Radprofi zu sein, ist bisweilen ein schwerer Beruf. Tadej Pogacar erlebte das am Monte Grappa, am vorletzten Tag des Giro d’Italia 2024. Fans rannten zu Dutzenden neben ihm her, gaben kaum die Straße frei. Manche hauten ihm gar auf den Rücken. Immer wieder musste der Slowene Slalom fahren, um Kollisionen zu vermeiden. Er erinnerte an einen Schiffsführer, unterwegs in einem Gewässer mit vielen Riffen, obwohl ihm die Seekarte freie Fahrt versprochen hat. Ein paarmal blickte sich der Mann in Rosa erzürnt um. Er fuhr dann aber konzentriert weiter und erreichte schließlich die - spärlichen - Absperrgitter kurz vor dem Gipfel.
Die enthusiasmierten Fans auf der 20. Etappe stellten die möglicherweise größte Herausforderung für Pogacar bei diesem Giro dar. Der zweimalige Tour-de-France-Sieger meisterte auch das mit Bravour. Wie überlegen er bei seiner ersten Italien-Rundfahrt war, demonstrierte er ein paar Kilometer weiter. Da hatte er den Frust über die zudringlichen Fans schon verdaut. Als ein Junge neben ihm lief und ihn um eine Trinkflasche bat, reichte Pogacar das Bidon, das er just einen Moment zuvor von einem Betreuer erhalten hatte, an den kleinen Bewunderer weiter. “Ich habe mich in ihm wiedererkannt und mir vorgestellt, wie ich mich gefreut hätte, wenn ich damals eines bekommen hätte”, sagte er - und spielte auf den Giro von vor zehn Jahren an, als er als Halbwüchsiger am Straßenrand stand und die großen Jungs auf ihren schicken Rennmaschinen bewunderte. Als “Inspiration für eine ganze Generation” adelte die Gazzetta dello Sport diese Aktion.
Pogacar hielt auch Geschenke für die Älteren bereit. Dem Giro-Debütanten Giulio Pellizzari vermieste er zwar das ganz große Erlebnis, als er ihn auf der 16. Etappe abfing und selbst den Tagessieg holte. Er übergab dem jüngsten Profi des Giro nachher aber sein Rosa Trikot und auch die rosa Brille. Pellizzari war hin und weg. Er zeigte Pogacar seinerseits ein Foto, das ihn als halbwüchsigen Bewunderer des Slowenen bei den Strade Bianche 2019 abbildete. Damit war ein Kreis geschlossen: Von jungen Burschen, die zu nur wenig älteren aufschauen und sich von ihnen inspiriert fühlen. Man sollte sich den Knaben mit der Flasche vielleicht merken.
Pellizzari seinerseits gelang eine weitere bemerkenswerte Leistung. Nachdem ihn der UAE-Kapitän unterwegs aufgefordert hatte: “Komm mit mir mit”, hielt er ungefähr fünf Kilometer Schritt. Das war die rückblickend längste Zeit aller, die überhaupt versucht hatten, dem Slowenen bei seinen vielen Soloritten zu folgen. Daniel Martinez wagte es mal kurz, Ben O’Connor ebenfalls. Aber sie gerieten schnell in den roten Bereich. Routinier Geraint Thomas probierte es vernünftigerweise nicht einmal. Attila Valter erzählte, dass er sich auf einer Etappe mal extra darauf vorbereitet hatte, mit Pogacar mitzufahren, als der an seiner Ausreißergruppe vorbeizog. “Nach ein paar Minuten war ich aber fertig”, meinte der Ungarische Meister in Diensten von Visma | Lease a Bike. Immerhin sammelte er so ein paar Daten für seinen Rennstall, der Pogacar ja bei der Tour de France mehr zusetzen möchte.
Im Hause UAE war man vom Grad der Überlegenheit des eigenen Kapitäns bei diesem Giro überrascht. “Wir haben schon damit gerechnet, dass der eine oder andere auch mal am Rad von Tadej bleiben kann”, wunderte sich der Sportliche Leiter Fabio Baldato. “Wir haben auch nicht gedacht, dass der Abstand so groß wird”, spielte er auf die fast zehn Minuten Abstand zum Gesamtzweiten Martinez an. “Aber die Gegner haben sich eben frühzeitig aufeinander orientiert, auf den Kampf um den zweiten, dritten und vierten Platz”, hatte er selbst die Erklärung parat.
