Interview Marlen Reusser»Man kann über den Schmerz bestimmen«

Andreas Kublik

 · 24.12.2025

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Foto: Getty Images/David Ramos
​Marlen Reusser hat sich einen Lebenstraum erfüllt: Im vergangenen Herbst hat die 34-jährige Schweizerin WM-Gold im Einzelzeitfahren gewonnen. Im TOUR-Interview erzählt sie von ihrem Weg von der Krankenhausärztin zur weltbesten Zeitfahrspezialistin, Reisen in die „Pain Cave“, wie sie sich nach einer schweren Krise „neu verkabelt“ hat und wie man sich mit überlegenen Gegnern arrangieren sollte.

TOUR: Marlen, Sie haben es geschafft: Sie haben sich Ihren Traum erfüllt. Nach vielen Anläufen haben Sie im vergangenen September bei der WM in Ruanda Gold im Einzelzeitfahren gewonnen. Was bleibt als Bild, als fotografische Erinnerung an den Erfolg?

Marlen Reusser: Wenn ich etwas herauspicken müsste: In Kigali war es sehr speziell und emotional, als ich auf dem Podium stand und es ruhig wurde für die Nationalhymne. Und dann wird so eine Musik abgespielt, die eigentlich komponiert ist dafür, Menschen zu ergreifen, Menschen zusammenzubringen. Das ist ein Moment, der unserem Gehirn erlaubt, eine andere Emotion zu erleben.

TOUR: Sie mussten also erst einmal ankommen – nach dem Zieleinlauf?

Marlen Reusser: Zuvor ist es so viel Rauschen: Man kommt ins Ziel, steckt komplett im Schmerz, ist komplett erschöpft und durch. In diesem Moment ist einem lustigerweise fast egal, ob man gewonnen hat, weil man peilt eh nichts. Man ist körperlich so am Limit, man kommt mit Laktat 15 (mmol/l; Anm. d. Red.) ins Ziel. Man braucht ein paar Minuten, bis man zu Atem kommt – und dann will jeder etwas von einem.

TOUR: Sie haben in Kigali endlich Ihr Ziel erreicht. Bei den Weltmeisterschaften 2020 und 2021 waren Sie schon Zweite – im Jahr 2020 fehlten 15 Sekunden auf Anna van der Breggen, ein Jahr später zehn Sekunden auf Ellen van Dijk. Zwischendurch hatten Sie auch Olympia-Silber in Tokio gewonnen. Warum hat es nicht schon damals geklappt?

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Marlen Reusser: Ich war damals ja noch relativ neu im Sport. Als Tokio wegen Corona auf 2021 verschoben wurde, war das für fast alle eine Tragödie. Ich glaube, ich war die einzige, die sich darüber gefreut hat. Ich konnte in dieser Zeit noch mal einen Mega-Schritt setzen.

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TOUR: Sie sind erst 2017 mit dem Schweizer Meistertitel im Zeitfahren in der Profiszene aufgetaucht. Und bis Anfang 2019 waren Sie noch als Ärztin im Krankenhaus tätig …

Marlen Reusser: Wir wussten, jeden Monat, den ich extra kriege, kann ich mich entwickeln. In Imola (bei der WM 2020) habe ich dolle Fehler gemacht. Wir dachten hinterher: Das hätte ich eigentlich gewinnen können. Sowohl dort wie in Flandern (WM 2021 in Leuven) waren Fehler drin.

TOUR: Damit man das vielleicht ein bisschen besser versteht: Welche Fehler gab es, was haben Sie verbessert?

Marlen Reusser: Die Frage zu beantworten, finde ich ein bisschen heikel. Diejenigen, die das gewannen, gewannen ja verdientermaßen. Vielleicht haben auch sie Fehler gemacht. In Imola zum Beispiel haben wir gesagt, ich fahre einfach sehr hart los. Es ging bis zum Wendepunkt mit ziemlich viel Gegen- wind. Dort wollte ich die Bestzeit haben. Und es dann in der Rückenwindpassage ins Ziel bringen. Sie sollten mir das aus dem Auto über Radio (die Funkverbindung; Anm. d. Red.) durchgeben, ob ich die Bestzeit habe oder nicht.

Marlen Reusser mit ihrem deutschen Lebenspartner Hendrik Werner, Ex-Profi und RadsporttrainerMarlen Reusser mit ihrem deutschen Lebenspartner Hendrik Werner, Ex-Profi und Radsporttrainer

TOUR: Und?

