Radprofi kann aktuell eine eher deprimierende Profession sein. Zu deutlich ist die Überlegenheit der Ausnahmekönner. Als Tadej Pogačar sich bei Lüttich-Bastogne-Lüttich an der Steigung La Redoute kurz umblickte und niemanden von seinem Team mehr entdeckte, der noch weiter für Tempo hätte sorgen können, setzte er sich kurz entschlossen selbst an die Spitze. Die Konkurrenz wirkte wie paralysiert. Nur der frühere Giro-Sieger Richard Carapaz biss sich am Hinterrad des Slowenen fest. Etwa 20 Pedalumdrehungen später riss aber auch vor ihm die Lücke. Und die “Lokomotive aus Carchi” – Kampfname des Ecuadorianers – war selbst nur noch ein Waggon, der antriebslos über belgisches Pflaster zu rollen schien.
Pogačar war weg, 35 Kilometer vor dem Ziel. Der Sieg bei “La Doyenne”, dem ältesten der Klassikermonumente, war ihm nicht mehr zu nehmen. Die Mannen dahinter: pure Statisten. Romain Bardet, mit einer cleveren Attacke am letzten Gipfel La Roche aux Faucons, wurde als Solist Zweiter; er freute sich vor allem über das Foto vom Podium. “Ich zwischen Pogačar und Mathieu van der Poel. Das Bild kann ich einrahmen und meinem Sohn zeigen”, meinte der Franzose. Für sich hatte er das Maximale herausgeholt und die Verfolger um van der Poel auf Distanz gehalten. Mit seiner eigenen Performance war er sehr zufrieden. “Ich habe mich noch nie so stark auf dem Rad gefühlt wie jetzt”, sagte er – und fügte melancholisch hinzu: “Meine Rivalen allerdings sind stärker, als ich jemals war.”
Diese Melancholie ist weit verbreitet. Zwei Männer, die stärker sind, als die anderen jemals waren oder werden können, drückten dieser Frühjahrsklassiker-Saison ihren Stempel auf. Was Pogačar bei Lüttich-Bastogne-Lüttich unternahm, zeigte van der Poel bei der Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix. Beim Kopfsteinpflaster-Klassiker betrug die Entfernung zum Ziel sogar noch 60 Kilometer, als der Mann im Weltmeistertrikot an den vor ihm aufgereihten Fahrern förmlich vorbeiflog.
Teamkollege Gianni Vermeersch hatte zuvor das Rennen noch einmal hart gemacht, die Rivalen an ihre Grenzen gebracht. Und als van der Poel sich dann Position um Position auf dem Pflaster vorbeischob, war bei denen, die er passierte, vielleicht noch der Wille zu folgen da. Aber eben nicht mehr die Kraft. Und noch demütigender dürfte gewesen sein, dass es bei van der Poel so leicht aussah, als schwebte er auf einem Luftkissen über das Pavé. “Wie Mathieu hier gefahren ist, das war einfach sensationell. Er befindet sich in einer anderen Liga. Und unsereiner muss froh sein über einen Podiumsplatz”, sagte Mads Pedersen, der drei Minuten nach van der Poel als Dritter ins Ziel kam.
Bei der Flandern-Rundfahrt eine Woche zuvor war van der Poels Sonderrolle noch deutlicher zutage getreten. Als am Koppenberg, 44 Kilometer vor dem Ziel, auf dem regennassen Pflaster die schmalen Pneus wegrutschten, musste auch van der Poel einmal die Fahrlinie korrigieren. Er blieb aber in der Senkrechten, während hinter ihm bärenstarke Fahrer wie der Spanier Oler Lazkano oder der Italiener Alberto Bettiol und auch der schlaue Matej Mohorič zum Absteigen gezwungen waren und ihre Räder das Pflaster hinaufschoben. Van der Poel jedoch entfernte sich – weg vom Feld und wieder einmal hinein in die Geschichtsbücher.
Nur zehn Fahrern vor ihm – zwei Schweizern, darunter Fabian Cancellara, und acht Belgiern, darunter mal nicht Eddy Merckx – gelang das Double aus Flandern und Roubaix. Im Weltmeistertrikot schaffte das nur einer: 1962 der Belgier Rik Van Looy. Diese Statistiken belegen die Klasse von van der Poel. Sie zeigen aber auch, dass es in der Geschichte des Radsports weitere Ausnahmekönner gab. Der 29 Jahre alte van der Poel hat allerdings auch noch fünf, sechs Jahre Zeit, weitere Ruhmeskapitel zu verfassen. In diesen wird er sein Niveau nicht nur halten, sondern sogar verbessern können. Davon ist zumindest sein Umfeld überzeugt. “Mathieu kann noch ein paar Prozentpunkte zulegen”, sagte Vater Adrie dem Portal Wielerflits.
