Es sah gut aus für den Schweizer Radsport. Gerade hatte sich nach fast zwei Tagen Regen die Sonne über dem Zürichsee ein wenig durch den wolkenverhangenen Himmel gearbeitet, sie tauchte die Stadt in ein weiches, wärmendes Licht. Die Menschen strömten im Steilstück der Zürichbergstraße zusammen, weil sie auf den Fernsehbildern gesehen hatten, dass ein Schweizer auf gutem Wege zu einem großen Erfolg bei dieser Weltmeisterschaft im eigenen Land war.
Der umjubelte junge Mann namens Jan Christen warf eingangs der letzten Runde des Straßenrennens der U23-Klasse einen verstohlenen Blick auf die große TV-Wand am Streckenrand. Er konnte sehen, dass er komfortabel vor allen Konkurrenten lag, rund 50 Sekunden voraus. Man glaubte als Augenzeuge zu erkennen, wie ein Lächeln über das Gesicht des 20-Jährigen huschte, mitten in einem der steilsten Abschnitte dieser WM-Strecke. Er war auf dem Weg, sich einen Jugendtraum zu erfüllen, dieses Rennen der U23-Klasse der Männer zum Karrieresprungbrett zu nutzen. Sein großes Talent zu vergolden.
Was Jan Christen nicht sah, nicht wusste: Der Schweizer Radsport war seit gut einer Stunde in eine Schockstarre gefallen. Eine junge Teamkollegin war den schweren Verletzungen erlegen, die sie am Vortag als Teilnehmerin des WM-Rennens der Juniorinnen erlitten hatte. Muriel Furrer, 18 Jahre alt – für sie muss die Teilnahme an der WM, nur ein paar Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, ein gewaltiges Erlebnis gewesen sein.
“Ein junges Talent, das eine große Zukunft vor sich gehabt hätte”, wie es in einer Verlautbarung des Radsport-Weltverbandes UCI hieß. Auf der Jagd nach ihren Jugendträumen bemerkten die jungen Talente um Christen mit ihrem Tunnelblick auf Rennstrecke und Konkurrenten auch nicht, dass gegen 16 Uhr, noch vor Beginn der letzten Rennrunde, Arbeiter am Streckenrand die Fahnen auf halbmast setzten. Die Livebilder im Schweizer TV-Sender SRF liefen ohne Kommentar, seit öffentlich bekannt wurde, dass Furrer ihren letzten Kampf verloren hatte. Eine Texteinblendung informierte über den Todesfall.
Es folgte ein schwieriger Spagat zwischen Jubel und Freude einerseits, sowie Trauer und Mitgefühl andererseits. Davon wusste Niklas Behrens zu berichten, der mit der Verfolgergruppe den langsamer werdenden Christen noch abgefangen hatte und nach einem mit letzter Kraft gewonnenen Zielsprint als U23-Weltmeister jubeln durfte.
“Davon habe ich geträumt!”, sagte der 20-jährige Bremer bei einer improvisierten Pressekonferenz mit deutschen Journalisten – vor den Containern für die Dopingkontrolle stehend, weil alle Pressetermine mit Sportlern an diesem Tag von der UCI gestrichen worden waren. Der junge Deutsche berichtete: “Ich habe erst gar nichts mitbekommen. Ich war voller Freude über die Ziellinie gefahren. Dann habe ich mich schon ein bisschen gewundert, warum erst alle geklatscht haben und dann plötzlich Stille war.”
Es waren die Momente zwischen Siegesrausch und Schreckensnachricht. Bei der Siegerehrung gab es keine Nationalhymne, keine Fanfaren zu hören. Und auch Behrens spürte, dass der Grat zwischen Traum und Albtraum schmal ist im rasenden Straßenradsport – zwischen Goldgewinn und fatalem “DNF” (Abkürzung für did not finish), wie es hinter dem Namen von Furrer lapidar in der Ergebnisliste stand.
“Ich hatte gemischte Gefühle bei der Siegerehrung. Ich musste an die Eltern und die Familie denken. Ich kann mich jetzt nicht so über den WM-Titel freuen, wie wenn alles gut gegangen wäre”, ließ Behrens in sein Inneres blicken. Einen Tag lang hatte die Radsportfamilie schon um das Leben der jungen Athletin gebangt. Behrens selbst war auf den nassen Straßen mehrmals bedrohlich ins Rutschen geraten. Während den deutschen Weltmeister und seine Altersgenossen alles noch unvorbereitet traf, gingen am Tag darauf die Frauen informiert, aber nicht weniger geschockt an den Start.
Es begann für das Peloton bei strömendem Regen mit einer Schweigeminute, die Rennfahrerinnen aus dem Team des Gastgeberlandes standen in der ersten Reihe. “Die Schweizerinnen weinend am Start – das will man nicht sehen”, sagte Lotte Kopecky, die am Ende als Weltmeisterin von ihren belgischen Teamkolleginnen bejubelt wurde. Es war eine starke Leistung, mit der sich Kopecky gegen die zahlenmäßig überlegenen Niederländerinnen durchsetzte. Im Zielsprint der Spitzengruppe verteidigte die 28-Jährige ihren WM-Titel – als erst sechste Frau in der Geschichte des Radsports. Aber es war ein Tag der Nachdenklichkeit, keiner für Superlative und Lobeshymnen.