Marlen Reusser: Dann hörte ich einfach nichts. Es ist noch heute ein Streitpunkt. Sie sagen, sie hätten mir das sehr wohl gesagt. Ich habe einfach nichts gehört. Ich war so sauer, dass die mir nichts sagen und dachte: Okay, dann bin ich richtig schlecht. Damit hatte ich das Rennen schon fast aufgegeben. Übrigens kam ich mit 30 Sekunden Vorsprung durch diese Zwischenzeitmessung.

TOUR: Die spätere Weltmeisterin van der Breggen hatte die Zwischenzeit noch nicht passiert, aber auch sie lag später rund zehn Sekunden zurück. Es lag nur an der Durchsage, die Sie nicht gehört haben?

Marlen Reusser: Es kam noch dazu, dass ich sehr speziell bin, was meine Gänge angeht. Das hatten wir damals noch nicht so gut begriffen. Ich hatte einfach eine viel zu große Übersetzung. Dann kam dieser eine Anstieg. Ich musste dort einen Gang hochwürgen, war dadurch total überpaced und oben im Anstieg voller Laktat – bis ins Ziel stand ich dann fast still und verlor extrem viel Zeit. Zudem gab es auf den letzten Kilometern noch eine technische Passage über so ein Brücklein in einen Gegenanstieg auf diese Autorennstrecke (die Formel-Eins-Strecke in Imola; Anm. d. Red.). Wenn ich heute sehe, wie ich das technisch gefahren bin, so wenig Schwung wie ich da mitgenommen habe, dann kann ich heute sicher nur darüber lachen.

TOUR: Sie bevorzugen kleine Übersetzungen, hohe Trittfrequenz …

Marlen Reusser: Wenn ich unter einer gewissen Kadenz fahre, wird es für mich schwierig. Deshalb muss ich die Kadenz halten. Ich glaube, das ist vor allem eine angeborene Sache. Man hat so ein bestimmtes Torque-Maximum (Torque ist der englische Begriff für Drehmoment; Anm. d. Red.). Ich glaube, daran zu arbeiten ist sehr, sehr schwierig bis unmöglich.

» Das Projekt Zeitfahren profitiert von Arbeit an Material und Position, aber eben auch von Erfahrung und körperlicher Entwicklung. Je mehr davon, desto besser.

TOUR: Warum hat es ausgerechnet am 21. September 2025 – am Tag nach Ihrem 34. Geburtstag – mit dem WM-Titel geklappt?

Marlen Reusser: Das Projekt Zeitfahren profitiert von Arbeit an Material und Position, aber eben auch von Erfahrung und körperlicher Entwicklung. Je mehr davon, desto besser. Da sind viele Schritte noch mal passiert. Ich bin noch besser. Und das heißt nicht nur physisch, sondern auch wie ich mich vorbereite und wie ich so ein Rennen fahre.

TOUR: Die hügelige Zeitfahrstrecke in Ruanda war auch ein entscheidender Faktor beim Titelgewinn?

Marlen Reusser: In Kigali hat mir der Parcours gut gelegen. Ich kann sowohl Flächen gut, wie auch Anstiege und nicht-technische Abfahrten. Vielleicht können wenige diese verschiedenen Ansprüche so gut kombinieren wie ich.

TOUR: Sie haben immer wieder betont, dass Sie einen großen Motor haben, wie man im Radsport sagt. Aber eine hohe Dauerleistungsfähigkeit allein reicht im Einzelzeitfahren nicht. An welchen Stellschrauben haben Sie noch gedreht? Wie sehr bringen Sie sich bei dem Thema ein?

Marlen Reusser: Ich habe natürlich über die letzten Jahre sehr viel an der Aerodynamik gearbeitet und lasse mich da gerne beraten. Also, mich interessiert es, aber ich bin nicht die Tüftlerin. Man muss das in kleinen Schrittchen mit vielen Tests tun. Ich bin komplett ungeduldig und mache das nicht gerne.

TOUR: Sie haben zu Saisonbeginn das Team gewechselt, von SD Worx zu Movistar. Dadurch haben Sie auch ein anderes Zeitfahrrad bekommen.

