Frühjahrsklassiker der FrauenRückblick einer turbulenten Klassikersaison

Jens Claussen

 · 31.05.2024

Kaum zu fassen: Shirin van Anrooij (links) beglückwünscht  Team-Kollegin Elisa Longo Borghini zu  deren zweitem Sieg in Flandern.
Foto: dpa / pa / Jasper Jacobs
Spannende Wettkämpfe, Wetterkapriolen und verschiedene Siegerinnen prägten die Frühjahrsklassiker der Frauen. Ein Blick auf die turbulente Klassikersaison.

Ungläubig, beinahe schockiert blickten sich Elisa Longo Borghini und ihre Teamkollegin Shirin van Anrooij unmittelbar hinter der Ziellinie in Oudenaarde an. “Was haben wir hier gerade getan?”, raunte die 22-jährige Niederländerin der routinierten Italienerin zu. Diese hatte Minuten zuvor in einem furiosen Finale nach 2015 ihre zweite Flandern-Rundfahrt gewonnen. Einigkeit und Geschlossenheit, vor allem aber einen klar erkennbaren Plan hatte das Team Lidl-Trek auf jedem der 163 Kilometer bei widrigsten Bedingungen auf Ostflanderns Straßen gezeigt. Schon Tage vor der “Ronde” hatten Experten vor dem Koppenberg gewarnt, den 600 Meter langen und im Durchschnitt 11,6 Prozent steilen Anstieg bei regnerischen Verhältnissen als die Schlüsselstelle im Rennverlauf markiert.

Frühjahrsklassiker der Frauen: Shirin van Anrooij (links) beglückwünscht Team-Kollegin Elisa Longo Borghini zu deren zweitem Sieg in Flandern.Foto: dpa / pa / Jasper JacobsFrühjahrsklassiker der Frauen: Shirin van Anrooij (links) beglückwünscht Team-Kollegin Elisa Longo Borghini zu deren zweitem Sieg in Flandern.

Und genau so sollte es kommen. Als Lotte Kopecky und Demi Vollering vom Team SD Worx-Protime, beide als Top-Favoritinnen ins Rennen gegangen, viel zu weit hinten positioniert auf dem glitschigen Pflaster sogar kurz vom Rad mussten, formierte sich die entscheidende Gruppe des Tages um die spätere Siegerin Longo Borghini. Im Siegerinterview nach dem extrem fordernden Rennen meinte sie: “Wir hatten eine klare Strategie, sind als Team sehr geschlossen gefahren und ich war zum Glück am Ende die Stärkste. Als Shirin nach dem Paterberg im Finale alleine vorne war, bin ich nach kurzer Absprache mit der Teamleitung gemeinsam mit Kasia Niewiadoma zu ihr hingefahren. Zu zweit hatten wir so auf den letzten Metern die besseren Karten.”

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Sprung nach vorne: Bei der Flandern-Rundfahrt nutzt Longo Borghini die Attacke von Kasia Niewiadoma (links), um zur Spitze aufzuschließen.Foto: dpa / pa / Jasper JacobsSprung nach vorne: Bei der Flandern-Rundfahrt nutzt Longo Borghini die Attacke von Kasia Niewiadoma (links), um zur Spitze aufzuschließen.

Frühjahrsklassiker: Bröckelnde Dominanz des Team SD Worx-Protime

Nach der drückenden Überlegenheit des Team SD Worx-Protime im Frühjahr des vergangenen Jahres waren der Sieg und Platz drei durch die Lidl-Trek-Fahrerinnen ein sehr deutlicher Fingerzeig darauf, dass frühere Erfolge keine Gewähr für Siege in der Gegenwart sind – auch wenn die Erwartungen bei Fans, im Umfeld und innerhalb der Mannschaft SD Worx selbst im Hinblick auf die Frühjahrsklassiker-Saison 2024 hoch waren. Erste Risse im Team des Branchenprimus aus den Niederlanden wurden beim Rennen Dwars door Vlaanderen erkennbar. Zu diesem Anlass gab das Management bekannt, dass Top-Star Demi Vollering zur kommenden Saison das Team verlassen werde. Die rollte daraufhin recht lustlos wirkend auf dem 96. Platz über die Ziellinie.