“Es gab nicht eine Einzige im Peloton, die nicht an die junge Frau gedacht hat. Aber wir haben uns dann aufs Rennen konzentriert – und vielleicht war es eine Art, sie und ihr Leben zu feiern, die Tatsache, dass sie eine Radsportlerin war, die Träume und Ziele hatte”, sagte Bronzemedaillengewinnerin Elisa Longo Borghini, die um Worte rang.
Antonia Niedermaier, das aufstrebende deutsche Radsporttalent, berichtete anschließend, wie sehr sie das Rennen psychisch belastet hatte. Immerhin spürte die 21-Jährige aus Oberbayern bei den Mitfahrerinnen besondere Vorsicht während des verregneten Rennens, an dem alle mehrfach die Unfallstelle passierten. Nicht viel anders erging es Georg Zimmermann, der einen Tag später im Straßenrennen der Männer als 15. bester Deutscher wurde.
Obwohl abgekämpft, konnte er mit Genugtuung feststellen, dass er die Erfahrung gemacht hatte, beim wichtigsten Eintagesrennen des Jahres künftig noch weiter vorne mitmischen zu können. Schließlich empfand er während des Rennens, dass der spätere Silbermedaillengewinner Ben O’Connor an den Anstiegen auch nicht frischer gewirkt habe als er selbst. Aber der 26-jährige Augsburger sprach auch über unangenehme Erfahrungen: “Es war ein komisches Gefühl, auf der gleichen Strecke zu fahren. Ich wusste zum Glück nicht, wo es genau passiert ist.” Er hätte sonst lieber einen großen Bogen um die Unfallstelle gemacht.
Es begann nach dem Todessturz, dessen Umstände während der Straßen-WM nebulös blieben (siehe unten), wieder einmal eine Diskussion über die Sicherheit im Straßenradsport. Binnen eines Jahres sind der Schweizer Radprofi Gino Mäder bei der Tour de Suisse 2023 und der Norweger André Drege bei der Österreich-Rundfahrt im vergangenen Juli ums Leben gekommen. Dazu kam der schwere Rennunfall bei der Baskenland-Rundfahrt, bei dem Jonas Vingegaard, Primoz Roglic und Remco Evenepoel schwer verletzt wurden.
Simon Geschke, der in Zürich seine letzte WM bestritt, betonte als Erfahrenster im deutschen Team, dass sich in Sachen Sicherheit in den vergangenen Jahren vieles verbessert habe und die Profis und ihre Anliegen auf offene Ohren gestoßen seien. Aber er sagte auch, dass sich nicht alle Gefahren ausschließen ließen. Andere, wie die deutsche Nationalfahrerin Franziska Koch, lobten, dass die Veranstalter in Zürich vor dem Rennen noch viel Straßenmöblierung wie Verkehrsinseln von der Rennstrecke entfernt und besonders viel für die Sicherheit getan hätten.
Kritik an den Veranstaltern, an der Strecke oder der Sicherheit war aus dem Peloton nicht zu hören. Weltmeister Tadej Pogacar, bei dem auf dem Rennrad immer alles so leicht und gleichzeitig verwegen aussieht, mahnte indes: “Wir betreiben einen gefährlichen Sport.” Selten war bei einer Weltmeisterschaft deutlicher zu sehen, wie schmal der Grat im Radsport ist zwischen einer spektakulären Triumphfahrt wie dem Solo des Slowenen auf den Straßen rund um Zürich und tödlicher Tragik. Der Regenbogen als WM-Symbol tauchte in Zürich sinnbildlich in ein Tal aus Tränen.
Die Straßen-WM in Zürich wurde vom tödlichen Unfall von Muriel Furrer überschattet. Die 18-jährige Schweizerin war während des Rennens der Juniorinnen gestürzt und am Tag darauf ihren schweren Kopfverletzungen im Züricher Universitätsspital erlegen. Was genau passiert war, blieb während der WM im Dunkeln. Die zuständige Kantonspolizei Zürich beantwortete keine Presseanfragen. Die Behörden hatten die Kommunikation dem Radsportweltverband UCI und dem lokalen OK überlassen. Die Funktionäre blieben tagelang brauchbare Antworten schuldig – trotz vieler Fragen in mehreren Pressekonferenzen. Recherchen von Schweizer Medien legten den Schluss nahe, dass die schwerstverletzte Radsportlerin extrem spät gefunden und erstversorgt wurde.
Der Sturz in einer kurvigen Abfahrt in einem Waldstück bei Küsnacht war auf TV-Bildern nicht zu sehen und offenbar von niemanden während des Rennens bemerkt beziehungsweise gemeldet worden. Als das Rennen zum zweiten Mal die Unfallstelle passierte, waren im TV keine Rettungsmaßnahmen zu sehen, erst später am Rande eines folgenden Rennens der Para-Radsportler.
Erst rund zwei Stunden nach dem vermuteten Unfallzeitpunkt startete ein Rettungshubschrauber an die Unfallstelle. Für die folgenden Rennen wurde die Unfallstelle mit Matten abgesichert und mit Warnhinweisen versehen. Furrer zählte vor allem im Cyclocross und auf dem Mountainbike zur erweiterten Weltspitze in der U19-Klasse und lebte rund zehn Kilometer von der Unfallstelle entfernt. Die Öffentlichkeit soll erst nach Abschluss der Ermittlungen durch die Oberstaatsanwaltschaft in Zürich informiert werden.
Frauen (154,1km/2250 Höhenmeter)
Sonderwertung U23
Männer (273,9 km/4300 Höhenmeter)
U23