Marlen Reusser: Wir haben die Position überprüft, ich habe ein neues Cockpit gekriegt. Ich habe mittlerweile eine sehr bequeme Position für mich. Also, bequem im Verhältnis dazu, wie Zeitfahrpositionen halt so sind. Ich denke, andere investieren mehr – sowohl ins Training auf dem Zeitfahrrad wie auch in die technische Entwicklung. Aber es ist cool zu wissen, dass da bei mir noch Raum für Verbesserung ist.

TOUR: Mensch und Material müssen perfekt zusammenwirken. Wie werden Sie eins mit Ihrem Zeitfahrrad?

Marlen Reusser: Ich kann mich im Hüftwinkel sehr gut falten, mich sehr gut aero machen. Das war von Anfang an so, das ist eine angeborene Sache. Also, ich bin begütert von der Natur.

TOUR: Was kann man sich von anderen Zeitfahr-Weltmeisterinnen abgucken wie Anna van der Breggen oder der US-Amerikanerin Chloe Dygert?

Marlen Reusser: Anna ist Masterclass darin, sich zu pacen und zu fühlen. Die weiß einfach genau, wo ihr eigener Siedepunkt ist. Sie hat keine Hänger und Aufs und Abs im Rennen. Sie ist stabil und zieht einfach ihr Tempo sehr präzise durch. Das ist meine Einschätzung. Chloe kenne ich nicht persönlich, aber sie hat wahrscheinlich eher so ein amerikanisches Super-Soldier-Mindset und sagt sich: Jetzt geb’ ich mir wieder auf die Mütze, volle Kanne. Sicher hat beides sein Spannendes.

TOUR: In einer sehenswerten Doku im Schweizer Fernsehen SRF erklären Sie, was Einzelzeitfahren bedeutet. Sehr zugespitzt formuliert: Es ist purer Schmerz. Was fasziniert Sie so an dieser Disziplin?

Marlen Reusser: Das ist die Gretchen-Frage, die stellt man sich natürlich selbst auch. Das Gute ist: Jeder, jede kann es tun. Ich kann, wenn ich zwei Jahre lang nicht gefahren bin, ein Rad nehmen und einfach mal zwei Kilometer volle Kanne fahren und dann werde ich auch wieder mal fühlen, was Pain Cave bedeutet. Ich tue das Ganze nicht alleinig, weil ich dieses Pain Cave erleben will. Es ist eher ein Teil eines großen Ganzen.

TOUR: Können Sie die Leser mal mitnehmen, wie es in Ihrem Pain Cave, Ihrem sportlichen Folterkeller, dem Reich der Schmerzen, aussieht?

Marlen Reusser: Nein. Ich glaube, das ist ein subjektives Erleben. Dazu müsste ich schon sehr literarisch begabt sein. Aber ich empfehle den Lesern, es einfach selbst auszuprobieren, ihre eigene Welt darin zu entdecken, mit offenen Sinnen.

TUOR: Man kann die Reise in die Pain Cave empfehlen?

Marlen Reusser: Ja, auf jeden Fall. Es ist schon spannend.

TOUR: Der Schmerz vergeht …

Marlen Reusser: Man versteht, je mehr man das tut, dass das irgendwie vorbeigeht und dass das Leiden nicht immer gleich sein muss, sondern von einem selbst und dem Setting im Kopf abhängt. Ein gleicher Schmerzreiz kann an einem Tag sehr viel schlimmer sein oder in einem anderen Moment sehr viel weniger schlimm, je nachdem, was gerade in dir alles los ist und wie müde du bist. Es ist ein sehr spannendes Thema, wie relativ das alles ist und das alles auch vorbeigeht. Aber ich glaube, ich würde das nicht tun, wenn nichts damit käme – also nichts von dem, was dorthin führt, und nicht alles, was danach kommt, nicht all die Erlebnisse und Begegnungen. Ich würde nicht einfach nur ab und zu im stillen Kämmerchen die Hand ins Eiswasser legen für eine Stunde. Würde man das tun, dann wäre man schon ein bisschen psychopathisch.

» Dieser Schmerz ist relativ. Er geht vorbei. Und das Leiden ist nicht immer gleich. Es hängt vom Setting im Kopf ab.

TOUR: Der Schmerz, die Hand im Eiswasser, ist also nicht das, was Sie suchen. Aber Sie sagen: Schmerz ist Leben, gehört zum Leben.

Marlen Reusser: Man müsste ihn nicht freiwillig suchen. Aber ich denke, es macht das Leben nicht schlechter ab und zu. Das Gute an diesem Schmerz ist, man kann selber über ihn bestimmen. Man kann sagen, wann er anfängt, wann er aufhört, wie doll er sein soll. Leute, die chronische Schmerzen haben oder ein Kind gebären, können nicht einfach auf die Lap-Taste drücken und sagen, jetzt ist es fertig.