Vor allem den Wechsel zwischen den Disziplinen, zwischen Cross, Mountainbike und Straße, hält er für relevant in Bezug auf weitere Verbesserungen. “Für Mathieu ist vor allem Abwechslung wichtig, dass wir ihm unterschiedliche Aufgaben geben. Er mag es auch, auf unterschiedlichen Rädern zu sitzen und auch hier einen so großen Mix wie möglich zu haben”, sagt sein Trainer Kristof De Kegel. Als besondere Qualität seines Schützlings streicht er die ungemein schnelle Reaktion auf Trainingsreize heraus. “Sein Körper adaptiert einfach schneller, so können die Phasen von Aufbau und Intensität verkürzt werden”, meint De Kegel.
Auch sein Gespür für den eigenen Körper mache van der Poel besonders. “Er kann ohne Powermeter trainieren. Wenn man ihm 400-Watt-Intervalle aufgibt, dann wird er auch ohne Powermeter nur um sieben oder acht Watt abweichen.” Und all das führt dann dazu, dass es in der gesamten Kraftarchitektur keine einzige Schwachstelle gebe. “Ob es sich um 5-Sekunden-Intervalle handelt oder um eine 90-minütige Anstrengung, er ist überall stabil und gut”, diagnostiziert der Coach.
Der einzige Nachteil, wenn man von Nachteil sprechen kann, ist sein Gewicht. Mit seinen 75 Kilogramm ist er wesentlich schwerer als die letztjährigen Sieger von Lüttich-Bastogne-Lüttich. Pogačar liegt bei 66 Kilo, Roglič bei 65, Evenepoel bei 61. Der Zweite in diesem Jahr, Romain Bardet, wiegt 65 Kilo. Wegen der längeren Anstiege, die näher am Finale liegen, sind die Kletterer, die auch die großen Rundfahrten dominieren, im Vorteil. Kein Wunder also, dass sich Pogačar in seinem reduzierten Wettkampfkalender im Frühjahr neben Mailand-San Remo nur “L-B-L” herauspickte. Er setzt in diesem Jahr andere Reize, bereitet sich auf das Grand-Tour-Double vor. Dem ordnet er alles andere unter.
Ein Vorteil dieser Reduktion: Pogačar ließ die Baskenland-Rundfahrt aus, die bei seinem Toursieg 2021 noch zum klassischen Aufbauprogramm gehört hatte. Dadurch vermied er den Massensturz, der gleich drei seiner großen Rivalen bei der Tour, Titelverteidiger Jonas Vingegaard, Primož Roglič und Remco Evenepoel, ins Krankenhaus brachte. Und er entging auch den Unbilden des Wetters. Während beim Flèche Wallonne aufgrund der Kälte nur 44 Fahrer das Ziel erreichten, der Däne Mattias Skjelmose wie eine aus dem Polareis gepickte Mumie vom Rad gehoben und ins Teamfahrzeug verfrachtet wurde, drehte Pogačar seine Trainingsrunden im sonnigen Spanien. Dorthin zog es auch van der Poel in den Tagen zwischen seinen flämischen Triumphen und dem letzten der Ardennenklassiker.
Wie oft sich dabei seine Trainingsrouten mit denen von Pogačar kreuzten, verrieten die beiden nicht. Im Januar postete Pogačars Teamkollege Jan Christen ein Foto, das die beiden Superstars des Radsports zusammen zeigte. “Wir sind mittlerweile fast Freunde geworden”, beschrieb der Slowene sein Verhältnis zum Niederländer. “Es ist zwar kein Vergnügen, gegen ihn zu fahren, weil er so unglaublich stark ist. Aber er ist auch großartig als Wettkämpfer, und Rennen mit ihm machen deshalb auch wieder Spaß”, meinte Pogačar.
Am aktuellen Weltmeister bewundere er, wie sorgfältig er seine Rennen auswähle und welch einen starken Eindruck er dort mache. Der Slowene selbst ist in dieser Disziplin aber sogar noch ein bisschen besser. Bei bisher zehn Renntagen in dieser Saison holte er sechs Siege. Van der Poel kommt bei sieben Renntagen auf “nur” drei Siege. Beide führen mit diesen Bilanzen die alten Trainingslehren ad absurdum, die noch längeres Einrollen zum Erlangen von Wettkampfhärte forderten. “Ich kann Wettkampfsituationen ganz gut im Training simulieren”, meinte Pogačar.