Nach dem postwendenden Dementi der Tour-de-France-Siegerin von 2023 verfestigte sich der Eindruck vieler Beobachter: Die Posse um den wohl schon länger schwelenden Vertragspoker zwischen Vollerings Management und ihrem Team hatte das Gefüge der Equipe von Manager Danny Stam gehörig ins Wanken gebracht. Mit den Siegen von Lorena Wiebes bei Gent-Wevelgem und Lotte Kopecky bei Paris-Roubaix setzte sich das erfolgsverwöhnte Team zwar im weiteren Verlauf des Frühjahrs noch in Szene, die Selbstverständlichkeit vergangener Erfolge aber schien verflogen.

Beim Frühjahrsklassiker Beste im Sprint: Auf der Radrennbahn in Roubaix setzt sich Weltmeisterin Lotte Kopecky gegen die Konkurrentinnen durch.Foto: dpa / pa / Jasper JacobsBeim Frühjahrsklassiker Beste im Sprint: Auf der Radrennbahn in Roubaix setzt sich Weltmeisterin Lotte Kopecky gegen die Konkurrentinnen durch.

Der US-amerikanische Rennstall Lidl-Trek hingegen zeigte sich bestens vorbereitet, um das Taumeln des Hauptrivalen gnadenlos ausnutzen. In der Breite beeindruckend stark aufgestellt, hatte das Team der deutschen Sportdirektorin Ina-Yoko Teutenberg sowohl auf flämischem Pflaster als auch in den Hügeln der Ardennen in beinahe jeder Rennsituation die passende Antwort parat. Neben dem Triumph bei der Flandern-Rundfahrt resultierten daraus weitere Erfolge durch Elisa Balsamo bei der Trofeo Alfredo Binda und Brügge-De Panne sowie Longo Borghini beim Pfeil von Brabant. Mit weiteren zweiten Plätzen bei Lüttich-Bastogne-Lüttich, das überraschend von der Australierin Grace Brown (Team FDJ-Suez) gewonnen wurde, sowie bei Strade Bianche avancierte Longo Borghini zur dominierenden Fahrerin des Frühjahrs.



Frühjahrsklassiker: Marianne Vos überzeugt

Und: Im wievielten Frühling befindet sich eigentlich die Grande Dame des internationalen Frauenradsports? Marianne Vos, mehrmalige Weltmeisterin auf der Straße und im Cross, hatte aufgrund einer Operation an der Beckenarterie die gesamte Querfeldeinsaison im Winter auslassen müssen und war ohne jegliche Rennhärte in ihre Frühjahrskampagne gestartet. Wie ein schlechter Scherz muss es da zunächst Lotte Kopecky bei Het Nieuwsblad und ein paar Wochen später Lorena Wiebes beim Amstel Gold Race vorgekommen sein, als sie im Zielsprint von der inzwischen 36-jährigen Niederländerin niedergerungen wurden. Beim Amstel spielte Vos zudem ihre ganze Routine aus 19 Profijahren aus und schob im Tigersprung ihr Vorderrad nur um Millimeter an der schon jubelnden Wiebes vorbei.

Zu früh gefreut beim Frühjahrsklassiker in den Niederlanden: Lorena Wiebes’ Jubel schlägt blitzartig in Frust um, als sie registriert, wie Marianne Vos den Zielstrich des Amstel Gold Race noch vor ihr überquert.Foto: dpa / pa / Marcel van HoornZu früh gefreut beim Frühjahrsklassiker in den Niederlanden: Lorena Wiebes’ Jubel schlägt blitzartig in Frust um, als sie registriert, wie Marianne Vos den Zielstrich des Amstel Gold Race noch vor ihr überquert.

Die Leaderin des Team Visma-Lease a Bike kann nunmehr 251 Siege in ihrem prall gefüllten Palmarès vorweisen. Eine Überraschung gelang der erst 21 Jahre alten Puck Pieterse vom Team Fenix-Deceuninck, die im vergangenen Jahr den Gesamtweltcup der Mountainbikerinnen gewonnen hatte. Die niederländische U23-Cross-Weltmeisterin von 2022 beendete das Frühjahr mit sieben Top-Ten-Ergebnissen bei nur acht Renneinsätzen. Wild, ungestüm und angriffslustig – so lässt sich die Fahrweise der talentierten Allrounderin beschreiben, die bis dato überhaupt erst zehn UCI-Straßenrennen bestritten hat. Die inzwischen 35 Jahre alte deutsche Profifahrerin Romy Kasper vom Team Human Powered Health hat bei den Rennen im Frühjahr nicht nur spannende Verläufe beobachtet.

