500 Meter fehlten am Ende. 500 Meter zum letzten großen Ziel, einem Etappensieg beim Giro d’Italia. Romain Bardet hat sehr viel erreicht in seiner Karriere. Aber er will noch mehr. Auf der 13. Etappe hatte der Profi vom Team Picnic-PostNL sein letztes großes Ziel in Sichtweite. In der letzten Abfahrt des Tages hatte er das Gespür, das etwas gehen könnte, als das Peloton rund neun Kilometer vor der Ziellinie etwas zurückhaltend bergab rollte. Er griff an, der Tscheche Matthias Vacek (Lidl-Trek) folgte. “Als ich im Finale eine Chance sah, habe ich es einfach versucht”, sagte er im Ziel. Bardet hatte es wieder einmal versucht, wieder einmal vergeblich. Im Schlussanstieg fuhr er nach einem Blick zurück zur Seite - 500 Meter vor der Ziellinie. Nach 180 Kilometer vollem Arbeitseinsatz an diesem Tag. Das rasende Peloton war zu nah - Mads Pedersen sprintete zum vierten Etappensieg bei dieser Italien-Rundfahrt. Die Geschichte von Romain Bardet ist auch eine Geschichte vom ewigen Versuchen, vom häufigen Scheitern, von relativ seltenen Erfolgen.
Der 34-jährige Franzose ist einer der herausragenden Radsportler seiner Generation. Er war bei der Tour de France Zweiter und Dritter, Vize-Weltmeister, Zweiter bei Lüttich-Bastogne-Lüttich. Aber er hat auch vier Etappensiege bei der Tour erreicht, einen bei der Spanien-Rundfahrt. Nun bestreitet der 34-jährige Franzose sein letztes ganz großes Etappenrennen, den Giro d’Italia. Ein Sieg dort fehlt ihm noch. Es würde die Aufnahme in den illustren Kreis der Radsportler bedeuten, die bei allen drei großen Landesrundfahrten eine Etappe für sich entscheiden konnten. 112 Namen umfasst die Liste (Stand bei Redaktionsschluss) - nicht sehr viele angesichts der bald 100-jährigen Geschichte der drei bedeutendsten Mehrtagesrennen.
Mit der Tour de France hat er bereits abgeschlossen. Mit der Grande Boucle verband ihn so etwas wie eine Art Hassliebe. Das Rennen in Bardets Heimat ist das große Ziel aller Radsportler, die größte Bühne, aber sie verursacht auch den größte Druck. Im Vorjahr erreichte Bardet dort das letzte, selbst gesetzte große Ziel - ausgerechnet in Italien: Nach einer Attacke an der Seite seines niederländischen Teamkollegen Frank van den Broek gewann er die Auftakt-Etappe nach Rimini und eroberte zum ersten Mal in seiner Karriere das Gelbe Trikot - das Stück Stoff, von dem die Franzosen so lange gehofft hatten, dass es Bardet einmal nach Paris, bis zum Schluss tragen könnte. Der Hoffnungsträger selbst hatte diese Hoffnung schon länger nicht mehr - das Rennen 2022 sei seine letzte Chance gewesen, in der Gesamtwertung ganz vorne mitzumischen, ließ er sich zuletzt vernehmen. “Es ist etwas anders als früher, als ich noch wirklich aufs Gesamtklassement gefahren bin. Jetzt picke ich mir einzelne Tage heraus, an denen ich 105 Prozent geben will. An anderen Tagen versuche ich mich zu erholen”, sagt Bardet.
Bardet, der stets seinen eigenen Kopf hatte, hat sich zum Abschluss zu einer Art Liebesbeweis entschieden - er hofiert Italien, den Giro und hofft darauf, die Corsa Rosa möge seinem Werben nach einem letzten großen Erfolg nachgeben. “Die Tour de France wird sehr kontrolliert gefahren, es ist dort nicht so einfach aufzufallen. Der Giro ist ein Rennen, das mehr Chancen für Angreifer bietet, ein viel offeneres Rennen”, hatte der Franzose einst analysiert. Bei seinem langjährigen Team AG2R musste er kämpfen, um endlich einmal dem Giro den Vorzug vor der Tour geben zu dürfen. Für die Saison 2020 war es bereits abgemacht - dann kam die Pandemie. Erst der Wechsel in die Niederlande zum Vorgänger des jetzigen Teams Picnic-PostNL zur Saison 2021 bot ihm die Chance, den Giro zu bestreiten. “Die Menschen hier sind sehr leidenschaftlich. Sie kennen jeden Rennfahrer mit Namen”, sagte er vor seinem finalen Auftritt in Italien.
Nun ist er zum vierten Mal dabei. Vor dem Start kündigte er an, er wolle offensiv fahren, Etappen jagen, seinem Renninstinkt folgen. “Ich fahre mit dem Herzen”, pflegt er zu sagen. Die ersten zwei Wochen versuchte er es immer wieder. Eine Woche bleibt noch, um Italien, den Tifosi etwas zurückzugeben. “Es ist das einzige Rennen im World-Tour-Kalender, in dem ich mich noch nicht so gezeigt habe, wie ich das gerne möchte”, begründete er seine Entscheidung, in Italien adieu bei einer Grand Tour zu sagen. Vor dem Ruhetag, vor der Schlusswoche im Hochgebirge, sagte er: “Ich muss mich erholen und ab Dienstag (27.5.) , müssen wir die entscheidenden Momente für mich herauspicken. Es gibt noch ein paar brutale Etappen.” Man muss dazu sagen: Bardet gefällt es, wenn die Strecken brutal schwer sind - die Konkurrenz sollte gewarnt sein.
Wenn es in Italien nicht klappen sollte mit einem letzten Sieg, bleibt für weitere Erfolge nur seine Abschiedsrunde. Sein letztes Rennen wird das Critérium du Dauphiné. Das Etappenrennen führt von 8. bis 15. Juni 2025 auch durch seine Heimat, die Auvergne. Eine Etappe startet in seiner Geburtsstadt Brioude, in deren Nähe er bis heute mit seiner Familie lebt. Die Streckenplaner vom Rennveranstalter ASO haben für die dritte Etappe eine Strecke geplant, die Bardet gefallen könnte. Schon am Stadtrand von Brioude geht es länger bergauf. Chance für eine Attacke “à la pedale”, wie es im Radsportjargon heißt, wenn sich pure Stärke durchsetzt. Als sicher darf gelten: Bardet will es versuchen, wenn es irgendwie geht. Bis zum Schluss. Bis zum 15. Juni 2025, der letzten Etappe der Dauphiné.