Zu schlagen sind die beiden aber dennoch. Pogačar gewann schon zwei Jahre lang nicht mehr die Tour, weil Team Jumbo-Visma ihn mit kollektiver Stärke bezwang. Bei Mailand-San Remo schlug ihm Alpecin-Deceuninck mit kluger Teamtaktik ein Schnippchen. Ex-Weltmeister Mads Pedersen kochte schließlich bei Gent-Wevelgem van der Poel mit einem langen Sprint aus der Führungsposition ab. Seine Stärke ist die Beschleunigung von einer höheren Anfangsgeschwindigkeit aus, während van der Poels Explosivität aus niedrigeren Geschwindigkeiten wohl einmalig ist.
Trainer De Kegel ist jedenfalls davon überzeugt, dass van der Poel sogar noch besser werden kann: “Jedes Mal, wenn er einen neuen Rekord aufstellt, sei es bei der einminütigen Belastung, der über fünf oder 20 Minuten, denke ich, das war es jetzt. Auf diesem Niveau werden wir die nächsten drei, vier Jahre unterwegs sein. Doch dann kommt der Moment, an dem er eine neue Herausforderung hat, das Training danach ausrichtet, und prompt werden die Werte noch besser.” Und weil auch Pogačar bei sich noch Entwicklungspotenzial sieht, dürften die Anteile an den Siegerkuchen für den Rest des Pelotons in den nächsten Jahren noch kleiner ausfallen. Fotos vom Podium sind dann die großen Preise.
Steven Verstockt ist Sturzforscher. Mit seinem Team an der Universität Gent baut der Informatiker und promovierte Videoanalyst im Rahmen des Projekts Course die derzeit größte Datenbank zu Stürzen im Straßenradsport auf. Ein Gespräch über Sturzursachen, Analysetools und die Vorteile, die künstliche Intelligenz dem Radsport bringen kann.
TOUR: Steven Verstockt, dieses Frühjahr war geprägt von vielen Stürzen. Man hatte das Gefühl, es seien mehr als früher. Konnten Sie dies auch in Ihrer Auswertung der Stürze ablesen?
VERSTOCKT: Ich würde nicht sagen, dass die Anzahl der Stürze zugenommen hat. Aber wir sehen in unserer mehr als 1000 Fälle umfassenden Datenbank sehr deutlich, dass die Sturzfolgen schwerer sind, die Fahrer länger ausfallen. Das ist ein neuer Trend.
Welches Muster bemerken Sie bei den Sturzursachen? Sind Stürze vor allem auf gefährliche Stellen im Parcours, auf Witterungsunbilden oder auf Fahrfehler zurückzuführen?
Die vier häufigsten Gründe sind Abfahrten, Wechsel des Fahrbahnbelags, dass zum Beispiel Pflastersteinpassagen kommen, dann die Massensprints und schließlich Fahrfehler. Unfälle, die vom Wetter verursacht werden, haben wir weniger.
Wie gewinnen Sie die Daten?
Wir lesen vor allem Social-Media-Accounts aus und konzentrieren uns auf die, die häufig von Unfällen berichten. Das ist natürlich keine vollständige Übersicht. Vor allem Stürze prominenter Fahrer bei großen Rennen werden gepostet. Aber seit einiger Zeit ergänzt die UCI manuell die Statistik. Wir bereiten die Daten auf, verknüpfen sie auch mit Bildern und Videos. Denn die Bildanalyse kann Auskunft über die Schwere des Unfalls geben: Wie prallte der Fahrer auf, wie lange blieb er liegen?
Was kann man mit den Daten alles anfangen?
Wir nutzen sie, in Zusammenarbeit mit der UCI, zum Screening von Rennstrecken. Wo gibt es zum Beispiel eine Kombination aus Abfahrt, in der das Peloton sehr schnell ist, und einem Wechsel des Fahrbahnbelags oder einer hügeligen Passage? Da können wir die Organisatoren informieren und sie können die Stelle entweder besser kennzeichnen oder den Kurs ändern. Mit der Hilfe von künstlicher Intelligenz kann man auch monatliche oder wöchentliche Berichte über das Sturzgeschehen veröffentlichen. Informationen dieser Art gibt es bislang nicht.
Wie reagieren die Organisatoren darauf? Meiner Erfahrung nach sind sie oft überzeugt, ohnehin schon das Wichtigste über die Strecke, die Gefahrenstellen und auch das Verhalten des Pelotons zu wissen. Viele waren ja selbst Profis. Wie reagieren sie auf das neue Tool von Ihnen?
