Andreas Kublik
· 19.06.2025
Er hat es allen gezeigt: Tadej Pogačar ist auf bestem Weg, im Juli zu seinem vierten Gesamtsieg bei der Tour de France zu fahren. Der 26-jährige Slowene triumphierte gleich auf der 1. Etappe, die eigentlich das Terrain für einen Massensprint bieten sollte. Danach spielte er am Berg geradezu mit den Gegnern, erlaubte sich die kleine Spitze, selbst die Flaschen für seinen Helfer Pavel Sivakov am Teamfahrzeug zu holen und dann an der versammelten Konkurrenz vorbei nach vorne zu fahren. Ein Akt irgendwo zwischen großer Geste, Übermut und ein bisschen Psychospielchen mit den (aktuell) unterlegenen Gegnern. Nur im Einzelzeitfahren war er erstaunlich langsam unterwegs - aber auch so reichte es lässig, um den Status als Tour-Favorit Nummer eins zu festigen. Auf der ersten Bergetappe fuhr er an der Côte de Domancy fast eine Minute auf Herausforderer Jonas Vingegaard heraus. Der Däne müsste während des folgenden Höhentrainingslagers in Tignes schon eine extreme Formsteigerung schaffen, um im Juli seinem ewigen, zwei Jahre jüngeren Rivalen das Wasser reichen zu können.
Es gab Diskussionen unter den Experten, ob es eine Überraschung war, was der 24-jährige Schwabe in den acht Tagen beim Vorbereitungsrennen zeigte. Oder ob man damit rechnen konnte. Bei seinem Team Red Bull - BORA - hansgrohe hatte man den Ex-Biathleten in aller Ruhe auf die einwöchige Rundfahrt vorbereitet - und auf eine Platzierung unter den Top der Gesamtwertung gezielt. Tatsächlich legte Florian Lipowitz eine reife Leistung hin, belegte Gesamtrang drei und gewann das Trikot des besten Nachwuchsfahrers. Nun ist er Hoffnungsträger in einem Team, in dem es aktuell nicht richtig rund läuft. Der bei Red Bull- BORA - hansgrohe für die Tour als Kapitän vorgesehen Primož Roglič leckt noch seine bei einem Sturz beim Giro d’Italia erlittenen Wunden. “Stabiler, solider, er macht keine Fehler mehr”, lobte Sportchef Rolf Aldag. Dabei hatte der Auftritt des Aufsteigers mitunter etwas von Übermut: Auf der 3. Etappe fuhr Lipowitz als Teil einer Ausreißergruppe fast eine Minute auf die anderen Klassementfahrer heraus, legte dann ein starkes Einzelzeitfahren als Fünfter, sieben Sekunden hinter Pogačar, hin und fuhr dann in den Bergen frech - auch wenn es am Ende auch nicht reichte, um bergauf am Hinterrad von Pogačar und Vingegaard zu bleiben. Aber Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel konnte dem Newcomer unter den Top-Klassementfahrern nur hinterherblicken. Nur ein kleines bisschen mehr Ruhe und besseres Haushalten mit den Kräften muss man dem Mann raten, auf den die deutschen Fans wohl im Juli ein besonderes Auge werfen werden.
Er sagte gleich mehrfach adieu: Romain Bardet, das war schon seit rund einem Jahr bekannt, bestritt bei der Dauphiné-Rundfahrt sein letztes Straßenrennen als Profi. Beim Etappenstart in seiner Geburtsstadt Brioude bejubelt man ihn, er warf am Streckenrand kleinen Fans, die sein Teamtrikot trugen, ein Bidon zu, und winkte auf der vorletzten Etappe 13 Kilometer vor dem Etappenziel in Valmeinier in die TV-Kamera, als klar war, dass es bei seinem letzten Radrennen keinen Sieg für ihn zu feiern geben würde. Sekunden später rasten die Führenden im Gesamtklassement an ihm vorbei - die Chance auf einen letzten Etappensieg war dahin. Bardet bekam im Ziel immer noch die Belohnung als kämpferischster Fahrer des Tages und am nächsten Morgen ein Spalier der Berufskollegen auf dem Weg zum Etappenstart. Auch Sohn Angus wartete auf seinen Papa, der künftig wohl mehr Zeit zuhause verbringen wird. Die letzten Pedaltritte als Radprofi absolvierte Bardet Arm in Arm mit Teamkollege Chris Hamilton auf dem Weg ins Ziel am Mont-Cenis. Apropos Abschied: So ganz kann Bardet es mit dem Radsport noch nicht lassen: Bei der Tour de France ist er zwar als Rennfahrer nicht mehr dabei, aber nach elf Teilnahmen als Aktiver wird er diesmal für den TV-Sender Eurosport einige Etappen als Reporter vom Motorrad aus begleiten. Und dann will der 35-jährige Franzose noch ein paar Gravel-Rennen bestreiten - so ganz kann er also die Beine noch nicht ruhighalten.
