Für den Helden geht ein Kindheitstraum in Erfüllung. Denn der Giro d’Italia bewegt lange schon das Herz des Tadej Pogačar. “Bereits als Kind habe ich mir gerne den Giro im Fernsehen angeguckt. Mein Vater hat mich sogar zu einigen Etappen mitgenommen. Italien ist ja nicht so weit von Slowenien entfernt”, sagte Pogačar im Hinblick auf seine ersten Begegnungen mit dem Giro d’Italia. Mit speziellen Erinnerungen verknüpft ist dabei sein Besuch bei der Etappe 2014 in Triest, ganz nahe der slowenischen Grenze. “Da gewann unser Landsmann Luka Mezgec. Das war besonders”, erinnert sich Pogačar.
In diesem Jahr will er sich nicht nur darüber freuen, wenn ein Slowene die letzte Etappe gewinnt. Er selbst will gleich im ersten Anlauf die gesamte Rundfahrt gewinnen. “Italien hat mich als Radsportler geprägt. Einerseits durch die Rennen, die ich sah. Mein Lieblingsessen, als ich selbst mit Rennen begann, waren auch Pasta und Pizza. Seit Jahren wollte ich daher auch beim Giro starten. Aber mein Team ließ mich nicht. Sie wollten, dass ich langsam wachse, nur eine große Rundfahrt pro Jahr mache. Aber jetzt fühle ich mich bereit dafür”, erklärte er.
Es kommt also ein Fan nach Italien, der vor Sehnsucht nach dem rosa Rennen regelrecht brennt. Es handelt sich dabei um einen Fan, der seinerseits viele Fans mobilisiert. Jahrelang hatte Giro-Ausrichter RCS darauf hingearbeitet, auch der Entourage von Pogačar eine Teilnahme schmackhaft zu machen. Der Parcours wurde nach Slowenien ausgedehnt (2021) oder zumindest in die Nähe gelegt (2023). Anlocken ließ sich bisher aber nur der andere Slowene. Primož Roglič gewann den Giro im vergangenen Jahr auch deshalb, weil er beim grenznahen Zeitfahren auf einen Helfer aus alten Skisprungzeiten in Slowenien – Mitja Meznar – bauen konnte.
Für Pogačar war bislang immer die Tour de France wichtiger. 2020 gewann er sie überraschend gleich im ersten Anlauf. 2021 siegte er ganz souverän. Den sicher geglaubten dritten Erfolg schnappte ihm Jonas Vingegaard weg. 2023 verhinderte ein Sturz beim Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich, dass er in Bestform zur Großen Schleife aufbrach. Er wurde immerhin Zweiter. In diesem Jahr legt er sich selbst Hindernisse in den Weg. Vor der Tour bestreitet er den Giro. Das Double hat seit 1998 niemand mehr geholt. 1998, das war im vergangenen Jahrhundert, ganz andere Zeiten. EPO war im Umlauf und im Peloton weit verbreitet.
Marco Pantani, der Double-Sieger in jenem Jahr, konnte seinen von Natur aus recht geringen Hämatokritwert auf Höhen jenseits der 50 tunen, wie diverse medizinische Unterlagen zeigten. Nach dem Italiener gelang das Double niemandem mehr. Weder Alberto Contador, der zweimal die große Aufgabe in Angriff nahm. 2011 und 2015 gewann er jeweils den Giro, wurde aber nur 5. bei der Tour. Den Giro-Titel 2011 musste er wegen Dopings auch noch zurückgeben. Bradley Wiggins versuchte sich am Giro 2013, mit den frischen Meriten des Tour-Siegers 2012. Aber es ging furchtbar schief. Der Brite stürzte, er hatte Angst in den Abfahrten und zitterte zudem vor Kälte. Er stieg aus und keine große Rundfahrt sah ihn jemals wieder als aktiven Fahrer.
Die Beispiele zeigen die Größe der Aufgabe, die vor Pogačar liegt. Ihn treibt allerdings auch eine doppelte Motivation an. Neben der bislang unerfüllten Liebe zum rosa Rennen handelt es sich um den Wunsch, sich in den Geschichtsbüchern zu verewigen. “Ich will der Beste in der Geschichte sein”, verkündete er in der Sportzeitung L’Équipe seine Ambitionen. Da gehört das Double aus Giro und Tour natürlich dazu.
