Wenn Wout van Aert an gewisse Rennen der Vorsaison zurückdenkt, dann dürfte er möglicherweise einen Stich in der Magengegend verspüren, ein Gefühl des Unbehagens. Denn richtig glücklich verlief das Frühjahr nicht. Da wäre zum einen, dass er erneut ohne Sieg bei einem der großen Eintagesrennen blieb, und zum anderen, dass gleich mehrere dieser Rennen an Mathieu van der Poel gingen. Es wäre verwunderlich, wenn der zweite Punkt van Aert nicht beschäftigen würde – zu ähnlich sind die Karrieren der beiden geschnitzt, zu sehr stehen sie öffentlich in einem Konkurrenzverhältnis. Und in diesem Duell kam van der Poel mit dem WM-Titel und den Siegen bei Mailand-San Remo und Paris-Roubaix im Vorjahr deutlich besser weg.
Dabei ist die eigene Siegesliste von van Aert lang und prominent: neun Tour-de-France-Etappensiege, Mailand-San Remo, Gent-Wevelgem, Strade Bianche, Omloop het Nieuwsblad sowie zwei Siege beim E3 Harelbeke. Der Belgier ist zweifelsfrei einer der erfolgreichsten Profis der Gegenwart, er zieht seit Jahren allerdings ein gewichtiges Aber hinter sich her. Es geht um die Lücken in seiner Erfolgsvita: Sein bislang einziges Monument gewann er 2020 bei Mailand-San Remo.
Für andere große Klassiker wie die Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix gilt indes: Oft nahe dran, aber nie ganz oben. Zumal Dauerrivale van der Poel beide bereits gewonnen hat, die Flandern-Rundfahrt sogar doppelt. Gewiss dürfte das van Aert ärgern. Zieht man daher aktuell einen Bilanzstrich unter seine Karriere, manch einer würde argumentieren, van Aert hätte zu wenig gewonnen. “Ein Sieg bei einem Monument ist alles, was zählt. Jemand von seinem Niveau fährt, um diese Rennen zu gewinnen”, sagte Tom Boonen bereits vor zwei Jahren.
Für van Aert geht es inzwischen auch darum, wie irgendwann auf seine Karriere zurückgeblickt wird. In diesem Jahr feiert er seinen 30. Geburtstag. Damit ist er laut allgemeiner Lehre auf dem leistungsmäßigen Höhepunkt seiner Karriere, es bedeutet aber auch: Die Chancen auf die großen Siege werden weniger. Womöglich spielte das eine Rolle, um dieses Jahr vieles anders anzugehen – bei der Betreuung, der Saisonvorbereitung und dem Rennprogramm.
Der Trainerwechsel war indes nicht van Aerts Entscheidung. Sein langjähriger Vertrauter Marc Lamberts folgte im Winter Primoz Roglic von Visma | Lease a Bike zu Bora-Hansgrohe. Für diese Saison ist nun Mathieu Heijboer sein Trainer, beide arbeiteten allerdings zuvor schon zusammen. Eine andere Entscheidung fällten er und sein Team hingegen schon nach der Frühjahrskampagne 2023: Es braucht weniger Cyclocross-Rennen im Winter.
“Wir haben festgestellt, dass wir in den vergangenen Jahren zu viel Energie in den Cyclocross gesteckt haben, ohne es zu merken. Es war eine schwierige Entscheidung, aber sie beruhigt mich”, sagte van Aert im Dezember bei der Teampräsentation. Denn laut Aussage seines neuen Trainers Heijboer beim Portal “WielerFlits” folgte nach der Cyclocross-Saison 2023 bei van Aert ein “Einbruch, sowohl körperlich als auch geistig, er war auch krank. Und so lief uns die Zeit für die Vorbereitung auf das Frühjahr auf einmal davon.”