Seit fast einem halben Jahrhundert wartet die Radsport-Nation Belgien auf den nächsten Tour-Sieger, den Nachfolger von Lucien van Impe, der 1976 die Grande Boucle für sich entschied. Schon vor geraumer Zeit hat man Radsport-Wunderkind Remco Evenepoel als den Mann ausersehen, der die Sehnsüchte seiner radsportbegeisterten Landsleute befriedigen soll. Nun mit 25 Jahren und Gesamtrang drei im Vorjahr sollte er 2025 einen ernstzunehmenden Angriff auf den Tour-Sieg hinlegen - Pogačar und Vingegaard bei deren Zweikampf zu Leibe Rücken. Doch dann hatte er im Frühwinter einen schweren Trainingsunfall und wurde weit zurückgeworfen. Das Comeback im Rennbetrieb Ende April war vielversprechend - der Flame war in Siegform, entschied gleich beim ersten Start den Pfeil von Brabant für sich. Doch der Weg an die Spitze wurde zusehends schwerer. Bei der Dauphiné musste er erleben, dass ihm noch einiges zu den beiden besten Rundfahrtspezialisten fehlt. Zwar triumphierte er im Einzelzeitfahren und übernahm damit zwischenzeitlich das Gelbe Trikot des Gesamtführenden - aber am Berg konnte er nie die Attacken der Besten wirklich mitgehen. Schuld soll auch gewesen sein, dass er nach einem Sturz auf der 5. Etappe gehandicapt gewesen sei, ließ sein Team Soudal Quick-Step ausrichten. Immerhin bleibt der Zeitfahr-Olympiasieger und Weltmeister die Referenz im Kampf gegen die Uhr: Auf den 17,4 Kilometern der 4. Etappe schaffte er als Einziger einen 50er-Schnitt und verpasste Vingegaard 20 und Pogačar gar 48 Sekunden Rückstand. Sein Sportlicher Leiter Klaas Lodewyck sagte belgischen Medien vor dem Rennen, wenn er am Berg an Vingegaard und Pogačar dranbleiben könne, sei das ein richtiger Motivationsschub und im Juli mehr als Gesamtrang drei drin. Die Dauphiné war im Nachhinein daher eher ein kleiner Tiefschlag - mit Rang vier noch hinter Lipowitz. Sturz, Allergien - Belgiens Radsportliebling führte einige Argumente an und nahm auch Hausaufgaben mit: “In den nächsten Wochen möchte ich an den Tempowechseln arbeiten, weil diese nicht in meiner Natur liegen. Ich muss mich an den Anstiegen verbessern”, sagte er in seinem Rennrückblick.
Ganze Generationen französischer Rennfahrer können mittlerweile davon berichten, wie groß die Last der Erwartungshaltung für hochtalentierte Radsportler in der Grande Nation ist: Seit mittlerweile 40 Jahren wartet man auf einen Franzosen, der in Paris Gelb überreicht bekommt. Der letzte war Bernard Hinault, 1985. Thibaut Pinot, Romain Bardet, Jean-Christophe Péraud - immer mal wieder war ein Landsmann nah dran. Jetzt liegt die Last vielleicht schon auf den Schultern des jüngsten Teilnehmers der diesjährigen Dauphiné: Paul Seixas sieht nicht nur aus wie ein Teenie, er ist auch erst zarte 18 Jahre alt. Aber sein Talent ist für jedermann sichtbar: Am Ende belegte er Gesamtrang acht, weil er am Schlusstag auf den letzten Kilometern den Anschluss verpasste und noch zwei Plätze nach unten purzelte. Zu Beginn des Anstiegs war er am Ende der Favoritengruppe in einen Sturz verwickelt. Die Lehrzeit als Rundfahrtspezialist endete mit der bitteren Erkenntnis, dass es immer noch die goldene Regel ist, dass man als Klassementfahrer wirklich jede Sekunde hochkonzentriert bleiben muss. “Jeder Tag ist eine Reise ins Unbekannte”, ließ Seixas während der Etappen der Öffentlichkeit ausrichten. Aller Anfang ist schwer - aber er viel Seixas doch erstaunlich leicht. Frankreich könnte an dem Mann aus Lyon noch viel Freude haben. “Es ist schräg für so einen jungen Kerl zu arbeiten. Er könnte mein Sohn sein. Aber er verdient es. Und es bin nicht nur ich, der so denkt”, befand Teamkollege Bruno Armirail, der quasi neben der Arbeit für den Youngster noch das Bergtrikot der Dauphiné gewann. Einen Tour-Start in diesem Jahr schloss der Cheftrainer seines Rennstalls, Jean-Baptiste Quiclet, aus: Zu früh zu viel Intensität sei das und verwies auf das Beispiel Lennard Kämna, den man seines Erachtens zu Beginn seiner Karriere zu früh in eine intensive Grand Tour geschickt habe. Kämna erlebte eine Leistungs- und Motivationsdelle.