Alle Augen auf Olympia

Die routinierte Allrounderin stellt außerdem fest: “Man merkt, dass Olympiasaison ist und es bei allen Nationen um die Nominierungen geht. Alle sind angespannter und die Leistungsdichte ist noch mal um ein paar Prozent gestiegen. Am Ende des Tages machen die Fahrerinnen die Rennen immer schneller und damit auch gefährlicher. Es wird teilweise auf Leben und Tod in Lücken reingefahren, wo keine sind. Der Respekt untereinander muss wieder wachsen.” Eine Beobachtung, die gleichermaßen auf die Männerrennen zutrifft. Die Dramaturgie, die jedes Radrennen einzigartig machen kann, erzählen hingegen die Rennfahrerinnen und Rennfahrer immer wieder aufs Neue. Hier hatten die Frauenrennen des Frühjahrs 2024 gegenüber den Klassikern der Männer die deutlich abwechslungsreicheren Drehbücher zu bieten.



Interview mit Franziska Koch: “Langsam wird es Zeit, auch selbst zu gewinnen”

Die deutsche Profifahrerin Franziska Koch konnte sich in den Frühjahrsklassikern als wichtige Helferin im Team DSM in Szene setzen. TOUR erzählt die 22-Jährige aus Mettmann, wie sie die Frühjahrsklassiker erlebt hat.

Deutsche Profifahrerin Franziska Koch, Team DSMFoto: dpa / pa / RothDeutsche Profifahrerin Franziska Koch, Team DSM

TOUR: Sie waren bei den Frühjahrsklassikern oft in den vorderen Reihen des Pelotons zu sehen. Wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?

KOCH: Meine Rolle im Team ist klar definiert und die heißt Support für die Kapitäninnen. Bis zu Roubaix bin ich mit meiner Leistung sehr zufrieden. Ich werde jetzt vom Team als Helferin mehr und mehr im Finale eingesetzt und komme damit automatisch näher an die Ziellinie. Diese Entwicklung zeigt, dass ich noch mal stärker geworden bin.

Welcher besondere Moment aus den Rennen der vergangenen Wochen ist Ihnen in Erinnerung geblieben?

Bei Paris-Roubaix war meine Vorderradbremse auf einmal defekt. In dem Moment hat meine Teamkollegin Pfeiffer Georgi direkt vor mir leicht nach links gezogen und ich konnte nicht bremsen. Mein Lenker hat sich dabei in ihrem Sattel verhakt, die Räder waren richtig verkeilt und wir mussten anhalten. Für mich war das Rennen damit leider beendet, Pfeiffer hat es aber wieder in die Gruppe geschafft und ist am Ende ja auch Dritte geworden. Ich wäre im Boden versunken, wenn ich es durch diesen Zwischenfall vermasselt hätte.

Sie werden im Team meistens als starke und vor allem zuverlässige Helferin eingesetzt und haben bei DSM-firmenich-PostNL noch einen Vertrag bis 2025. Ihr bisher einziger Profisieg datiert aus dem Jahre 2019 bei der Boels Ladies Tour. Haben Sie für die Zukunft mehr eigene Ambitionen?

Ich sehe mich aktuell als gute und wertvolle Klassikerfahrerin. Aber na klar, ich würde gerne auch zeitnah mal wieder um den Sieg sprinten können und möchte in der Hierarchie weiter in Richtung Leaderrolle aufsteigen. Das Team sieht da auf jeden Fall Potenzial in mir. Ich bin trotz meines jungen Alters schon viele Jahre dabei, langsam wird es mal Zeit, auch selbst etwas zu gewinnen (lacht).

Heftige Stürze in den Männerrennen haben in der jüngsten Vergangenheit Aufregung und Diskussionen entfacht. Hat sich auch im Frauenpeloton die Risikobereitschaft in letzter Zeit verändert?

Innerhalb der Teams wird bei den Frauen mehr zusammen gefahren als noch vor ein paar Jahren. Wir sehen jetzt die Bildung von Zügen. Das macht es auf der einen Seite sicherer, jede kennt ihren Platz, auf der anderen aber auch gefährlicher, da die Findungsphase im unmittelbaren Finale oft sehr chaotisch abläuft. Damit sind mehr Stürze vorprogrammiert. An der Risikobereitschaft generell hat sich aber meiner Meinung nach im Frauenpeloton nichts verändert. In meiner eigenen Wahrnehmung bin ich aber in riskanten Situationen auch eher eine coole Fahrerin.

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