Spektakuläre TitelkämpfeRückblick auf die Rad-WM in Glasgow

Tim Farin

 · 26.12.2023

Bei der Rad-WM in Glasgow gab es viele spektakuläre Titelkämpfe.
Foto: Gruber Images
Die internationalen Titelkämpfe lieferten bei der Rad-WM in Glasgow großes Spektakel. Der Weltverband beförderte den Sport auf ein neues Level – und ein Fahrer demonstrierte auf der Weltbühne seine Ausnahmestellung.

Rad-WM in Glasgow

Es war ein Experiment, ein Eingriff in den globalen Kalender, ein gewagtes Spiel. Am Ende aber war es ein Festival des Radsports, das in Erinnerung bleibt. Das “biggest
cycling event ever”, wie der Radsport-Weltverband UCI das Projekt betitelte, brachte 13 Weltmeisterschaften nach Glasgow und ins Umland der schottischen Großstadt. 653 Medaillen gingen an erfolgreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer, etwa 8.000 Athleten waren im Einsatz. BMX, Radball, Bahnradsport – diese WM brachte an elf Tagen eine Leistungsschau (fast) all dessen, was es an Sport auf einem Fahrrad gibt. Es war die erste “Super-WM”. Fortan sollen alle vier Jahre solche Weltmeisterschaften im XXL-Format stattfinden. Allerdings war diese WM auch ein Schritt zurück, nämlich zu einer alten Terminplanung: Bis 1995 waren die Straßen- und Bahn-Titel im August, spätestens Anfang September ausgefahren worden.

Für die Zuschauer in den Straßen Glasgows und an den Fernsehschirmen war dieses Timing ein Segen. Denn die Wettbewerbe bei den Rennrad-Events brannten sich in Erinnerung. Die sportliche Leistungsfähigkeit der Besten unter den Besten war so kurz nach der Tour de France deutlich größer als sonst, wenn die Rad-WM im Herbst im ­Kalender steht. Das galt sowohl für die Frauen, die nach Vuelta, Giro und Tour einen weiteren Höhepunkt in Schottland erlebten, als auch für die Männer, deren Top-Fahrer auf die Form ihrer drei Wochen in Frankreich aufbauten.

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Klassikerterrain in Schottlands Westen

Auf den steilen Hügeln und vielen Kurven in Glasgow war es die Belgierin Lotte Kopecky, die eine starke Saison veredelte. Die Siegerin der Flandern-Rundfahrt hatte schon bei der Tour de France Femmes das Gelbe Trikot getragen, vom ersten Tag bis zur brutalen Anfahrt auf den Tourmalet. Sie gehörte folgerichtig auch in Schottland zu den ­Favoritinnen, zumal der Parcours ihr merklich lag. Auf der Schlussrunde gelang ihr eine mächtige Attacke, mit der sie Demi Vollering auf Abstand brachte. Vollering, sonst Kopeckys Team-Kollegin bei SD Worx, hatte kurz zuvor die Frauen-Tour gewonnen. Hier aber, auf dem klassikerähnlichen Terrain in Schottlands Westen, war die Flämin überlegen. “Für mich ist es einfach verrückt, dreimal in sieben Tagen Weltmeisterin zu werden”, sagte Kopecky. Sie hatte die Rad-WM auch auf der Holzbahn perfekt genutzt. Mit Siegen im Punktefahren und im Ausscheidungsfahren hatte sie bereits Schlagzeilen in ihrer Heimat geschrieben. “Belgien ist ein großartiges Rennradland, aber im Frauenradsport mussten wir noch eine Lücke schließen”, sagte sie nach ihrem dritten Titelgewinn.

In ihrem Element: Lotte Kopecky (Zweite von rechts) hat auf den steilen Straßen Glasgows mehr Punch als alle anderen. Sie wird erste belgische Straßen-Weltmeisterin seit 50 Jahren.Foto: WittersIn ihrem Element: Lotte Kopecky (Zweite von rechts) hat auf den steilen Straßen Glasgows mehr Punch als alle anderen. Sie wird erste belgische Straßen-Weltmeisterin seit 50 Jahren.