TOUR: Was ist Ihre Motivation, abgesehen vom Selbsterfahrungstrip ins Reich der Schmerzen: der messbare Erfolg in Resultaten, die Suche nach den persönlichen Limits, nach einer Art Perfektion bezüglich der eigenen körperlichen und mentalen Leistungsfähigkeit? Oder geht es auch darum, im Mittelpunkt zu stehen, Anerkennung zu bekommen?

Marlen Reusser: Ich weiß nicht, was meine Motivation ist. Es ist eine sehr große Aufgabe oder Herausforderung, das zu verstehen. Ich denke, es sind Anteile von allem. Was ich ausschließen kann: Meine Motivation ist nicht nur das Erreichen des Ziels. Da wäre man auf dem Holzweg. Denn wer sagt dir – gerade im Sport –, dass du das Ziel jemals erreichst? Es liegt gar nicht in deinen Händen. Man sieht es bei den Herren gerade: Wenn man selbst supertoll ist, aber neben Pogačar koexistiert, dann wird man ein bestimmtes Ziel nie erreichen. Wenn es eine andere Dekade wäre, würde man es vielleicht erreichen. Wenn man sich einfach an das Ziel anhaftet, dann macht man sich komplett abhängig und exponiert. Ich finde sehr viel Erfüllung in allem drumrum. Und das ist auch nichts anderes als gesund.

Marlen Reusser trug beim vergangenen Giro sechs Tage lang Rosa, der Gesamtsieg war ein großes Ziel. Gesundheitliche Probleme verhinderten später den TriumphFoto: dpa/pa/Massimo PaoloneMarlen Reusser trug beim vergangenen Giro sechs Tage lang Rosa, der Gesamtsieg war ein großes Ziel. Gesundheitliche Probleme verhinderten später den Triumph

TOUR: Tatsächlich könnte man sagen, Ihr Weg zu Gold hat etwas von einem Wunder. Man sieht in der SRF-Doku auch, wie weit unten Sie im Jahr 2024 waren, wie sehr es Sie mitgenommen hat, als Sie nicht mehr auf die Beine kamen, Olympische Spiele in Paris und die Heim-WM in Zürich 2024 verpassten. Können Sie uns nochmal erklären, was passiert war?

Marlen Reusser: Ich hatte immer Fieber oder erhöhte Temperatur und geschwollene Lymphknoten. Ich war total, total erschöpft und belastungsintolerant. Ich war offensichtlich krank, das war für mich klar. Und ich dachte: Findet einfach raus, was das für eine Krankheit ist und wie man sie heilen kann. Mit der minimalen restlichen Energie, die ich hatte, hatte ich versucht, mich für Studien zu bewerben, in denen neue Medikamente getestet werden. Es hat nicht geklappt. Heute bin ich froh darüber.

TOUR: Bei Ihnen wurde ein Erschöpfungssyndrom namens CFS diagnostiziert, das aktuell auch unter dem Begriff Long Covid viel diskutiert wird.

Marlen Reusser: Es war eine Ausschlussdiagnose. Ich hätte das selber nicht kapiert, um das richtigzustellen. In der Schweiz herrscht auch ein sehr destruktives Narrativ zu dieser Erkrankung.

TOUR: CFS ist eine schwierige Erkrankung. Eine Krankheit, bei der es wenig Messbares gibt. Fühlt man sich auch ein bisschen verrückt?

Marlen Reusser: Das Wort verrückt würde ich jetzt nicht in den Mund nehmen. Aber natürlich fragt man sich, was ist das und warum habe ich das? Es ist ja nicht so, dass ich das nicht kannte, ich habe im Studium sehr wohl vom Chronic Fatigue Syndrom (CFS; Anm. d. Red.) gehört. Aber ich hätte einfach nie gedacht, dass mich sowas erwischt. Aber dann wurde ich eines Besseren belehrt. Wenn man eine Grippe hat mit einem Rachenschmerz oder eine Lungenentzündung oder die Nase läuft, dann ist es etwas, was man kennt, was ganz normal und legitim ist. CFS ist eine illegitime Krankheit. Damit kämpfen auch viele, mit der Legitimation. Außenstehende denken und sagen: Gib dir einen Ruck! Was? Du bist müde? Geh’ halt einfach raus, Sport tut dir gut. Das Perfide ist: Genau das, was man sonst wirklich tun sollte, eben bewegen, positives Mindset, rausgehen – das führt komplett ins Gegenteil. Es wird nur schlechter und schlechter.