Dem Smiley des deutschen Radsports könnte langsam das Lachen vergehen. Endlich fühlte er sich bei seinem neuen Team Israel - Premier Tech geschätzt, nachdem er bis ins hohe Rennfahreralter von 30 Jahren warten musste, um im Vorjahr erstmals bei der die Tour de France starten zu dürfen. Auch in diesem Jahr hatte er die Zusage seines Arbeitgebers - doch dann stürzte er bei einem Vorbereitungsrennen in Südfrankreich auf einer Temposchwelle auf der Zielgeraden schwer. Im Juni dann endlich der erste Saisonsieg - wenn auch beim Rennen Classique Dunkerque. Es war der erste Erfolg nach zwei Jahren Pause. Die Dauphiné sollte Generalprobe und Formtest vor der Tour sein - nach einem Sturz auf der 5. stieg er sichtlich demoralisiert vom Rad und gab auf. “Ich bin raus”, soll er laut Eurosport über den Teamfunk ausgerichtet haben. Schön für das Team, aber vielleicht schlecht für den Pfälzer mit Wohnsitz in Österreich: Im Ziel feierte Teamkollege Jake Stewart als Sprint-Etappensieger, der eigentlich als Anfahrer Ackermanns vorgesehen war. Nun stellt sich natürlich die Frage: Inwieweit ist Pascal Ackermann vielleicht auch aus dem Tour-Aufgebot seines Teams raus? Wer ist aktuell der beste und zuverlässigste Sprinter im Team mit Blick auf den Saisonhöhepunkt?
Die Hiobsbotschaft machte schnell die Runde: Mathieu van der Poel gestürzt, Absage des Dauphiné-Starts und Teilnahme an der Tour de France gefährdet. Der niederländische Tausendsassa konnte es nicht lassen - der 30-Jährige hatte sich beim Weltcup in Nove Mesto einmal an einem Start als Mountainbiker versucht. Mit Folgen. Zweimal stürzte er, einmal mit Überschlag. Diagnose: Kahnbeinfraktur.
Alles war dann mit Blick auf weitere Renneinsätze wohl halb so schlimm: Überraschend stand der Weltmeister von 2023 dann doch am Start der Vorbereitungsrundfahrt und wirkte in Bestform. Initiierte im Finale der 1. Etappe einen Ausreißversuch gemeinsam mit Pogačar, Vingegaard und Evenepoel. Immer wieder mischte er im Rennen vorne mit, das nicht unbedingt sein Lieblingsterrain anbot. Fast wirkte es so, als würde der Klassikerspezialist das Rennen mit gezielten Trainingseinheiten garnieren - vielleicht mit Blick auf die anspruchsvollen Etappen zu Beginn der Tour, wo Tagessiege und Gelbes Trikot winken würden. Bei der Dauphiné trug er auch lange das Grüne Trikot des Punktbesten, das ihm am Ende aber der punktgleiche Pogačar noch wegschnappte. Die Frage mit Blick auf die Tour: Ist er ist mit Blick auf das anspruchsvolle Terrain der nächsten Tour vielleicht der Mann bei Alpecin - Deceuninck fürs Grüne Trikot - und nicht Sprinter Jasper Philipsen?