Mehr als eine Million Zuschauer kamen zu den Entscheidungen der diversen Spielarten des Radsports – ein großer Erfolg für UCI-Präsident David Lappartient. “Diese Weltmeisterschaften haben unseren Sport in neue Höhen geführt”, sagte der Funktionär, der für eine Modernisierung der vielen Disziplinen steht. Die Idee zündete, nie zuvor schalteten sich so viele Menschen bei Radsport-Titelkämpfen an Fernsehgeräten zu. Der ­integrative Ansatz der Rad-WM überzeugte. Zum Auftakt etwa sahen die Zuschauer Bilder der paralympischen Radsportler im Sir Chris Hoy Velodrome, der Radbahn von Glasgow. Die Entscheidungen der Paralympics-Athleten waren fest verankert im gleichen Programm wie die olympischen Disziplinen. “Wir haben den gleichen Wert wie die olympischen Sportler. Wir wurden integriert”, sagte Maike Hausberger, die zweimal Gold und dreimal Bronze gewann. Sie war damit Deutschlands erfolgreichste Radsportlerin dieser WM.

Rad-WM in Glasgow: Attraktiv für Aktivisten

Die Strahlkraft vor allem eines Wettbewerbs zog auch politische Aktivisten an. Die Gruppe “This is Rigged” legte in der Nähe der Stadt Falkirk das Straßenrennen der Männer lahm. Die Demonstranten nutzten die Chance, gegen den Abbau fossiler Rohstoffe vor der schottischen Küste zu protestieren – eine Aktion im Kontext eines kontroversen Sponsorings beim britischen Radsportverband. Während die meisten Sportler eine Dreiviertelstunde bei ihren Teamfahrzeugen warteten und sich verpflegten, bekamen manche Anwohner Besuch. Auch Mathieu van der Poel nutzte die Chance für eine Toilettenpause. Gut so, denn in der entscheidenden Phase zeigte er sich ohne Ballast in einem Rennen, an das man sich noch lange erinnern wird. Schon 100 Kilometer vor dem Finale war das Peloton drastisch geschrumpft, nur 51 Starter erreichten das Ziel. An der Spitze machte van der Poel so viel Druck, dass ihm keiner folgen konnte. Damit gewann er erneut ein WM-Duell gegen den Rivalen Wout van Aert. Der Belgier kam 1:37 Minuten nach van der Poel ins Ziel.

Van der Poel stürzt 17 Kilometer vor dem Ziel

Besonders in Erinnerung bleibt van der Poels Crash 17 Kilometer vor dem Ziel. In einer Rechtskurve stürzte er so unglücklich, dass Verschluss und Pedalplatte am rechten Schuh beschädigt waren. Doch auch mit angeschlagenem Equipment brachte der Niederländer seinen Sieg ins Ziel. “Das vollendet meiner Ansicht nach beinahe meine Karriere, für mich ist es vielleicht das größte Rennen auf der Straße”, so van der Poel im Anschluss. Knapp eine Woche später stürzte er erneut. Damit endete beim Mountain-­Bike-Cross-Country-Rennen seine Jagd auf eine weitere Medaille.

Erfolgsspur: Auf dem rechten Oberschenkel zeigt sich noch das Profil jenes Asphalts, auf den Mathieu van der Poel kurz vor seinem WM-Triumph stürzte.Foto: Gruber ImagesErfolgsspur: Auf dem rechten Oberschenkel zeigt sich noch das Profil jenes Asphalts, auf den Mathieu van der Poel kurz vor seinem WM-Triumph stürzte.

Interview mit Antonia Niedermaier

Ich fühle mich noch unsicher

Tim Farin hat mit der frisch gebackenen Weltmeisterin des U23-Zeitfahrens gesprochen. Lesen Sie hier ihre Antworten im Interview.

TOUR: Ihr Weltmeistertitel galt als “überraschend” – wie überrascht waren Sie selbst?

Antonia Niedermaier: Sehr. Ich habe mich den ganzen Tag nicht gut gefühlt. In der ersten Hälfte des Rennens dachte ich: Das wird nix. Und dann wurde es noch mal besser.

TOUR: Was hat sich durch den WM-Titel geändert?

Antonia Niedermaier: Eigentlich nicht viel. Klar, ist es eine Ehre, dieses Trikot tragen zu dürfen. Klar, ist es ein tolles Ergebnis. Die Medien sind ein bisschen aufmerksam geworden, das Umfeld ist megastolz. Aber es gibt mir nicht das Recht, mich darauf auszuruhen. Ich muss weiter hart arbeiten und kann mich noch viel weiterentwickeln.