Nach seinem dritten Tour-Sieg will er dann den “Rest” anpeilen: einen Sieg bei der Vuelta in den nächsten Jahren, Olympiagold selbstverständlich und das Regenbogentrikot, Mailand-Sanremo endlich, das er auch im vierten Anlauf in diesem Jahr noch nicht gewann. Und erst viel, viel später das letzte Monument, Paris-Roubaix. “Roubaix ist für die nächsten Jahre nicht vorgesehen. Ich müsste, um dort in guter Form anzukommen, mein Programm komplett ändern. Vorher will ich die machbareren Dinge erledigen”, meinte er. Dazu gehört dann auch das Double.
Teilaufgabe 1 wird ihm dabei ein wenig erleichtert. Der Giro beinhaltet etwa 10.000 Höhenmeter weniger als noch im vergangenen Jahr. Die letzte Woche wurde auch entschärft. Nur zwei Bergankünfte gibt es – Val Gardena und Passo del Brocon (16. und 17. Etappe). Hinzu kommt am vorletzten Tag der Monte Grappa mit Steigungen bis zu zwölf Prozent. 2014 legte hier Nairo Quintana mit einem Sieg beim Bergzeitfahren die Grundlage für seinen späteren Gesamterfolg. Quintana dürfte übrigens in diesem Jahr das größte Hindernis für Pogačar in Teil 1 des Double-Versuchs darstellen.
Die ganz großen Rivalen konzentrieren sich auf die Tour. Vingegaard will dort sein Triple perfekt machen, Roglič den Kreis der Siege bei großen Rundfahrten endlich schließen und Remco Evenepoel unter Beweis stellen, dass auch er bei der Tour reüssieren kann. Die Startliste für Italien liest sich wesentlich weniger spektakulär. Bora-Hansgrohe schickt den Kolumbianer Daniel Martínez ins Rennen, zusätzlich mit wohl eher freien Rollen die Deutschen Lennard Kämna und Emanuel Buchmann. Ineos Grenadiers dürfte es mit Oldie Geraint Thomas versuchen. Für einen Podiumsplatz ist auch Lokalmatador Damiano Caruso (Bahrain-Victorious) immer gut. Team Visma I Lease a Bike will mit Wout van Aert eher auf Etappenjagd gehen.
Im Hinblick aufs Gesamtklassement ist Pogačar tatsächlich eine ganze Klasse besser – und wohl auch der Magnet, der Zuschauer an die Straße und Konsumenten an die Monitore holen wird. Entgegen kommen dem Slowenen zudem die vielen Zeitfahrkilometer. Ein langes Zeitfahren über 38,5 km, von denen die ersten 30 eher flach sind, steht bereits am 7. Tag an. 31 vollkommen flache Kilometer bilden die Etappe 14 am Gardasee. Für Kletterer, die Pogačar herausfordern wollen, ein echtes Handicap. Auch die zwölf Kilometer toskanischer Schotterpiste auf der 6. Etappe sind wie gemacht für den überlegenen Sieger der Strade Bianche. Hätte er selbst den Kurs zeichnen müssen, er wäre wohl kaum anders ausgefallen.
Für das große Abenteuer Double hat Pogačar einiges geändert. Er wechselte den Trainer, Javier Sola statt Inigo San Millan steuert seine Vorbereitung. Der Baske ging zum Fußballklub Athletic Bilbao – eine ganz neue Herausforderung. Auch Pogačar brauche neue Stimuli, meinte UAE-Sportdirektor Matxin Fernandez. Daher das Double, verhältnismäßig wenige Renntage im Frühjahr und nach dem Block Tour/Olympia eine Pause, um dann als letzten Höhepunkt die WM anzugehen. “Die Vuelta 2023 werden wir auslassen, um nicht zu viele Grand Tours hintereinander zu haben”, erklärte Fernandez die Grobplanung.
Beim Giro muss der überragende Akteur des Frühjahrs gleich von Beginn an hellwach sein. Nach einer Schleife rings um Turin, bei der auch hoch zum Mahnmal von Superga gefahren wird, wo 1949 die gesamte Fußballmannschaft des FC Turin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, steht am zweiten Tag das Santuario Oropa als Zielort an. Hier hatte Double-Vorbild Pantani einen seiner legendärsten Auftritte. Er holte nach einem Defekt im Alleingang 49 Konkurrenten ein. Weitere Schlüsseletappe ist Tag 15 mit Überfahrt über den Mortirolo und Bergankunft in Livigno. Kommt Pogačar dort überall gut durch, dann winkt ihm die Triumphfahrt durch Rom, passenderweise am Kolosseum vorbei und mit dem Zielstrich an den Kaiserforen. Wie gemacht also für den kleinen blonden Cäsar des Straßenradsports.