Thomas Goldmann
· 06.04.2024
* Tim Wellens, Joshua Tarling, Mikkel Bjerg, Max Walscheid, Oier Lazkano, Laurence Pithie, Thomas Pidcock
** Christophe Laporte, Ben Turner, Jonathan Milan
*** John Degenkolb, Dylan van Baarle, Stefan Küng
**** Nils Politt, Mads Pedersen, Jasper Philipsen
***** Mathieu van der Poel
* Je mehr Sterne ein Fahrer erhält, desto stärker ist er einzuschätzen
Nachdem sich Mathieu van der Poel (Alpecin-Deceuninck) mit seinem dritten Triumph bei der Flandern-Rundfahrt zum Rekordsieger aufgeschwungen hat - sechs andere Fahrer schafften das ebenfalls - will der Niederländer das legendäre Frühjahrsklassiker-Double bei Paris-Roubaix perfekt machen. Dieses Jahr geht er mal wieder als Top-Favorit an den Start - allerdings nicht so deutlich wie in Flandern. Das liegt daran, dass es auf dem Weg nach Roubaix keine Berge wie in Flandern gibt, es ein taktischeres Rennen ist in Frankreich und Glück eine viel größere Rolle spielt als noch eine Woche zuvor.
Im Duell Mann gegen Mann dürfte es schwer werden, gegen van der Poel zu bestehen. Es gibt allerdings einige Kandidaten, denen das zuzutrauen ist. Allen voran Mads Pedersen (Lidl-Trek) und Nils Politt (UAE Team Emirates). Pedersen hat sich bei der Flandern-Rundfahrt früh exponiert, zu früh, wie sich letztlich zeigte. Sein Ausreißversuch ging nach hinten los und der Däne war am Ende chancenlos. Hinzu kam, dass Pedersen noch von seinen Sturzverletzungen von Dwars door Vlaanderen gehandicapt war, wo auch Wout van Aert (Visma | Lease a Bike) zu Fall kam.
Bei Paris-Roubaix stehen die Chancen von Pedersen besser. Einerseits dürfte er seine Verletzungen nicht mehr so stark spüren, andererseits ist er auf dem flachen Parcours in Nordfrankreich stärker einzuschätzen als an den Hügeln rund um Oudenaarde. Gleiches gilt für seinen Teamkollegen Jonathan Milan. Der italienische Bahn- und Sprintspezialist spielte in Flandern keine Rolle. Bei zwei Teilnahmen hat er zwar zweimal vorzeitig Paris-Roubaix aufgegeben. Seine Top-Leistung bei Gent-Wevelgem, als er van der Poel piesackte und Pedersen den Weg zum Sieg bereitete, und seine zwei Etappensiege bei Tirreno-Adriatico verschaffen ihm einen Platz im TOUR-Favoritenfeld.
Ähnlich wie bei Pedersen und Milan sieht das bei Politt aus. Paris-Roubaix liegt dem Deutschen wesentlich besser als die kurzen explosiven Steigungen in der Vorwoche. Nichtsdestotrotz fuhr Politt dort bereits als Dritter aufs Podium. Das zeigt, wie gut der Kölner aktuell in Schuss ist. 2019 war Politt schon Zweiter bei Paris-Roubaix, womit er immer noch etwas hadert, wie er im TOUR-Interview verriet. Wenn Politt ohne Defekte und andere größere Malheure durchkommt, ist er einer der ersten Kandidaten, die van der Poel fürchten muss. Seine UAE-Mannschaft hat mit Tim Wellens und Mikkel Bjerg zudem zwei Fahrer in ihren Reihen, die auch in Roubaix in die vorderen Ränge fahren können.
Aber auch Alpecin-Deceuninck befindet sich in der luxuriösen Situation mit Jasper Philipsen einen weiteren Favoriten in den eigenen Reihen zu haben. Der Belgier sprintete 2023 bereits auf Rang zwei auf der Radrennbahn in Roubaix und machte somit den Doppelsieg für Alpecin-Deceuninck perfekt. Eine Option wäre es, die bewährte Taktik anzuwenden, die bei Mailand-San Remo zum Erfolg geführt hat: Van der Poel zieht die Aufmerksamkeit der Konkurrenz auf sich und Philipsen holt am Ende den Sieg.