Antonia Niedermaier, zuerst Skibergsteigerin, holt Gold im U23-Zeitfahren.Foto: Getty ImagesAntonia Niedermaier, zuerst Skibergsteigerin, holt Gold im U23-Zeitfahren.

TOUR: Sie sind Quereinsteigerin. Wie groß ist Ihr Rückstand auf die “alten Hasen” im Straßenradsport?

Antonia Niedermaier: Ziemlich groß. Ich tue mich extrem schwer, so nah mit anderen im Pulk zu fahren. Da fühle ich mich manchmal unsicher oder unwohl. Aber das wird von Rennen zu Rennen besser. Ich kann Rennen auch noch nicht ganz so gut lesen wie die Alteinge­sessenen. Aber ich lerne und bin in einem guten Team aufgehoben, wo sie mir mit konstruktiver Kritik und Lob wirklich weiterhelfen.

TOUR: Sie haben beim Giro eine Demonstration Ihres ­Potenzials gezeigt. Zeigt das schon in Richtung künftige Rundfahrtsiegerin?

Antonia Niedermaier: Der Giro war ein Highlight, mit dem Etappensieg hatte ich auch nicht gerechnet. Ich denke, dass ich eher eine Rundfahrerin bin. Ich kann gut Zeitfahren und am Berg fahren. Und das taugt mir auch, weil ich immer ein bisschen Zeit brauche, um in Rennen reinzukommen.

Bahn-WM: die Gastgeber jubeln im Oval

Bei der Bahn-WM im schottischen Glasgow feiert UK Cycling viele Erfolge. Aber auch die deutschen Frauen überzeugen neuerlich.

Fünf Goldmedaillen, dreimal Silber und einmal Bronze – für die Gastgeber aus Großbritannien spielte sich bei den Bahnrad-Wettbewerben im Sir Chris Hoy Velodrome von Glasgow genau das ab, was seit Jahren angepeilt worden war. Dabei hatten die Wettkämpfe mit einer riesigen Enttäuschung für die Gastgebernation begonnen. Das Team der Vierer-Mannschaftsverfolgung verabschiedete sich nach einem Crash schon am ersten Tag aus dem Geschehen. Aber es folgte eine wahre Medaillenflut, die sich auch bei den Paracycling-­Wettbewerben spiegelte. Bei den Titelkämpfen der Menschen mit Handicap holten britische Athleten ebenfalls sechs Goldmedaillen und ließen Großbritannien zur erfolgreichsten Nation unter den Teilnehmern der Super-WM 2023 avancieren.

Epizentrum:: Während der Wettbewerbe in Glasgow bot das Velodrom täglich 4.000 Zuschauern auf der 250-Meter-Bahn rasante Wettkämpfe.Foto: DPA Picture AllianceEpizentrum:: Während der Wettbewerbe in Glasgow bot das Velodrom täglich 4.000 Zuschauern auf der 250-Meter-Bahn rasante Wettkämpfe.

Für die deutschen Bahnradsportler war die Bilanz bei der WM etwas schlechter als erhofft. Im Sprint-Finale der Frauen verpasste Lea Sophie Friedrich den Weltmeistertitel nach zwei knappen Niederlagen gegen Emma Finucane aus Großbritannien. Allerdings blieb das eine eher kleine Enttäuschung, denn besonders die deutschen Frauen lieferten für den Bund Deutscher Radfahrer erneut stark ab. Mit Gold und Weltrekord im Team­sprint und im Zeitfahren über 500 Meter für Emma Hinze war der Kader sehr erfolgreich. Bei den Para-Radsportlern holte das deutsche Team sogar 15 Medaillen. Das brachte Platz fünf in der Nationenwertung ein.

Dreier-Gold: Die deutschen Sprinterinnen Pauline Grabosch, Emma Hinze und Lea Sophie Friedrich beweisen auch in Schottland ihre Klasse und gewinnen Gold vor Großbritannien.Foto: DPA Picture AllianceDreier-Gold: Die deutschen Sprinterinnen Pauline Grabosch, Emma Hinze und Lea Sophie Friedrich beweisen auch in Schottland ihre Klasse und gewinnen Gold vor Großbritannien.

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