Der alte und neue Weltmeister ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass ihn irgendetwas hätte an diesem Tag in Bedrängnis bringen können. Als das knapp 270 Kilometer lange Rennen zum ersten und einzigen Mal während der Titelkämpfe den Rundkurs von Kigali verließ und einen Abstecher zum Mont Kigali und der Mur de Kigali - beide bekannt und berüchtigt von der alljährlichen Tour du Rwanda zu Jahresbeginn - schaltete Pogacar bereits in den Angriffsmodus. Kurz vor dem Gipfel, 100 Kilometer waren noch zu fahren, attackierte er. Evenepoel konnte da nicht folgen. Es war die Vorentscheidung.
Lediglich Pogacars Kollegen aus dem UAE Team Emirates, Juan Ayuso und Isaac del Toro, konnten da noch Paroli bieten. Während Ayuso aber schnell feststellen musste, dass er sich übernommen hatte, schleppte Pogacar den mexikanischen Youngster noch eine Weile mit durch, wartete phasenweise sogar auf den 21-Jährigen, der am Ende einen Platz vor Ayuso Siebenter wurde. 66 Kilometer vor dem Ziel ließ er dann aber auch ihn zurück. Bei seiner anschließenden Solofahrt bis ins Ziel baute er seinen Vorsprung sukzessive auf ein Maß aus, dass keine Bedrohung mehr zuließ.
Evenepoel, der zwischenzeitlich einmal mehr seine Nerven nicht im Griff hatte, besann sich aber noch legte danach eine Aufholjagd hin, die reichte, um alle bis auf den Weltmeister in die Schranken zu weisen. Lange war er gemeinsam mit Healy und Skjelmose unterwegs. Auf der vorletzten Runde ließ er sie stehen. Healy machte Bronze dann erst auf den letzten fünf Kilometern klar. Die Abstände waren derweil riesig. Thomas Pidcock (Großbritannien) als Zehnter hatte mehr als neun Minuten Rückstand. Ohnehin erreichten nur 30 Fahrer das Ziel.
Unter ihnen war kein Deutscher. Felix Engelhardt, Jonas Rutsch und Georg Zimmermann hatten allesamt mit Magen-Darm-Problemen zu kämpfen. Das Problem verfolgte die komplette deutsche Delegation in Ruanda - aber auch andere Teams - schon die komplette Weltmeisterschaftswoche. Lediglich Marius Mayrhofer ging fit ins Rennen und war Mitinitiator der frühen Ausreißergruppe, die es bis zum Mont Kigali schaffte. “Nach einem Erfolg muss man immer mit fünf Misserfolgen rechnen, es sei denn, man heißt Tadej Pogacar. Ich hatte heute so einen Tag, wo nichts zusammenpasste”, sagte Zimmermann, der Deutschland als Kapitän anführen sollte. Bundestrainer Jens Zemke ergänzte: “Das ist das erste Mal in meiner Laufbahn als Sportlicher Leiter, dass ich den Motor abgestellt habe, bevor das Rennen zu Ende ist. Für die Jungs tut es mir unglaublich leid, das ist ganz traurig.“
Platz für Traurigkeit gab es bei Pogacar nicht. ”Es war ein ständiger Kampf mit mir selbst“, sagte er Zieleinlauf. “Ich glaube, diese Strecke war wie geschaffen für eine solche Solo-Fahrt. Ich hatte gehofft, nach dem Mont Kigali eine kleine Gruppe zu finden, mit der ich fahren könnte, und das gelang mir zunächst auch mit Juan und Isaac. Irgendwann hatte Juan Probleme und Isaac litt unter Magenbeschwerden. Also fuhr ich schon sehr früh alleine. Die Anstiege wurden immer schwerer, und selbst bei den Abfahrten musste ich mich sehr anstrengen, sodass meine Energie in den späteren Runden deutlich nachließ. Dann fängt man an, an sich selbst zu zweifeln, aber durchzuhalten ist die einzige Option”, schilderte der 27-Jährige seine Gefühlswelt.
Nach der bitteren Niederlage im Zeitfahren zum Auftakt der Weltmeisterschaften, bei der er nicht nur die Medaillen verpasste, sondern von allem von Evenepoel überholt wurde, war es für Pogacar nun die erhoffte Revanche. Und die ließ er sich nicht entgehen. Mit dem zweitlängsten Solo der WM-Geschichte. Nur der Italiener Vittorio Adorni nahm 1968 noch mehr Anlauf und finishte nach 90 Kilometern allein unterwegs mit fast zehn Minuten Vorsprung auf Silber. Es gibt eben immer noch Rekorde, die nicht dem Slowenen gehören.
