Tudor Pro Cycling TeamJäger und Sammler

Andreas Kublik

 · 14.03.2025

An der Spitze: Die Profis von Team Tudor sollen in den Rennen Verantwortung übernehmen – wie hier zum Saisonauftakt bei der Mallorca Challenge.
Foto: Getty Images / Tim de Waele
Der Schweizer Rennstall Tudor Pro Cycling hat sich schnell entwickelt: Das Projekt von Fabian Cancellara hat trotz zweitklassiger Lizenz Top-Stars wie Julian Alaphilippe und Marc Hirschi überzeugt – es geht um die Jagd auf große Siege und Punktesammeln für eine Zukunft in der Beletage des Radsports.

Eine Ziellinie hat zwei Seiten. Ein Davor und ein Dahinter. Als Fabian Cancellara im August 2016 über die Ziellinie in Rio de Janeiro schoss, als Olympiasieger im Einzelzeitfahren, rollte er gleichsam auf unbekanntes Terrain. Die Zeit als Radprofi war vorbei. Das hatte er sich bereits zuvor geschworen. Aber viel weiter war er mit seiner Zukunftsplanung nicht. Wie sollte es weitergehen? Ein Leben ohne Radsport – nach 16 Berufsjahren im Rennsattel? Wenn man so will, war der goldene Moment in Brasilien so etwas wie die Geburtsstunde des Tudor Pro Cycling Teams – auch wenn das Projekt damals noch weit entfernt lag.

Gold wert: Zeitfahr-Olympiasieger Fabian Cancellara ist Eigentümer und Türöffner für das aufstrebende Team.Foto: dpa / pa / Peter KlaunzerGold wert: Zeitfahr-Olympiasieger Fabian Cancellara ist Eigentümer und Türöffner für das aufstrebende Team.

Tudor Pro Cycling: Es geht weiter aufwärts

Der Rennstall aus der Schweiz darf aktuell als der Aufsteiger im Profi-Peloton gelten – und Fabian Cancellara ist der Eigentümer. Selbst in Frankreich wird darüber debattiert, ob das gemäß UCI-Lizenz zweitklassige Team nicht schon in diesem Jahr ein geeigneter Kandidat für eine Wildcard-Einladung zur Tour de France wäre. Schließlich ist Frankreichs Radsportliebling Julian Alaphilippe der prominenteste Neuzugang – der Mann, der bei der Grande Boucle schon sechs Etappen gewonnen hat, im Jahr 2019 zwei Wochen lang das Gelbe Trikot trug und damals als Gesamtfünfter abschloss. Dazu gesellt sich als zweiter neuer Anführer der aktuell beste Schweizer Radprofi Marc Hirschi, der als Newcomer bei der Tour 2020 mit seiner Fahrweise begeisterte und eine Etappe gewann.

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Neue Doppelspitze: Der Schweizer Marc Hirschi und der zweimalige Straßen-Weltmeister Julian Alaphilippe (Bild) sind die prominenten Neuzugänge für die Saison 2025.Foto: Tudor Pro Cycling TeamNeue Doppelspitze: Der Schweizer Marc Hirschi und der zweimalige Straßen-Weltmeister Julian Alaphilippe (Bild) sind die prominenten Neuzugänge für die Saison 2025.

Die Karten sind also nicht die schlechtesten – rund ein Jahr nach dem Grand-Tour-Debüt beim Giro d’Italia. “Ich bin immer Optimist. Es wäre ein Traum, mit dem Team bei der Tour zu sein”, sagt Alaphilippe. Selbst wenn es nicht auf Anhieb klappen sollte mit dem Sprung auf die größte Bühne im Weltradsport: Die beiden neu verpflichteten Rennfahrer können auf jeden Fall eine gefährliche Doppelspitze bilden, um die arrivierten Teams bei den sogenannten Ardennenklassikern herauszufordern, also den hügeligen Rennen wie Flèche Wallonne und Lüttich-Bastogne-Lüttich. Dort steht Tudor bereits erstmals auf der Gästeliste.



Es geht also weiter aufwärts. Über den Jahreswechsel ist aus einer grauen Maus im Peloton ein viel beachteter Aufsteiger in der Hackordnung der weltbesten Teams geworden – auch ohne die Lizenz als World-Tour-Rennstall. Zu den bisherigen Top-Fahrern um Matteo Trentin stießen weitere Leistungsträger wie der Österreicher Marco Haller.

Tudor Pro Cycling begann mit einer Rettungsaktion

Mit 44 Jahren ist Cancellara wieder ganz nah dran an der Weltspitze – jetzt als Teameigner. Für den Olympiasieger von 2008 und 2016 ist die Mannschaft eine Mischung aus einer Art persönlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, neuem Fokus für den sportlichen Ehrgeiz und – was man in seinem Umfeld besonders betont – dem Ansporn, dem Radsport etwas zurückgeben zu wollen. Schließlich hat der Sport das Kind italienischer Arbeitsmigranten erfolgreich, berühmt und sicher auch wohlhabend gemacht.

