Eine Länge von 271,1 Kilometern, gespickt mit rund 3500 Höhenmetern – der Kurs des WM-Straßenrennens in Glasgow kommt den Klassikerspezialisten und sprintstarken Allroundern entgegen. Das Finale wird auf einem 14,3 Kilometer langen Rundkurs ausgetragen, der viele kleine Anstiege beinhaltet und jeweils 1,5 Kilometer vor dem Ziel hinauf zur Montrose Street führt – ein Stich von 200 Metern mit bis zu 10,8 Prozent Steigung. Zehn Fahrer, die beim Rennen im Glasgow am Sonntag Chancen auf den WM-Titel haben.
Als Titelverteidiger gehört Evenepeol erneut zu den großen WM-Favoriten. Der Kurs der diesjährigen Austragung in Glasgow ist dem aus dem Vorjahr im australischen Wollongong nicht unähnlich. Im Vorjahr sicherte sich Evenepoel mit einem Soloritt auf den letzten 25 Kilometern den Titel, eine ähnliche Taktik dürfte auch dieses Mal am erfolgversprechendsten für den Belgier sein. Denn bei einer Sprintentscheidung einer größeren Gruppe gibt es stärkere Fahrer als ihn. Entsprechend sind von Evenepoel ein offensiver Auftritt und Angriffe zu erwarten. Dass seine Form stimmt, bewies der 23-Jährige am vergangenen Wochenende mit seinem dritten Sieg in Serie bei der Clasica San Sebastian, bei der er im Zweiersprint den Spanier Pello Bilbao auf Platz zwei verwies.
Die Belgier besitzen jedoch mehrere Optionen auf den WM-Titel. Ein weiterer Kandidat ist van Aert. Die Tour de France lief für den Jumbo-Visma-Profi insgesamt eher unglücklich, bei der er vier Top-drei-Ergebnisse holte, aber ohne Etappensieg blieb. Die nötige Form bringt der 28-Jährige trotzdem mit. Und da seine Saison bislang insgesamt den ganz großen Erfolg vermisst, dürfte van Aert für die Rad-WM 2023 in Glasgow eigene Ambitionen anmelden. Der kurvenreiche Rundkurs mit den kurzen Anstiegen ist für einen dreimaligen Cross-Weltmeister zumindest ideal. Nationaltrainer Sven Vanthourenhout steht somit vor der Aufgabe, wie er die Kräfte von Evenepoel und van Aert bestmöglich kombiniert. Bei der Heim-WM 2021 in Flandern ging das bereits schief, Belgien blieb damals ohne Medaille und um die taktischen Rollen von van Aert und Evenepoel gab es anschließend öffentliche Debatten. Womöglich ist van Aert in Glasgow die reaktive Karte im belgischen Team, die Angriffen folgt, anstatt sie selbst zu initiieren. Im Finale kann van Aert zudem auf seine Endschnelligkeit setzen. Bei der WM im Vorjahr kam er im Sprint der Verfolgergruppe allerdings nur auf Platz vier, 2020 gewann van Aert Silber im Imola.
Einen dritten Titelanwärter besitzen die Belgier mit Philipsen. Bei der Tour de France etablierte sich der 25-Jährige mit vier Etappensiegen als derzeit bester Sprinter im Peloton – und beim Kurs in Glasgow ist eine Sprintentscheidung eines reduzierten Feldes nicht ausgeschlossen. Dafür müsste das Rennen allerdings sehr konservativ gefahren werden, was ungewöhnlich für eine Rad-WM und der aktuellen Rennmentalität im Radsport wäre. Für Philipsen spricht, dass er zu den kletterstärkeren Sprintern gehört und bei moderater Fahrweise die vielen kleinen Stiche überstehen könnte. Dass ihm harte, selektive Rennen liegen, bewies er im Frühjahr zudem mit Platz zwei bei Paris-Roubaix. Gegen den Sprinter spricht: Sein eigenes Team dürfte für Titelverteidiger Evenepeol das Rennen schwer machen wollen – zu Philipsens Nachteil. Viele Attacken können ein offensives Rennen irgendwann aber auch neutralisieren. Dann könnte der Sprinter bei den Belgiern zum Zug kommen.
Was für Philipsen gilt, trifft ebenfalls aus Pedersen zu: Der 27-Jährige gehört zu den stärkeren Sprintern am Berg und hat auf dem Kurs in Glasgow durchaus Chancen auf den WM-Titel. Insbesondere nach langen, harten Renntagen besitzt der Klassikerspezialist zumeist noch mehr Sprintpower als seine Konkurrenten. Je nach Rennsituation steht ihm zudem eine starke Mannschaft zur Verfügung, die versuchen wird, Angreifer wieder einzuholen. Seine Form bewies Pedersen im Juli mit einem Etappensieg bei der Tour de France. Allerdings dürften zu viele Attacken von Fahrern wie Remco Evenepoel, Tadej Pogacar und Co. den Dänen irgendwann an seine Grenzen bringen. Ein Vorteil könnte das Wetter sein: Regen ist vorhergesagt, dazu kühle Temperaturen, Bedingungen, mit denen Pedersen weit besser als viele seiner Kontrahenten zurechtkommt. 2019 holte er sich im strömenden Regen in Yorkshire im Sprint gegen Matteo Trentin und Stefan Küng schon einmal das Regenbogentrikot.
