacke in der längsten Schotterpassage zum Monte Sante Marie. Und liefert letztlich nur die Vorarbeit für einen noch Stärkeren, noch Verwegeneren: Tom Pidcock.
In einer Zwischenabfahrt zeigt der britische Mountainbike-Olympiasieger und Ex-Cross-Weltmeister seine Fähigkeiten als Downhiller, schießt auf dem schwer kalkulierbaren Untergrund um Handbreite am Begleitmotorrad mit Kommentator Philippe Gilbert vorbei, schließt zu den Resten einer Ausreißergruppe auf – und ist für die Verfolger nur noch aus der Ferne zu sehen.
“Meine Erfahrung auf dem Mountainbike und im Cyclocross war ein Vorteil – man hat bei anderen gesehen, dass sie sich auf dem Schotter unwohl fühlen”, sagt er später bei der Pressekonferenz im Palazzo am Rande des malerischen Zielorts – und dabei dreht er sich auf seinem Stuhl, als würde er seine erfolgreiche Achterbahnfahrt durch die Toskana nochmals erleben. Explosivität, Biss, Ausdauer, Fahrtechnik – das Rennen Strade Bianche ist die ultimative Herausforderung für die Allrounder im Profiradsport.
“Der Beste hat gewonnen”, räumt der drittplatzierte Tiesj Benoot (Jumbo-Visma) ein, trotz sichtlicher Verärgerung über die schlecht organisierte Verfolgungsarbeit mit seinem Teamkollegen Attila Valter. Zufallssieger gelten bei Strade Bianche als ausgeschlossen.
Während die Profis schnell unter die Duschen in den Teambussen und Campingmobilen springen, ihre Sachen packen und zum nächsten Rennen weiterhetzen, sitzt Margot Lens rund 24 Stunden später spätnachmittags am Beckenrand des Brunnens in der Stadtfestung von Siena und berichtet auf ihrem Smartphone von ihrem Ritt über die Schotterstraßen.
“Wir sind Fans der Strade Bianche”, sagt die Niederländerin, die als Juristin in Mailand arbeitet und ihre Studienfreundin Eline für einen Kurztrip in die Toskana gelockt hat, um sich hier auf Gravelrädern einmal an den Stichen auf losem Untergrund zu versuchen.
Kampf gegen Schotter und Steigungsprozente statt Shoppingtour und Sightseeing in Mailand. Sie sind begeistert von der tollen Kulisse in der Altstadt von Siena, von den atemberaubenden Blicken in die Landschaft der Toskana, enttäuscht sind sie von der niedrigen Frauenquote im Jedermann-Rennen und von ihrem Idol Mathieu van der Poel: Der sei nicht fit gewesen, urteilen die beiden Radsportfans.
Aber das Wichtigste: “Keine Pferde auf der Strecke”, berichtet Lens von ihrer eigenen langen, anstrengenden Ausfahrt lachend. Denn am Vortag hätte beinahe ein wild gewordenes Ross den Erfolg ihrer Landsfrau Demi Vollering im Profi-Rennen verhindert.
Der Staub legt sich nach dem aufregenden Wochenende. Viele wollen wiederkommen. Profi Bettiol, um endlich sein Heimrennen zu gewinnen, nachdem er diesmal nach schwerem Sturz in einer asphaltierten Abfahrt mit zerbrochenem Helm und Brummschädel ausgeschieden war. Bei De Eddy’s in Belgien hat man neue Fans für die Strade Bianche gewonnen – die Reisegruppe könnte künftig noch größer werden.
Margot und Eline wollen sich das nächste Mal mehr Zeit für ihren Toskana-Trip nehmen, in Ruhe die Landschaft genießen, und sich nicht nur angestrengt beim Wellenreiten auf die schmalen Fahrspurten im Schotter konzentrieren. Die Anziehungskraft der Strade Bianche hat wieder gewirkt – trotz des staubigen Images.
Das Rennen hat sich aus der Tradition des Retro-Events L’Eroica entwickelt, das seit 1997 über die “strade bianche” (Schotterstraßen) der Toskana führt.
1. Thomas Pidcock (GBR, Ineos), 4:31:41 Std.; 2. Valentin Madouas (FRA, Groupama), +0:20 Min.; 3. Tiesj Benoot (BEL, Jumbo), +0;22; 4. Rui Costa (POR, Intermarche), +0:23; 5. Attila Valter (HUN, Jumbo), gl. Zeit;
1. Demi Vollering (NED, SD Worx), 3:50:35 Std.; 2. Lotte Kopecky (BEL), gl. Zeit; 3. Cecilie Uttrup Ludwig (DEN, FDJ), +2:01; 4. Annemiek van Vleuten (NED, Movistar), gl. Zeit; 5. Puck Pieterse (NED, Fenix-Deceuninck); ... 7. Liane Lippert (GER, Movistar), +2:27
Profirennen: www.strade-bianche.it
Granfondo/Jedermann: https://gfstradebianche.it