Ein Kurs für Spezialisten? Wohl eher nicht. Beim diesjährigen Einzelzeitfahren der WM in Ruanda dürfte kein klassischer Zeitfahr-Spezialist gewinnen, zumal viele gar nicht an den Start gehen. Zu viele Höhenmeter schrecken die besten Fahrer im Kampf gegen die Uhr eher ab - Gesamtklassement-Fahrer haben hier einen deutlichen Vorteil und machen den Titel wohl eher unter sich aus. Bei einer Weltmeisterschaft gibt es ein solches Zeitfahren nicht oft, zuletzt war es 2017 der steile Schlussanstieg in Bergen, das der Niederländer Tom Dumoulin gewann.
***** Tadej Pogačar, Remco Evenepoel
**** Primož Roglič
*** Jay Vine
** Isaac del Toro, Bruno Armirail
* Mattia Cattaneo, Mauro Schmid, Ilan van Wilder, Stefan Küng, Iván Romeo, Luke Plapp, Thymen Arensman
* Je mehr Sterne ein Fahrer erhält, desto höher sind seine Chancen einzuschätzen
Beim Zeitfahren des Critérium du Dauphine wirkte Tadej Pogačar unzufrieden und fast ein wenig ratlos, weshalb er auf Jonas Vingegaard knapp 28 Sekunden verlor. Bei der Tour de France war dann alles wie immer. Der Slowene belegte beim flachen Zeitfahren den zweiten Platz, hinter dem Belgier Evenepoel, und gewann das Bergzeitfahren dominant. Auf einer flachen Strecke dürfte Pogačar gegen die absoluten Spezialisten keine Chance haben, was man bei der UAE Tour zu Beginn des Jahres sehen konnte. Dort musste er sich Joshua Tarling und Stefan Bisseger geschlagen geben. Die 680 Höhenmeter spielen ihm jedoch in die Karten. Dass er am Berg der Stärkste ist, hat er mehrfach eindrucksvoll bewiesen, es stellt sich nur die Frage, ob er Remco Evenepoel die Stirn bieten kann. Möglich scheint für Pogačar aktuell so ziemlich alles, auch der Gewinn des doppelten Weltmeister-Trikots.
Seit zwei Jahren schlüpft Remco Evenepoel in das Weltmeistertrikot, sobald zum Einzelzeitfahren angetreten wird. Der Weltmeister der vergangenen beiden Jahre ist neben seinen Gesamtklassement-Ambitionen ein absoluter Spezialist im Kampf gegen die Uhr. Regelmäßig gewinnt er gegen die anderen, eher groß gewachsenen Spezialisten und schnappt ihnen dank seiner Aerodynamik den Tagessieg weg. Bei der Frankreich-Rundfahrt zeigte er dies eindrucksvoll auf der fünften Etappe, musste jedoch beim Bergzeitfahren einige Tage später eine krachende Niederlage hinnehmen. Der WM-Kurs ist zwar kein Bergzeitfahren, ist mit seinen 680 Höhenmetern aber alles andere als flach. Nicht umsonst stehen die meisten anderen Spezialisten nicht am Start des Einzelzeitfahrens. Die kurzen knackigen Anstiege dürften eher Tadej Pogačar liegen, auf dem Rest der Strecke könnte Evenepoel jedoch die Nase vorn haben. Drei WM-Titel im Einzelzeitfahren in Folge schafften bis heute nur zwei Personen. Der Australier Michael Rogers und der Deutsche Tony Martin. Remco Evenepoel könnte der Dritte im Bunde dieses elitären Klubs werden.
Der zweite Slowene unter den Topfavoriten ist Primož Roglič. Mit seinen 35 Jahren ist er der Erfahrenste und beim Einzelzeitfahren immer für eine Überraschung gut. Aber Roglič hat bei dieser Disziplin auch immer wieder schlechte Tage, kommt weit hinter seinen eigenen Erwartungen und denen der Fans, ins Ziel. An anderen Tagen kommt er fast an die Zeiten der Spezialisten heran und das auf fast flachen Kursen. Seine Saison lief eher mittelmäßig, den Giro d’Italia musste er aufgeben, bei der Tour de France landete er als Achter hinter seinem jungen Teamkollegen Florian Lipowitz. Aber: Roglič kann Einzelzeitfahren mit Höhenmetern. Beim Bergzeitfahren der Frankreich-Rundfahrt zeigte er eine starke Leistung, musste sich nur Pogačar und Vingegaard geschlagen geben. Wenn Roglič einen guten Tag erwischt, kann er um den Sieg mitfahren.
Der Edelhelfer im UAE-Team mischt bei Einzelzeitfahren immer vorne mit. Auch wenn der Australier in dieser Saison keines gewinnen konnte, belegte er fast immer einen Platz in der Top 5 und war dabei teilweise schneller als sein Kapitän. Bergauf kann Vine sowieso, grade erst gewann er das Berg-Trikot bei der Spanien-Rundfahrt und sicherte sich zwei Etappensiege mit Schlussanstieg. Ob ihm die eher kurzen Anstiege liegen ist fraglich, gegen seinen Teamkollegen Tadej Pogačar und Remco Evenepoel dürfte es aber schwierig werden.
Isaac del Toro ist der Dritte im Bunde der Favoriten aus dem UAE Team Emirates - XRG. Eindrucksvoll gestaltete der erst 21-jährige Mexikaner seinen Auftritt auf der ganz großen Bühne, indem er den Sieg bei der Italien-Rundfahrt nur knapp verpasste. Bei flachen bis welligen Zeitfahren konnte del Toro bis jetzt noch nicht glänzen, landete in dieser Saison gute, aber keine herausragenden Ergebnisse bei Einzelzeitfahren. Eine gute Platzierung dürfte dank der Kursführung aber drin sein.
Der dreimalige und amtierende französische Zeitfahrmeister mischt bei Zeitfahren meistens um die Top 10 mit. Bei Zeitfahren mit nennenswerten Höhenmetern fehlten Armirail in der letzten Saison starke Ergebnisse, der Franzose fuhr bei welligen Einzelzeitfahren in dieser Saison jedoch schon in die Top 5. Als Spezialist dürfte auch er mit dem Kurs bei der diesjährigen Weltmeisterschaft seine Probleme haben, könnte jedoch an einem guten Tag für eine gute Platzierung sorgen.
Die schon genannten Favoriten werden durch eine Reihe weiterer Fahrer ergänzt, die um eine gute Platzierung kämpfen und sich kleine Hoffnungen machen können, durch einen Überraschungssieg den Titel zu holen. Darunter sind Thymen Arensman (INEOS Grenadiers), der bei Zeitfahren mehrfach gute Platzierungen belegte. Außerdem auf dem Zettel haben wir den 34-jährigen Mattia Cattaneo (Soudal Quick-Step), seinen Teamkollegen Ilan van Wilder (Soudal Quick-Step) und den Spezialisten Stefan Küng (Groupama - FDJ). Der Schweizer steht als einer der wenigen Spezialisten am Start und dürfte mit den Höhenmetern seine Probleme haben. Auch Luke Plapp ist als dreifacher australischer Meister im Einzelzeitfahren ein echter Spezialist, kann jedoch auch mit leichten Steigungen umgehen. Die kurzen Rampen sind jedoch auch für Plapp ein wenig steil. Iván Romeo (Movistar Team) ist ebenfalls ein starker Zeitfahrer, landet regelmäßig Top 10 Platzierungen bei Etappen dieser Disziplin.