Eine weiterer Kandidat im dänischen Team ist Asgreen. In den vergangenen eineinhalb Jahre warfen ihn immer wieder Stürze, Corona-Erkrankungen sowie ein Erschöpfungssyndrom zurück. Im Juli bei der Tour de France meldete sich Asgreen dann mit einem Etappensieg zurück. Der 28-Jährige scheint wieder an sein altes Leistungsniveau heranzureichen und ist damit ein ernstzunehmender Anwärter für die Rad-WM 2023 in Glasgow – sowohl im Straßenrennen als auch im Einzelzeitfahren. Während Pedersen der Mann für eine Sprintentscheidung ist, dürfte Asgreen bei den Dänen die Freiheiten für Gruppen und eigene Angriffe bekommen. Den Motor für längere Soloritte besitzt Asgreen zweifellos, Sprints aus kleinen Gruppen kann er ebenfalls gewinnen. Und dass er harte Rennen für sich entscheiden kann, zeigt sein Sieg bei der Flandern-Rundfahrt 2021. Damals verwies er mit einem cleveren Sprint Mathieu van der Poel auf Platz zwei.
Seinen Start bei der Rad-WM 2023 in Glasgow ließ Pogacar nach der Tour de France zunächst offen. Er sei “erschöpft”, teilte der Slowene mit, und sagte einige Nach-Tour-Kriterien sowie die Europameisterschaft im Bergzeitfahren ab. Spekulationen über eine längere Pause beendete Pogacar jedoch zu Beginn dieser Woche, als er seine Teilnahme sowohl am Straßenrennen als auch im Zeitfahren bestätigte. Mit seiner Klasse zählt Pogacar am Sonntag gewiss zum engeren Favoritenkreis. Der zweifache Tour-Sieger hat sich längst als Eintagesspezialist etabliert, in dieser Saison gewann er unter anderem die Flandern-Rundfahrt und das Amstel Gold Race. Für den WM-Sieg braucht Pogacar jedoch ein selektives Rennen, entsprechend ist der 24-Jährige ein Kandidat für Angriffe an der Montrose Street. Zwar ist Pogacar mit guter Endschnelligkeit aus kleinen Gruppen nicht zu unterschätzen, das Format von Wout van Aert besitzt er allerdings nicht. Pogacar muss die schnelleren Leute in Glasgow abschütteln.
Hinter dem Niederländer liegt eine vergleichsweise unauffällige Tour de France, bei der er vordergründig als Anfahrer für Jasper Philipsen auffiel. Daher sind zumindest leichte Bedenken an seiner Form angebracht. Von seinen Fähigkeiten her gilt van der Poel aber ohne Zweifel zu den Favoriten in Glasgow. Insbesondere, da die Strecke seinen Stärken entgegenkommt: Ein verwinkelter Rundkurs, viele Beschleunigungen, dazu der kurze, steile Anstieg kurz vor dem Ziel zur Montrose Street – Bedingungen, die van der Poel als weltklasse Crosser liegen sollten. Mit Dylan van Baarle kann er zudem auf einen starken Co-Kapitän setzen. Und bleibt eine größere Selektion aus, haben die Niederlande mit Olav Kooij zusätzlich einen aussichtsreichen Sprinter im Kader, der in der Vorbereitung eine Sprintetappe der Polen-Rundfahrt gewann.
Inzwischen liegt Kwiatkowskis WM-Sieg in Ponferrada neun Jahre zurück. Und in Glasgow zählt der 33-Jährige gewiss nicht zu den ganz großen Favoriten. Auf den Zettel sollte man den Polen dennoch haben. An Rennerfahrung kommt ohnehin kaum jemand an Kwiatkowski heran, der in seiner Karriere ebenfalls Mailand-San-Remo und je zweimal das Amstel Gold Race und die Strade Bianche gewonnen hat. Zudem vereint er alle Qualitäten, die die diesjährige WM-Strecke erfordert: Fahrerisches Geschick, Spritzigkeit am Berg und Endschnelligkeit aus kleineren Gruppen. Eine gute Form demonstrierte Kwiatkowski im Juli mit einem Etappensieg bei der Tour de France und zuletzt mit zwei dritten Etappenplätzen bei der Polen-Rundfahrt.
Der Ire war die Entdeckung des Frühjahres und sicherte sich neben einem Etappensieg beim Giro d’Italia Platz zwei beim Amstel Gold Race und Rang vier bei Lüttich-Bastogne-Lüttich – Ergebnisse, die Healy auch auf dem WM-Kurs in Glasgow zu einem aussichtsreichen Kandidaten machen. Nach einer Rennpause meldete sich der aktuelle irische Straßenmeister Ende Juli mit Platz zwei bei der Prueba Villafranca - Ordiziako Klasika zurück. Chancen auf eine Medaille hat der 22-Jährige allerdings nur, wenn das Feld im finalen Rundkurs auseinanderfliegt, entsprechend dürfte Healy ein Interesse an einem offensiven Rennen haben. Nachteil: In der Schlussphase dürfte es Healy an Unterstützung aus der irischen Mannschaft fehlen.
Bei der Tour de France standen für Laporte vordergründig Helferdienste beim Gesamtsieg von Jonas Vingegaard an, für das WM-Straßenrennen dürfte er jedoch der aussichtsreichste Kandidat der Franzosen für eine Medaille sein. Denn Julian Alaphilippe fehlt offensichtlich aktuell die Klasse, die ihm 2019 und 2020 zweimal die WM gewinnen ließ. Im Vorjahr holte Laporte auf einem vergleichbaren Kurs im Sprint der Verfolgergruppe bereits WM-Silber, ein ähnliches Szenario scheint auch in Glasgow möglich. Dass Laporte allerdings auch in einem harten, selektiven Rennen bestehen kann, zeigen seine Ergebnisse aus dem Frühjahr: In dieser Saison gewann er Gent-Wevelgem und Dwars Door Vlaanderen und war einer der großen Aktivposten der flämischen Klassikersaison. Eine Co-Kapitänsrolle könnte dem Französischen Meister Valentin Madouas zukommen.