TOUR: Wie sind Sie aus dieser Abwärtsspirale herausgekommen?

Marlen Reusser: Ich habe dann aus Verzweiflung diesen alternativ erscheinenden Ansatz probiert, manche nennen das Brain Retraining. Der Ansatz tönt so esoterisch, ist es aber nicht. Es hat sofort angefangen zu helfen. Es war wie zaubern, aber es ist nicht zaubern, es macht total Sinn. Es geht darum, über gezieltes Arbeiten, eine Art Hypnose, bei sich die eigenen unterbewussten Systeme neu zu verkabeln. Die Methode hat sich international noch nicht durchgesetzt. Aber es ist ein sehr vielversprechender Ansatz. Ich kenne ganz viele Leute, die beschreiben, dass es bei ihnen auch gewirkt hat. Das muss aber nicht heißen, dass es allen hilft. Es ist ein heikles Thema. Aber es funktioniert für mich und es funktioniert für andere und deshalb denke ich, man sollte da offen sein und das herumerzählen.

Die Zeitfahrweltmeisterin findet es auf neuem Rad mit neuem Cockpit vergleichsweise bequemFoto: Getty Images/ANNE-CHRISTINE POUJOULATDie Zeitfahrweltmeisterin findet es auf neuem Rad mit neuem Cockpit vergleichsweise bequem

TOUR: Das Konzept, die Methode, war fast so etwas wie ein Lebensretter oder ein Lebensqualitätsretter?

Marlen Reusser: Ein Lebensretter, ja.

TOUR: Sind Sie durch das, was Sie als Patientin erlebt haben, jetzt eine bessere Ärztin geworden?

Marlen Reusser: Das auf jeden Fall.

TOUR: Apropos Hilfe: Welche Rolle hat Ihr Partner Hendrik Werner gespielt, der selbst Radsportler ist und auch Ihr Trainer?

Marlen Reusser: Natürlich hat er eine immense Rolle gespielt. Ich denke, dass es für ihn wahrscheinlich noch schwieriger war als für mich. Das Zuschauen tut einem wahrscheinlich noch mehr weh – dazu dieses Gefühl, diese Hilflosigkeit, weil man einfach nichts tun kann. Ich bin sehr dankbar, dass er mir da so lieb beigestanden ist.

TOUR: Welche Rolle hat Ihr Umfeld sonst gespielt? Sie haben angedeutet, dass Ihnen der Wechsel von SD Worx zu Movistar zum Jahreswechsel sehr gutgetan hat.

Marlen Reusser: Das Umfeld, in dem man arbeitet, ist wichtig – der Vibe, den man wahrnimmt. Die Energie, die da ist, die Ideen, die Kultur, das Umgehen miteinander auf Augenhöhe und der Respekt – es stimmt nie alles, aber wenn vieles gut ist, dann kann man sich entfalten als Mensch. Und dann hat man Freude am Arbeitsplatz. Ein Umfeld hat doch sehr, sehr viele Auswirkungen auf uns. Und deshalb lohnt es sich bestimmt, sich ein passendes Umfeld zu suchen. Und das ist im Radsport speziell interessant: Ein Team kann für die eine sehr, sehr toll sein und für die andere nicht.

TOUR: Ihr Teamchef bei Movistar, Sebastian Unzué, sagte, Sie seien eine geborene Anführerin. Wie wichtig ist so eine Chefrolle oder Leaderrolle für Sie?

Marlen Reusser: Ich weiß nicht, was Sebastian genau meinte. Ich habe nie darüber nachgedacht: Bin ich ein guter Leader oder was braucht es für einen guten Leader? Ich habe nicht das Gefühl, dass ich irgendwie ein besserer Mensch bin oder mehr Wert habe, weil ich schneller Rad fahre als meine Kolleginnen. Ich glaube, wir nehmen uns alle gleich ernst. Ich wünsche mir auch, dass es den anderen im Team genauso gut geht wie mir, dass alle Freude haben können, dass alle Spaß in ihrer Rolle haben – auch wenn ich dann die bin, für die gefahren wird. Das habe ich auch immer gesucht: Ein Team, in dem das die Kultur ist.

