Thomas Goldmann
· 15.05.2023
Remco Evenepoel wurde positiv auf Corona getestet und musste den Giro d’Italia als Gesamtführender aufgeben. Wie verändert das Ausscheiden des Top-Favoriten die Dynamik des Rennens?
“Mit schwerem Herzen muss ich verkünden, dass ich den Giro d’Italia aufgrund eines positiven Corona-Tests verlassen muss”, schrieb Remco Evenepoel am Sonntagabend, nachdem sein Team kurz zuvor über die Aufgabe des Belgiers informiert hatte.
Corona ist beim Giro d’Italia 2023 allgegenwärtig. Bereits sechs Fälle gab es während der diesjährigen Italien-Rundfahrt: Clement Russo (Arkea-Samsic), Nicola Conci (Alpecin-Deceuninck), Giovanni Aleotti (Bora-Hansgrohe), Filippo Ganna (Ineos Grenadiers), Rigoberto Uran (EF Education EasyPost) und jetzt Evenepoel.
Dazu kommen weitere positive Tests vor dem Start. Besonders gebeutelt wurde Jumbo-Visma, das Team von Primoz Roglic. Zunächst wurde das Virus bei Robert Gesink und Zeitfahr-Weltmeister Tobias Foss nachgewiesen, dann beim nachnominierten Jos van Emden. Auch die Mannschaft Ineos Grenadiers ist durch die coronabedingte Aufgabe von Ganna geschwächt. Mit Geraint Thomas übernimmt nach dem Ausfall von Evenepoel ein Fahrer der britischen Equipe das Rosa Trikot und hat gute Chancen, nach der Tour de France 2018 auch den Giro d’Italia zu gewinnen. Doch mit welcher Taktik?
Auf dem Papier hat Ineos Grenadiers die beste Ausgangslage unter den Klassementteams beim Giro d’Italia 2023: Gleich fünf Ineos-Fahrer befinden sich unter den Top 15 der Gesamtwertung: Laurens De Plus (13./+2:36), Thymen Arensman (12./+2:32), Pavel Sivakov (9./+2:15) sowie die beiden Kapitäne Tao Geoghegan Hart (3./+0:05) und Thomas als Gesamtführender. Eine große Phalanx, die darauf ausgelegt war, Evenepoel abwechselnd in den Bergen anzugreifen. Nun ist man mit Thomas plötzlich da, wo man am Ende des Giro d’Italia 2023 stehen möchte: an der Spitze der Gesamtwertung. Der Vorsprung auf Roglic beträgt aber nur zwei Sekunden. Was also tun? Verwalten oder in den Angriffsmodus schalten? Letzteres wäre naheliegend, um auf Nummer sich zu gehen und die Konkurrenz noch deutlicher zu distanzieren.
Geraint Thomas äußerte sich bezüglich seiner Erwartungen am Ruhetag. “Ich trage Rosa, aber Roglic ist sehr stark. Das Rennen ist völlig offen. Wir haben mehrere Karten, mit denen wir spielen können. Tao und ich sind gleich stark. Wenn er beweist, dass er stärker ist, werde ich sicherlich für ihn arbeiten”, meinte der Tour-de-France-Sieger.
Und was ändert sich mit dem Ausscheiden von Evenepoel? Auch dazu bezog Thomas Stellung. “Noch gestern dachte ich, dass ich in der dritten Woche Minuten aufholen müsste. Ich hatte nicht erwartet, dass ich schon am ersten Ruhetag vorne sein würde. Wir müssen jetzt nicht jagen, aber wir haben auch nicht vor, anders zu fahren.”
Allerdings dürfte die Taktik der Briten etwas anders aussehen als ursprünglich geplant bei diesem Giro d’Italia. Anstatt abwechselnd mit mehreren Fahrern zu attackieren, müssen sie nun mit dem Rosa Trikot die Last des Rennens tragen. Es könnte ähnlich ablaufen wie in den Jahren, als die heutige Mannschaft Ineos Grenadiers unter dem Namen Sky die Tour de France dominierte. Mit Fahrern wie Chris Froome, Bradley Wiggins oder eben Geraint Thomas wurde mit einem hohen Tempo am Berg die Konkurrenz ans Limit geführt, ehe dann der Kapitän selbst antrat und das Werk vollendete.