In diesem Winter nahm van Aert nur an neun Cross-Rennen teil, was in Summe allerdings nicht viel weniger sind als die 14 und zehn Starts in den beiden Vorjahren. Es ging aber insbesondere um eine geringe Intensität: Nicht bei jedem Rennen bis ans Maximum gehen, und nicht zu viele Rennen bestreiten, die direkt aufeinander folgen. Zudem ließ van Aert die Weltmeisterschaft zum Abschluss der Cross-Saison aus. “Wir haben gelernt, dass eine Weltmeisterschaft einen zu großen Einfluss auf Wouts Frühling hat. Vor allem die Vorbereitung auf eine solche Weltmeisterschaft”, so Heijboer weiter. Nun gab es für van Aert zu Jahresbeginn mehr Ruhephasen und mehr Trainingseinheiten mit Blick auf die Straßensaison.
Einen neuen Weg geht das Team ebenso beim Rennkalender. Im Vorjahr startete van Aert erst im März bei Tirreno-Adriatico in die Saison, ließ zuvor das sogenannte “Opening Weekend” der flämischen Klassikersaison aus Omloop het Nieuwsblad und Kuurne-Brüssel-Kuurne aus. Dies sollte ihn in Top-Verfassung an den Start der Flandern-Rundfahrt bringen, ging jedoch nicht wie erhofft auf – auch da van Aert zwischenzeitlich krank wurde. “Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass ich 2023 jemals auf meinem besten Niveau war”, sagte van Aert rückblickend auf die vergangene Saison.
Dieses Jahr geht man den umgekehrten Weg: Mit der Clasica de Almeria am 11. Februar startete van Aert so früh wie nie zuvor in die Saison. Das “Opening Weekend” gehört ebenfalls wieder ins Rennprogramm, bevor er eine längere Rennpause einlegt. Keine Strade Bianche, kein Tirreno-Adriatico oder Mailand-San Remo – stattdessen ein Trainingsblock mit Höhentrainingslager. Eine bemerkenswerte Entscheidung. “Das war nicht einfach, auf diese Rennen zu verzichten. Aber wenn man das Gesamtbild betrachtet, steht van Aert hinter dieser Entscheidung”, sagt Heijboer.
Erst beim E3 Harelbeke kehrt van Aert für die entscheidende Phase der flämischen Klassikersaison zurück ins Peloton. Weniger und gezieltere Renneinsätze, mehr Erfolgsaussichten zum richtigen Zeitpunkt – so die erhoffte Gleichung bei Visma |Lease a Bike. Es soll van Aert die letzten, entscheidenden Prozentpunkte bringen.
Denn schlecht war der Belgier bislang nie unterwegs. An ihm zeigt sich jedoch exemplarisch, wie schwierig es ist, ein Monument zu gewinnen – selbst für einen Fahrer seiner Spitzenklasse. Von bislang 17 Teilnahmen an den Radsport-Monumenten kam er 14-mal unter die Top Ten sowie sieben Mal aufs Podium – aber nur einmal als Gewinner. In der Vorsaison landete van Aert jeweils auf Platz drei bei Mailand-San Remo und Paris-Roubaix sowie auf Rang vier bei der Flandern-Rundfahrt. Gute Ergebnisse. Für ein Kaliber wie van Aert jedoch Niederlagen.
Was erschwerend hinzukommt: Seine Bilanz der knapp verpassten Siege lässt sich erweitern auf andere große Rennen. Bei der Weltmeisterschaft musste er sich im Zeitfahren und auf der Straße bislang je zweimal mit Silber begnügen, ebenfalls Platz zwei erreichte er beim Olympischen Straßenrennen 2021 in Tokio. Bei der Straßen-EM im Vorjahr gab es ebenfalls nur Silber, dazu Bronze im Zeitfahren.
Bei allen bisherigen Erfolgen: van Aert befindet sich an einem Kipppunkt, an dem seine Karriere allmählich von den Rennen definiert wird, die er nicht gewonnen hat. Die gute Nachricht mit Blick auf die Klassiker: Tadej Pogacar verzichtet dieses Jahr auf die flämischen Rennen; die schlechte: Mathieu van der Poel ist weiterhin am Start (Omloop het Nieuwsblad ausgenommen) – und schien zuletzt van Aert stets einen Tick überlegen zu sein. Der Niederländer ist die große Hürde bei den anstehenden Klassikern. Für den Erfolg lässt van Aert im Vorfeld aber zumindest nichts unversucht.