TOUR: Sie haben in einem Interview gesagt, Sie würden es schätzen, Ihr eigenes Projekt zu sein, Ihre eigene Chefin. „Ich muss auch hinstehen, wenn ich jetzt vergeige“, sagten Sie. Sie mögen Verantwortung?

Marlen Reusser: Aber das hat nicht unbedingt damit zu tun, Leader sein zu wollen. Im Radsport kann man sich seinen Tag selber einteilen. Ich mache alles genau, wie ich will. Am Schluss muss man einfach liefern – egal in welcher Rolle man ist, ob man Leader oder Helfer des Teams ist. Ich finde span- nend, dass ich diese Eigenverantwortung übernehmen, selbstbestimmt arbeiten kann. Am Ende muss man für das geradestehen, was dabei rauskommt – sonst ist man weg vom Fenster.

TOUR: Sie haben jetzt den ganz großen angestrebten Erfolg gehabt. Pauline Ferrand -Prévot hat anlässlich ihres Olympiasieges auf dem Mountainbike im Vorjahr gesagt, sie habe schon vor dem Olympiarennen wissen müssen, wie es weitergeht, was danach kommt. Sie wollte zurück auf die Straße, die Tour de France gewinnen. Was treibt Sie jetzt weiter an in Ihrer Profikarriere? Was sind Ziele, die Sie noch erreichen wollen?

Marlen Reusser: Pauline hat ja jetzt die Tour gewonnen. Ich war knappe Zweite bei der Vuelta und bin beim Giro mit einer Durchfallerkrankung knapp an einem Sieg vorbei (Reusser wurde ebenfalls Zweite; Anm. d. Red.). An der Tour konnte ich nicht mitmachen. Das Projekt ist jetzt, daraufhin zu arbeiten und zu probieren, diese Grand Tours zu gewinnen. Das ist reizvoll. Und ich mag die ganze Arbeit, die dorthin führt. Wir haben 2025 voll auf den Giro gesetzt. Wir machen das jetzt nochmal spezifischer. Es reizt mich, die Tour als großes Ziel für das Team anzugehen.

TOUR: Ihr Ziel ist der Sieg bei der Tour de France Femmes?

Marlen Reusser: Die maximale Performance bei der Tour de France.

TOUR: Bei der Performance wird man von sich selbst limitiert, aber natürlich auch von der Konkurrenz, von übermächtigen Gegnern …

Marlen Reusser: Konkurrenz limitiert meine Performance nicht. Sie limitiert, wenn sie zu gut ist, meine Siegeschancen.

TOUR: Je nachdem, auf welche Gegner Sie treffen, können Sie mit der gleichen Leistung gewinnen oder nicht. Bei den schweren Etappenrennen wird die Leistung, vor allem bezogen auf das Körpergewicht, immer entscheidender. Nach der Tour de France Femmes gab es eine Diskussion, weil die sichtlich abgemagerte Pauline Ferrand-Prévot am Berg allen Konkurrentinnen davonfuhr. Wie soll man mit dem Problem des kritischen Gewichtsmanagements umgehen – Ferrand-Prévot hat damit ja auch Maßstäbe für ihre Gegnerinnen und damit für Sie gesetzt?

Marlen Reusser: Ja, große Frage. Man sollte es nicht auf den Frauensport reduzieren. Das Problem gibt es auch bei den Männern. Aus medizinischer Sicht, wenn man unsere Fettanteile misst, ist das halbe Fahrerfeld untergewichtig. Deshalb ist für mich als Medizinerin auf jeden Fall die Frage: Wer sagt, wo Grenzen sind, was ist gesund und was ist ungesund? Und ist es gesünder, was eine Pauline macht, dass sie ziemlich schwer in den Frühling kommt und dann eine Phase lang ihr Gewicht so drückt? Oder ist es viel schlimmer, was andere machen, die die ganze Zeit das Gewicht drücken? Aber es gibt ja auch solche, die sehen – in Anführungsstrichen – relativ normalgewichtig aus, sind aber eigentlich auch mangel ernährt. Ich denke, die Wissenschaft hat da vieles zu klären, und natürlich haben wir Fragen in unseren Köpfen. Was sind die Methoden? Wie hat das zum Beispiel Pauline gemacht? Wie tief darf das Gewicht sein? Welche Konsequenzen kann es mit sich bringen? Es gibt keine eindeutigen Antworten. Es gibt nur ganz, ganz viele Fragen und natürlich viele Warnzeichen.