Hauptkonkurrent von Ineos dürfte Primoz Roglic sein. Vor dem Giro d’Italia 2023 deutete vieles auf ein Duell zwischen Remco Evenepoel und Roglic hin. Die beiden Ausnahmefahrer galten als DIE Top-Favoriten. Da Evenepoel nun nicht mehr im Rennen ist, sollte Roglic der Mann sein, auf den alle schauen. Doch der bisherige Verlauf des Giros lässt Zweifel aufkommen. In den beiden Zeitfahren blieb der Slowene hinter den Erwartungen und war am Sonntag sogar langsamer als die beiden Ineos-Kapitäne Geraint Thomas und Geoghegan Hart. Zudem ist das Team Jumbo-Visma in den Bergen in der Breite nicht auf dem Niveau von Ineos Grenadiers.
Für Roglic spricht, dass er explosiver ist als die beiden Chefs von Ineos und sich somit bei Ankünften von kleinen Gruppen immer wieder Bonifikationssekunden sichern könnte. Zumal er auch schon Akzente setzte - wie bei seinem Angriff auf dem Weg nach Fossombrone am vergangenen Samstag.
Die beiden Bora-Hansgrohe-Profis Aleksandr Vlasov (+1:03) und Lennard Kämna (+1:52) belegen nach dem Ausscheiden von Evenepoel die Ränge sechs und acht und sind noch in Schlagdistanz zur Spitze. Grundsätzlich dürfte sich an der Taktik des Raublinger Rennstalls nach dem Aus von Evenepoel beim Giro d’Italia 2023 erstmal nichts ändern. “Für mich geht es darum, nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Wir werden in der letzten Woche sehen, wie es im Gesamtklassement aussieht”, meinte Kämna am Ruhetag in einer Medienrunde.
Während die Gesamtwertung für den Deutschen Neuland ist, hat sein Teamkollege Vlasov dort schon mehr Erfahrung und mit Rang fünf bei der letzten Tour de France bewiesen, dass er weit vorne landen kann. Der Bergspezialist wird wohl zunächst auch erst einmal abwartend agieren und voll auf die dritte Woche bauen. “Jetzt geht es um Sekunden, in der dritten Woche werden es Minuten sein. Meine Form wird besser und besser. Ich hoffe, dass ich in der dritten Woche bereit bin. Der Ausfall von Remco ändert die Dinge, aber es gibt genug starke Fahrer”, erklärte der 27-Jährige.
Neben Bora-Hansgrohe hat auch UAE Team Emirates noch zwei heiße Eisen im Feuer: Joao Almeida (aktuell 4. mit 22 Sekunden Rückstand) und Jay Vine (10./+2:24). “Das ändert viel. Er (Evenepoel, Anm. d. Red.) war einer der Hauptanwärter auf den Gesamtsieg. Mein Ansatz wird sich aber nicht großartig verändern”, erklärte Almeida am Ruhetag. “Auch Jay Vine hat seine Ziele im Klassement. Ich denke, dass ich immer noch Plan A bin, aber es ist gut, mehr als eine Taktik zu haben und in die letzte Woche mit mehreren Optionen zu gehen”, führte der Portugiese weiter aus.
Und auch Bahrain-Vicorious kann noch mit einer Doppelspitze operieren. Damiano Caruso als Siebter mit 1:28 Minuten Rückstand und Jack Haig als 15. mit 2:58 Minuten Rückstand sollte man nicht unterschätzen. Vor allem Caruso wusste im Zeitfahren am Sonntag zu überraschen und verlor lediglich 41 Sekunden auf Geraint Thomas - für einen Bergfahrer wie den 35-jährigen Italiener durchaus eine starke Leistung, wenn man bedenkt, dass sein Terrain erst noch kommt.