Damit hat Alpecin-Deceuninck nominell sogar die stärkeren Fahrer als Visma | Lease a Bike. Die Niederländer gehen stark dezimiert an den Start. Neben dem Ausfall von Wout van Aert muss das Team auch kurzfristig auf Matteo Jorgenson verzichten. Dylan van Baarle (Sieger von Paris-Roubaix 2022) und Christophe Laporte zählen zwar immer noch zum Kreis der Favoriten, sind aber nicht im obersten Regal zu finden. Beide waren zuletzt gesundheitlich angeschlagen. Van Baarle war bereits bei der Flandern-Rundfahrt wieder im Einsatz (Rang 83), Laporte hat seit Mailand-San Remo Mitte März kein Rennen mehr bestritten.
Gut in Form ist dagegen Stefan Küng (Groupama-FDJ). Der Schweizer hatte bei der Flandern-Rundfahrt Pech mit einem Sturz und verpasste eine Top-Platzierung. Der 30-Jährige ist enorm tempofest und kommt gut übers Kopfsteinpflaster. Einzig im Sprint muss er Abstriche machen gegen Fahrer wie Politt, Pedersen, Philipsen oder van der Poel. Trotzdem hofft er nach Rang drei 2022 und Platz fünf 2023 dieses Jahr auf den ganz großen Wurf.
Noch eine Rechnung offen mit Paris-Roubaix hat John Degenkolb (Team dsm-firmenich PostNL) - obwohl er das Rennen 2015 gewann. Im Vorjahr fuhr der Deutsche lange in der Favoritengruppe mit, ein Sturz brachte ihn dann aber um alle Siegchancen. Es gibt wohl kaum einen anderen Fahrer, der die Königin der Klassiker so gut kennt und so gut lesen kann wie Degenkolb. Gegenüber TOUR hat der 35-Jährige zuletzt betont, dass er noch das Zeug hat, bei den großen Rennen vorne mitzufahren - zuzutrauen ist es ihm. Allerdings geht Degenkolb mit einem kleinen Handicap an den Start: einem dicken Knie, das er sich bei der Streckenbesichtigung bei einem Sturz zugezogen hat.
Ein weiterer Deutscher, der bei Paris-Roubaix gut zurechtkommt, ist Max Walscheid (Team Jayco-AlUla). Der 30-Jährige fuhr 2023 ein sehr gutes Rennen und erreichte das Ziel als Achter. Rang 20 bei der Flandern-Rundfahrt spricht dafür, dass die Form zum richtigen Zeitpunkt bei Walscheid ihren Höhepunkt erreichen könnte.
Ähnlich tempofest wie Walscheid ist der Spanier Oier Lazkano (Movistar). Der 24-Jährige wurde Dritter bei Kuurne-Brüssel-Kuurne und mischte auch bei der Ronde am letzten Wochenende bis zum Koppenberg vorne mit. In Roubaix könnte mehr für ihn drin sein.
Neben Lazkano ist Laurence Pithie (Groupama-FDJ) eine der Entdeckungen der Frühjahrsklassiker 2024. Der 21-jährige Neuseeländer hielt oft lange vorne mit, das ganz große Resultat fehlt noch - Rang 15 bei Mailand-San Remo und Platz 26 bei Gent-Wevelgem, wo er lange als einziger mit Pedersen und van der Poel mithielt. Vielleicht gelingt ihm bei Paris-Roubaix der ganz große Wurf.
Zum Schluss blicken wir noch auf das Team Ineos Grenadiers. Die Briten haben mit der Last-Minute-Nominierung von Thomas Pidcock überrascht. Der Alleskönner war bei der Besichtigung des Auftaktzeitfahrens der Baskenland-Rundfahrt gestürzt und gab die Rundfahrt schon vor dem Start auf. Seine Verletzungen waren aber doch nicht so gravierend, wie zunächst befürchtet, sodass sich Pidcock kurzfristig für einen Start bei Paris-Roubaix entschieden hat. Es ist der erste Start des 24-Jährigen bei Paris-Roubaix. Der Mountainbike-Olympiasieger ist somit gewissermaßen eine Wundertüte. Zuzutrauen ist ihm mit seinen Fahrkünsten so ziemlich alles.
Mit Joshua Tarling und Ben Turner hat Ineos Grenadiers zudem zwei weitere aussichtsreiche Kandidaten am Start. Turner war 2023 Dritter der Zeitfahr-Weltmeisterschaften mit 19 Jahren. Der 1,94 Meter große Youngster ist somit enorm tempofest. Für den ganz großen Coup in Roubaix dürfte ihm aber noch die Erfahrung fehlen, aber er hat Außenseiterchancen. Einen Stern mehr bekommt sein vier Jahre älterer Mannschaftskollege Ben Turner, der 2022 schon Elfter war bei Paris-Roubaix, wohingegen Tarling letztes Jahr das Zeitlimit noch verpasste.