RG | Fahrer | Zeit |
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1 | Slovenia | 06:21:20 |
2 | Belgium | +00:01:28 |
3 | Ireland | +00:02:16 |
4 | Denmark | +00:02:53 |
5 | Latvia | +00:06:41 |
6 | Italy | +00:06:47 |
165 Starter aus 57 verschiedenen Nationen nahmen das Rennen auf. War es tags zuvor auf der ersten Runde noch ruhig, wurden heute von Beginn an Attacken gefahren. Als Erster nutzte der für Grenada startende Red Walters die Bühne, doch schon kurz darauf zeigten sich auch die klassischen Radsport-Nationen. Auch Deutschland wählte die offensive Taktik und war mit Mayrhofer in einer Gruppe vertreten, die mit Menno Huising aus den Niederlanden, Ivo Oliveira für Portugal sowie Anders Foldager (Dänemark), Julien Bernard (Frankreich) und Fabio Christen (Schweiz) auch gleich interessant besetzt war.
Allerdings konnte sich das Feld lange nicht dazu durchringen, die Gruppe ziehen zu lassen. Slowenien, aber auch die Franzosen, obgleich sie einen Fahrer vorne dabeihatten, fuhren mit hartem Tempo hinterher. Erstes prominentes Opfer dieser Taktik war der eigene Mann: Julian Alaphilippe. Derweil hatte sich in Raul Garcia Pierna auch ein Spanier in die Spitzengruppe vorgearbeitet. Danach beruhigte sich die Situation hinten wieder. Die Gruppe hielt sich lange bei einem Vorsprung von rund drei Minuten.
Die Rennsituation blieb konstant. Aus deutscher Sicht nahm der GAU aber seinen Lauf. Engelhardt beendete die WM nach fünf Runden, zwei Umläufe später stellten Zimmermann und Rutsch ihre Räder ab. Nach neun Runden und anderthalb Minuten Vorsprung für die Ausreißer ging es hinaus dann hinaus zum Mont Kigali. Auf dem Weg zum höchsten Punkt des Rennens ließen Bernard, Foldager und Oliveira ihre Begleiter hinter sich.
Bernard hängte dann auch seine übrigen Begleiter ab und es schien, als würde er den Mont Kigali als Erster überfahren. Aber dann griff Pogacar an. Zunächst konnte ihm nur Juan Ayuso (Spanien) folgen. Evenepoel wurde durchgereicht. Kurz vor der Mur de Kigali, die kurz danach überquert wurde, schloss Issac del Toro (Mexiko) zur Spitze auf. Auf dem steilen Pflaster ließen er und Pogacar dann den Spanier stehen, der in eine große Verfolgergruppe zurückfiel. Dort waren neben Evenepoel nahezu alle weiteren Teamkapitäne vertreten. Mit 45 Sekunden Rückstand fuhren die dann das nächste Mal über die Ziellinie. Sechs Runden waren da noch zu gehen.
Als es das nächste Mal die Cote de Kimihurura hinaufging, hatte Del Toro Probleme, das Rad von Pogacar zu halten. Doch der Slowene wartete auf den Mexikaner. Derweil kämpfte Evenepoel einmal mehr mit sich selbst. Nachdem er gestenreich und lautstark Probleme an seinem Rad signalisierte, wechselte er das Material, hatte danach aber 40 Sekunden auf die Verfolger der Spitze Rückstand. Kurz darauf lösten sich Mikkel Honoré (Dänemark), Pavel Sivakov (Frankreich) und Ben Healy (Irland) aus dem Verfolgerfeld.
66 Kilometer vor dem Ende, Mitte der zwölften Runde, ließ Pogacar del Toro dann doch stehen. Er dockte an der Dreiergruppe an, die 50 Sekunden hinter dem Spitzenreiter unterwegs war, aber im Kopfsteinpflaster eingeholt wurde. Von Evenepoel, der sich in die große Gruppe zurückgearbeitet hatte. Und kurz darauf auseinanderfuhr. Mattias Skjelmose (Dänemark), Jai Hindley (Australien), Thomas Pidcock (Großbritannien) und Healy setzten sich in der viertletzten Runde von den anderen ab.
Drei Runden vor dem Ende musste Hindley den Rest der ersten Verfolger ziehen lassen, auch Pidcock bekam Probleme. Pogacar hatte eine gute Minute Vorsprung auf das verbliebene Trio. Die zweite Verfolgergruppe war zu diesem Zeitpunkt fast drei Minuten zurück. 20 Kilometer vor dem Ziel ließ Evenepoel dann seine beiden Begleiter stehen. Weder Skjelmose noch Healy machten irgendwelche Anstalten, dem Belgier zu folgen.
Anderthalb Minuten Vorsprung nahm Pogacar mit auf Evenepoel in den letzten Umlauf. Healy und Skjelmose waren knapp zwei Minuten dahinter. Knapp fünf Kilometer vor dem Ziel sorgte Healy dann auch für die letzte Entscheidung im Medaillenkampf: Er setzte sich von Skjelmose ab. Der Däne konnte im letzten Anstieg nicht mehr kontern. Während Pogacar auf dem finalen Kopfsteinpflasteranstieg bereits entspannt lächeln konnte, verzog Evenepoel bei Zieldurchfahrt keine Miene.