Zuletzt haben ihn die deutschen Fans fast aus den Augen verloren: Emanuel Buchmann. Beim Team Bora-hansgrohe hatten sie das Klettertalent als den nächsten deutschen Klassementfahrer aufgebaut. Mit Erfolg: Im Jahr 2019 fuhr er bei der Tour ganz vorne an der Spitze mit - der Gesamtsieg durch Egan Bernal lag am Ende schlappe 116 Sekunden entfernt - der Sprung aufs Podium gelang dennoch nicht. Der Oberschwabe Buchmann hatte auch Pech, dass die beiden letzten Bergetappen wegen Unwettern und Erdrutschen entscheidend verkürzt wurden - Nachteil für den ausdauernden, aber wenig explosiven Kletterer. Im Vorjahr dann der Bruch mit dem langjährigen Arbeitgeber, der ihn kurzfristig und trotz öffentlicher Zusage nicht mit zum Giro d’Italia nahm. Nun soll der eher schweigsame Radprofi beim neuen Arbeitgeber Cofidis wieder aufblühen. Anders als 2019, als Buchmann bei der Dauphiné als Gesamtdritter seine Spitzenform zeigte, spielte er im Kampf ums Podium diesmal keine Rolle - bewies aber mit Gesamtrang elf am Ende, dass er auf dem richtigen Weg Richtung Tour ist. Bei Cofidis will man den Deutschen, mittlerweile 32 Jahre alt, dem Vernehmen nach nicht auf die Gesamtwertung ansetzen, sondern ihn auf Etappenjagd in den Bergen schicken. Er könnte so den deutschen Fans und sich selbst wieder Freude machen.
Er darf aktuell als einer der schnellsten, wenn nicht gar als der schnellste Sprinter im Peloton gelten: Jonathan Milan. Das bewies der 24-jährige Italiener auf der 2. Etappe, auf der er sich im Massensprint durchsetzte und die Gesamtführung übernahm. Dass er schnell sprinten kann, war klar. Aber es ging wohl auch um einen Härtetest bei hochsommerlichen Temperaturen im Hochgebirge. Sprinter sollen bei den schwersten Etappenrennen im Flachen gewinnen - und im Hochgebirge nicht aus dem Zeitlimit fallen, um zum Beispiel in Paris noch einmal um den Tagessieg kämpfen zu können. Milan, 1,96 Meter groß, wuchtete seine 87 Kilo auch über die höchsten Alpenpässe und gewann den Kampf ums Zeitlimit auf den schwersten Bergetappen mit jeweils fünf Minuten Vorsprung. Beim Team Lidl - Trek dürfen sie jetzt davon ausgehen, dass es eine gute Idee war, dem zweimaligen Giro-Teilnehmer und Bahn-Olympiasieger Milan im Juli seinen ersten Tour-Start zu ermöglichen - und im Gegenzug voraussichtlich den ebenfalls sprintstarken Weltmeister von 2019, Mads Pedersen, außen vor zu lassen.
Wenn Sprinter Jonathan Milan das Schwergewicht des Pelotons war, dann zeigte Lenny Martinez genau das andere Ende der Skala, auf der sich die Gewichte von Radprofis bei schweren Etappenrennen bewegen. Satte 35 Kilogramm weniger als der Italiener bringt der leichtgewichtige Franzose auf die Waage - und auf der Schlussetappe zeigte er allen, dass er sich im Kampf mit der Hangabtriebskraft leichter tut als die meisten anderen. Wenige Kilometer vor dem Ziel schüttelte der den letzten Widersacher Enric Mas (Spanien/Movistar) ab und strampelte verbissen zum Solo-Sieg - dem bisher wichtigsten in seiner Karriere. Es war bekannt, dass der 1,68 Meter große Franzose gute Gene hat: Opa Mariano Martinez gewann 1978 bei der Tour das Bergtrikot und die Pyrenäenetappe aufs Pla d’Adet vor Bernard Hinault, Vater Miguel war Olympiasieger auf dem Mountainbike und fuhr auch einige Jahre als Straßenprofi bei den Teams Mapei und Phonak. Wenn der 21-jährige Kletterer aus der dritten Rennfahrergeneration der Familie Martinez auf Gesamtklassement fahren soll, zeigt er noch Schwächen wie bei der Dauphiné. Aber auf einzelnen Etappen im Hochgebirge muss die Weltspitze mit dem Bergfloh vom Team Bahrain - Victorious rechnen - im zarten Alter von 20 Jahren verpasste er 2023 nur ganz knapp den ersten Tagessieg bei einer Grand Tour gegen Routinier Sepp Kuss, der erste Tour-Start im Vorjahr war eher eine harte Lehrzeit.