Klar sagen sie, dass sie das alles schon wissen. Aber wenn man dann Rennen im Fernsehen sieht, gibt es immer wieder Segmente, die problematisch sind. Und immer wieder führt das auch zu Unfällen. Die Reaktionen sind gemischt. Mit einigen Organisatoren arbeiten wir schon zusammen, andere machen selbst ähnliche Dinge. Radsport ist im Wandel. Und es ist ja nicht so, dass die künstliche Intelligenz alle ersetzen wird. Aber es kann ein gutes Werkzeug sein. Sinn könnte es auch machen, mithilfe von künstlicher Intelligenz die Bilder von Massensprints auszuwerten, welcher Fahrer seine Linie verließ und daher sanktioniert werden muss. Man könnte das auch mit früheren Sprints vergleichen, wo Fahrer ebenfalls sanktioniert wurden. Das wäre objektiver als jetzt ein Jury-Entscheid, und die Fahrer würden es vielleicht auch besser nachvollziehen können.
Nun gibt es jetzt schon sehr viele Informationen für die Fahrer. Die Briefings werden immer länger, und nicht jeder merkt sich alles. Wie sollten Informationen aufbereitet werden, damit sie auch ankommen?
Das ist ein guter Punkt. Ich denke, wir sollten ihnen nur einen Teil der Daten zeigen, frühere Unfälle beim Rennen etwa, sodass sie dafür sensibilisiert werden, wo sie sich am besten bei bestimmten Stellen positionieren oder wo man weniger Risiken eingehen sollte.
Das Pro-Tour-Team Uno-X Mobility verblüffte in der Frühjahrsklassiker-Saison mit Top-Ten-Platzierungen, vor allem aber mit Widerstandskraft beim Kälterennen Flèche Wallonne. Damit lagen die Rennfahrer ironischerweise auf Konfrontationskurs zu ihrem neuen Chef Thor Hushovd.
Für immer haben sich die Bilder ins Auge gebrannt, die den Dänischen Meister Mattias Skjelmose beim Flèche Wallonne zeigten. Starr vor Kälte wurde er vom Rad gehoben und ins Teamfahrzeug getragen. Um ihn herum erbebten die Körper weiterer Profis vor Kältewellen. “Es war einfach sehr kalt. Und wenn du bei Temperaturen von 5 Grad erst einmal durchgeweicht bist, wird dir nie wieder warm”, beschrieb der Niederländer Bauke Mollema die Situation. Er gehörte immerhin zu den 44 Fahrern – von 175 gestarteten –, die ins Ziel kamen. Der Pole Michal Kwiatkowski beschrieb den Schock, den sein Körper verkraften musste, mit der Einnahme von drei Gläsern Wodka auf nüchternen Magen.
Die Nordmänner von Team Uno-X ließen sich davon wenig beeindrucken. Als einziger Rennstall brachten sie alle sieben Fahrer ins Ziel. Sie fuhren im Finale sogar auf Sieg, mussten sich dann aber mit Platz sechs durch Tobias Halland Johannessen begnügen. Auf den Kälteeinbruch waren sie vorbereitet. “Wir wussten, dass, wenn es schneien würde, wir nur eine halbe Stunde warten müssen, bis das halbe Feld aussteigt”, sagte Johannessen. Auch bei anderen Klassikern setzte das Team Achtungszeichen. Bei Paris-Roubaix fuhr Sören Waerenskjold auf Rang neun, beim Scheldeprijs auf Platz sechs. Bei Quer durch Flandern wurde Jonas Abrahamsen Zweiter.
Das stellt einen beachtlichen Fortschritt gegenüber der vergangenen Saison dar. Und es bringt einige UCI-Punkte für die World-Tour-Lizenz, um die sich der Rennstall 2026 bewerben will. Das betonte Teammanager Jens Haugland, der den Rennstall im Vorjahr auch zur Tour de France brachte.
In diesem Jahr musste Haugland für den prominenteren Thor Hushovd Platz machen. Und der frühere Top-Sprinter führte sich auch gleich meinungsstark ein. Er kritisierte nämlich seine Fahrer dafür, dass sie zwischen den Klassikerrennen nach Hause kamen – nicht wie van der Poel in die spanische Sonne, sondern nach Skandinavien, wo es zu diesem Zeitpunkt länger und heftiger schneite als in Belgien.
Hintergrund von Hushovds Kritik war, dass man in der Kälte eben nicht gut trainieren könne. Beim Team kam das nicht gut an. Routinier Alexander Kristoff motzte, dass er mehr Rennen gewonnen habe als Hushovd und schon wisse, was er tue. Der Ausflug in die skandinavische Kälte könnte die Männer mit den gelben Helmen ganz im Gegensatz zur Intention des Chefs perfekt auf belgische Kälteeinbrüche vorbereitet haben. Der Radsport, komplex, wie er ist, liefert mal wieder völlig gegenläufige Trends. Van der Poel hielt seine Top-Form über den ersten Teil der Frühjahrsklassiker-Saison eben auch wegen der Trainingskurztrips in den Süden. Die Nordmänner von Uno-X hingegen holten sich im Schnee den letzten Schliff.