“Sie haben Pogacar kein einziges Mal richtig angegriffen”, bemerkte leicht erstaunt auch Marc Reef, Sportlicher Leiter bei Visma | Lease a Bike. Sein Rennstall hatte bei der Tour 2023 ja die Vorlage geliefert, wie man Pogacar erschüttern kann. “Man hätte Copy-and-paste machen können. Es gibt sicher auch andere Wege, anhand der Charakteristiken der eigenen Fahrer Pogacar zu erschüttern”, meinte Reef. Aber niemand ging diesen Weg, sei es aus mangelndem Zutrauen, sei es aus fehlender Kenntnis.
Pogacar konnte deshalb den Giro als prima Erfahrung verbuchen. “Ein tolles Rennen, viele fantastische Momente, super Fans”, sagte er. Ja, auch die Fans mochte er im Großen und Ganzen, bis auf die paar Deppen am Monte Grappa. Vor allem aber hatte er sein ganz großes Ziel erreicht. Er gehe “froh gestimmt und mit guten Beinen” aus dem Giro, sagte er. Genau das sah Teil eins des Double-Plans vor. Nicht nur den Giro zu gewinnen, sondern ihn auch gut gelaunt und bestens in Form zu beenden. “Wir wollten, dass Tadej in so guter Verfassung in den Giro geht, dass er sich nicht zu tief belasten muss und immer die geistige Frische behält”, offenbarte UAE-Teamchef Mauro Gianetti den Plan hinter dem Plan. Das gelang perfekt, wie nicht nur die Flaschen-Episode mit den jungen Fan beweist. Pogacar schien niemals an seine Grenzen gebracht, lächelte unentwegt und hatte auch nach den längsten Soloritten schnell wieder Luft für muntere Erklärungen.
Er und sein Betreuerstab scheinen in der Vorbereitung sehr viel richtig gemacht zu haben. Das Double-Vorhaben weckte neue Motivation bei “Pogi”. Er verzichtete weitgehend auf das Klassikerprogramm, konzentrierte sich im Training auf die langen Anstiege. Wie gut das anschlug, zeigen seine zahlreichen Solofahrten. Auch das Team ringsum wirkte schärfer. Colnago stellte ihm ein besseres Rad. “Wir haben vor allem auf Gewicht und Steifigkeit geachtet. Das Rad ist leichter und der Teil um das Tretlager herum eine richtige Festung”, meinte stolz ein Colnago-Sprecher. Pogacar selbst steckte zudem viel Ehrgeiz in die Optimierung seiner Sitzposition beim Zeitfahren. Er fand nach langem Auf und Ab, wie er selbst zugab, eine bessere Balance aus Aerodynamik und Kraftumsatz.
All das trug dazu bei, dass er zum “König von Rom” ernannt wurde, wie der Corriere della Sera titelte - und dass er den Ehrentitel “Kannibale” nach dem Vorbild von Eddy Merckx nun völlig zu Recht trägt, wie die Gazzetta dello Sport feststellte. Kritische Spitzen traute sich nur Visma-Chef Richard Plugge zu. “Wie gut Pogacar tatsächlich ist, wird man erst merken, wenn er auf ebenbürtige Gegner trifft”, meinte er und verwies auf das Fehlen seines Spitzenfahrers Jonas Vingegaard, des Slowenen Primoz Roglic und des belgischen Supertalents Remco Evenepoel bei diesem Giro. Bei der Tour wird es dann hoffentlich jemanden geben, der einen Plan hat, Pogacar zu erschüttern.
Pogacar selbst ist jetzt wieder da, wo man ihn bereits 2021 wähnte. Nach seinem zweiten Toursieg in Folge schien es nur eine Frage der Zeit, wann er dem Klub der Fünfmal-Gewinner beitreten würde. Dann aber kamen Jonas Vingegaard und Jumbo-Visma mit dem Zermürbungsansatz. Pogacars aktuelle Verfassung ist die Reaktion genau darauf. Selbst wenn die Ergebnisse sich ähneln, die Fahrer ganz vorne dieselben bleiben: Wie sie das schaffen, das ändert sich. Der Radsport bleibt also im Wandel.