TOUR: Wie regelt man das Problem?

Marlen Reusser: Vieles muss in Selbstverantwortung geschehen. Man könnte Regeln definieren. Man könnte ganz tiefe Untergrenzen beim Gewicht ansetzen. Aber es ist nicht einfach.

TOUR: Ziehen wir kurz Zwischenbilanz Ihrer Radsportkarriere. Sie haben einst den Job als Ärztin hingeschmissen und sich zumindest zum damaligen Zeitpunkt auf einen sehr unsicheren Karriereweg im Radsport gemacht. Geld gab es zunächst kaum zu verdienen. Im Nachhinein haben Sie alles richtig gemacht?

Marlen Reusser: Es war ungefähr der am wenigsten mutige und am wenigsten risikoreiche Schritt ever. Ich hätte einfach zurück in den Job gekonnt. Mittlerweile ist es vielleicht eine andere Geschichte, aber es hat sich ausgezahlt. Warum sich nicht das sehr, sehr spannende Abenteuer Radsport geben, wenn man so ein Back -up hat?

TOUR: Was hat Sie der Radsport gelehrt, was Sie vorher noch nicht über die Person Marlen Reusser wussten?

Marlen Reusser: Ich habe extrem viel gelernt. Ich habe diese Erfahrung, dass man über sich hinauswachsen kann, auch wenn man denkt, da geht nichts mehr – und es eben doch geht. Man kriegt Vertrauen in sich selbst und seine Möglichkeiten. Ich bin mittlerweile sehr selbstbewusst. Ich habe schon so oft Dinge geschafft, von denen ich glaubte, die schaffe ich nicht. Und nichts Schlimmes ist passiert. Diese Erfahrungen möchte ich nicht missen. Aber auch im Spital würde ich viele Dinge erlebt haben. Es kommt darauf an, wie man lebt. Wenn man sich exponiert, sich Herausforderungen stellt, sich was traut im Leben, nicht immer über die Ängste nachdenkt, sondern einfach tut, dann lebt man und dann kommt man vorwärts. Schönes Schlusswort – oder?

ZUR PERSON

MARLEN REUSSER

Nationalität Schweizerin

Geboren 20.9.1991 in Jegenstorf

Größe 1,80 Meter

Wohnort Andorra-La Vella

Teams

WCC Team (2019), Équipe Paule Ka (2020), Alé BTC Ljubljana (2021), Team SD Worx (2022-2024), Movistar Team (seit 2025)

Wichtige Erfolge

Weltmeisterin Einzelzeitfahren (EZF) (2025), Europameisterin EZF (2021, 2022, 2023 und 2025), Olympia-Zweite EZF (2021), WM-Zweite EZF (2020 und 2021), WM-Dritte EZF (2022), Weltmeisterin Mixed-Staffel (2022 und 2023); Gent-Wevelgem (2023), Itzulia Women (2023), Tour de Suisse Women (2023 und 2025), Setmana Valenciana (2024), Burgos-Rundfahrt (2025), zwei Etappensiege Tour de France Femmes (2022 und 2023), drei Etappensiege Tour de Suisse (2023 und 2025), Zweite Giro d’Italia (2025 und 2023)

Biographie

Reusser wuchs auf einem Bauernhof in Hindelbank im Emmental auf – mit einem jüngeren Bruder und einer älteren Schwester. Sportlich versuchte sie sich zunächst im Laufen, wechselte aber wegen eines genetischen Defekts am Sprunggelenk zum Triathlon und Radsport. Beim Alpenbrevet, wo sie sich einmal ohnmächtig im Straßengraben wiederfand, und bei Treppenläufen lotete sie ihre Grenzen aus und machte sich fit für die Karriere als Radprofi. Nach dem Schulabschluss studierte Reusser Medizin und arbeitete bis Februar 2019 als Assistenzärztin für Chirurgie im Krankenhaus. Im Jahr 2021 promovierte sie. Auch politisch engagierte sie sich. Sie war Präsidentin der Jungen Grünen im Kanton Bern, saß im Grünen-Vorstand im Emmental und kandidierte für die Partei für einen Sitz im Schweizer Nationalrat. Sie ernährt sich vegetarisch. Mit ihrem Partner, dem deutschen Radsporttrainer und Ex-Profi Hendrik Werner, lebt sie derzeit in Andorra.

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