Die 80. Ausgabe der Vuelta a España wird als eine der kontroversesten in die Geschichte des Radsports eingehen. Nachdem die letzte Etappe am Sonntag in Madrid aufgrund massiver pro-palästinensischer Proteste abgebrochen werden musste, hat der Weltverband UCI mit einer ungewöhnlich scharfen Stellungnahme reagiert. Der Verband verurteilte nicht nur die Proteste, sondern kritisierte vor allem die spanische Regierung unter Ministerpräsident Pedro Sánchez, die sich positiv über die Demonstrationen geäußert hatte. Die Proteste richteten sich gegen die Teilnahme des Teams Israel - Premier Tech und den Gaza-Krieg. "Wir bedauern, dass der spanische Ministerpräsident und seine Regierung Aktionen unterstützt haben, die den reibungslosen Ablauf eines Sportwettbewerbs behindern, und in einigen Fällen ihre Bewunderung für die Demonstranten zum Ausdruck gebracht haben", erklärte die UCI in ihrem Statement. Diese Haltung widerspreche den olympischen Werten der Einheit, des gegenseitigen Respekts und des Friedens.
Die Vuelta war in den vergangenen drei Wochen von zahlreichen Zwischenfällen überschattet worden. Bereits in Bilbao und Galizien mussten zwei Etappen abgebrochen werden, in Valladolid wurde das Einzelzeitfahren auf zwölf Kilometer verkürzt. Der spanische Fahrer Javier Romo musste das Rennen sogar aufgeben, nachdem er gestürzt war, als ein Zuschauer versuchte, auf die Strecke zu gelangen. Die Proteste erreichten ihren Höhepunkt am Sonntag in Madrid, wo Tausende Menschen demonstrierten und die Rennstrecke blockierten. Die Organisatoren sahen sich gezwungen, die letzte Etappe mehr als 50 Kilometer vor dem Ziel abzubrechen. Die Siegerehrung für den Gesamtsieger Jonas Vingegaard musste im Parkhaus des Teamhotels stattfinden.
In ihrer Stellungnahme ging die UCI noch einen Schritt weiter und stellte die Fähigkeit Spaniens in Frage, große internationale Sportveranstaltungen auszurichten. "Diese Position stellt auch Spaniens Fähigkeit in Frage, große internationale Sportveranstaltungen auszurichten und sicherzustellen, dass sie unter sicheren Bedingungen und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Olympischen Charta stattfinden", hieß es im UCI-Statement. Der Verband betonte zudem die Notwendigkeit der Autonomie des Sports: "Die UCI verurteilt nachdrücklich die Instrumentalisierung des Sports für politische Zwecke im Allgemeinen und insbesondere durch eine Regierung. Der Sport muss autonom bleiben, um seine Rolle als Instrument für den Frieden zu erfüllen."
Vuelta-Direktor Javier Guillén zeigte sich bei einer Pressekonferenz am Montag tief betroffen von den Ereignissen. "Gestern war ein sehr trauriger Tag", sagte Guillén. "Ich denke, die Bilder sprechen für sich selbst. Die Unversehrtheit der Fahrer war offenkundig in Gefahr." Auf die Frage nach den langfristigen Auswirkungen auf den Radsport antwortete er: "Der Radsport ist verwundbar. Nach dieser Vuelta werden die internationalen Institutionen einige Entscheidungen treffen müssen. Ich hoffe, dass diese Rundfahrt dazu gedient hat, innezuhalten und nachzudenken." Guillén äußerte zudem die Hoffnung, dass bis zur nächsten Tour de France Frieden in Gaza herrschen könnte.
Die betroffenen Radsportler reagierten mit gemischten Gefühlen auf die Ereignisse. Gesamtsieger Jonas Vingegaard zeigte trotz der für ihn persönlich enttäuschenden Umstände Verständnis für die Demonstranten. "Es ist natürlich schade, dass wir nicht fahren konnten, wie wir wollten, aber alle Bürger haben das Recht zu demonstrieren", sagte der Däne der Zeitung "As". "Die Demonstranten tun es für Gaza, und sie haben ihre Gründe. Sie suchen Sichtbarkeit, das kann ich verstehen." Vingegaard bezeichnete die Vuelta als die "seltsamste Rundfahrt" seiner Karriere.
Deutlich besorgter äußerte sich der polnische Fahrer Michał Kwiatowski in den sozialen Medien: "Man kann nicht so tun, als sei nichts passiert. Von nun an ist jedem klar, dass Radrennen eine nützliche Bühne für Proteste sind. Das nächste Mal wird es nur noch schlimmer werden." Auch Tour-de-France-Sieger Tadej Pogačar, der am Sonntag beim Weltcuprennen in Montreal startete, wo es ebenfalls zu Protesten kam, zeigte sich beunruhigt: "Ich denke, alle Radprofis sind ein bisschen erschrocken, was passieren kann. Wir fahren am Limit, bei voller Geschwindigkeit, und diese Art von Situationen ist neu und gefährlich für uns."
Die Ereignisse bei der Vuelta 2025 werfen grundlegende Fragen zur Zukunft des Radsports auf. Anders als in Stadien oder Hallen findet der Straßenradsport in der Öffentlichkeit statt und ist damit besonders anfällig für Störungen und Proteste. Die Sicherheit der Athletinnen und Athleten zu gewährleisten, wird zu einer immer größeren Herausforderung. Bereits bei der Tour de France 2025 konnte das Team Israel - Premier Tech nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen starten. Die Instrumentalisierung des Sports für politische Zwecke ist kein neues Phänomen, erreicht aber neue Dimensionen. Während der Weltverband an seinem Mantra der politischen Neutralität festhält, wird diese Position zunehmend unhaltbar.
Für den Radsport könnte dies bedeuten, dass künftig verstärkt auf geschlossene Rundkurse oder besser kontrollierbare Streckenführungen gesetzt werden muss. Auch die Teilnahme des Teams Israel - Premier Tech an internationalen Wettbewerben dürfte weiterhin für Kontroversen sorgen. Die nächste große Bewährungsprobe auf spanischem Boden steht bereits bevor: Die Tour de France 2026 startet am 4. Juli in Barcelona. Ob bis dahin Lösungen gefunden werden, die sowohl die Sicherheit der Sportler als auch das Recht auf freie Meinungsäußerung gewährleisten, bleibt abzuwarten. Der Radsport steht jedenfalls vor einer seiner größten Herausforderungen abseits der sportlichen Dimension.