Als das Team Swiss Racing Academy auseinandergefallen ist, haben sie mich angerufen. Ich habe zu Raphi gesagt: Lass uns helfen! ~ Fabian Cancellara

Nach einer Findungsphase, in der der Ex-Profi vor allem das Breitensportprojekt “Chasing Cancellara” vorantrieb und Marc Hirschi managte, begann die gemeinsame Geschichte von Tudor und Cancellara als Rettungsaktion. Als das kleine Nachwuchsteam Swiss Racing Academy vor dem Aus stand, weil Teamchef Pirmin Lang in den Dopingskandal der Operation Aderlass verwickelt war, sah sich Cancellara in der Pflicht: “Sie haben mich angerufen. Ich habe zu Raphi (dem jetzigen Teammanager Raphael Meyer; Anm. d. Red.) gesagt: Lass uns helfen!“

Rund ein Dutzend junge Schweizer wären sonst jäh aus dem Traum erwacht, Radprofis werden zu können. Cancellara übernahm mit Kompagnon Raphael Meyer – ohne jegliche Erfahrung, wie man ein Profi-Team führt. Der Mann, dem als je dreimaligem Sieger von Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix die Risikobereitschaft im Blut liegt, legte allein mit seinem Namen die Basis für solides, konstantes und doch schnelles Wachstum: Aus einem Nachwuchsteam mit Conti-Lizenz 2022 wurde schon im Jahr darauf ein international aufgestelltes Profiteam, das sofort Startgelegenheiten für große Rennen wie Mailand-San Remo oder die Tour de Suisse erhielt. Im Vorjahr folgte das Debüt beim Giro.

Schweizer Hauptsponsor

Dabei war sicher nicht hinderlich, dass der Hauptsponsor der Mannschaft, die Schweizer Uhrenmarke Tudor, auch offizieller Zeitnehmer des italienischen Rennveranstalters RCS ist, der Mailand-San Remo und Giro zu seinem Portfolio zählt. Swiss. Human. Performance. Das sind die Schlagwörter, mit denen die Philosophie des Rennstalls vermittelt werden soll. Weniges ist schließlich typischer für die Schweiz als Uhren. Tudor, eine Tochter der Rolex-Gruppe, ist als Hersteller von Luxusprodukten ein ungewöhnlicher Geldgeber im Straßenradsport, wo vor allem Versicherungen, Banken, Autohersteller, Lebensmittelketten oder Hersteller von Baumarktprodukten Kundennähe suchen.

Doch im Hause Rolex hat Sportsponsoring Tradition. Der Firmengründer, der Kulmbacher Hans Wilsdorf, bewarb schon 1927 die Unverwüstlichkeit seiner Produkte damit, dass er der britischen Schwimmerin Mercedes Gleitze eine Armbanduhr aus seiner Produktion auf eine Durchquerung des Ärmelkanals mitgab – zwar erreichte Gleitze die französische Küste nicht, aber die vielen Stunden im Salzwasser, die der Chronometer schadlos überstanden haben soll, nutzte Wilsdorf für eine teure Anzeigenkampagne. Schweizer Macher, Schweizer Sponsor, Teamsitz in Sursee in der Schweiz – trotz der damit verbundenen Zollprobleme beim regelmäßigen Materialtransport. Mehr Schweiz geht kaum.



Es menschelt – erfolgreich

Es menschelt zudem im Hause Cancellara. Das betonen alle, mit denen man spricht. Der Chef persönlich wisse von seinen Rennfahrern, wo sie wohnen, ob sie derzeit eine Freundin haben oder nicht und wo bei ihnen gerade der Schuh drückt. “Der Mensch steht im Mittelpunkt”, betont der Deutsche Sebastian Deckert, der das Trainerteam leitet. Und er findet, dass das Menschliche und die Leistung (“Performance”) teamintern gut zusammenfinden.

Steuermann: Der deutsche Trainer Sebastian Deckert lenkt die Leistung der Profis.Foto: Tudor Pro Cycling TeamSteuermann: Der deutsche Trainer Sebastian Deckert lenkt die Leistung der Profis.

Schließlich haben Cancellara, Meyer, Deckert & Co. durchaus einige Erfolgsprojekte vorzuweisen: Der mittlerweile 31-jährige niederländische Sprinter Arvid de Kleijn war eher ein No-Name im internationalen Peloton, ehe er im Tudor-Trikot plötzlich die weltbesten Konkurrenten hinter sich ließ, unter anderem bei seinem Etappensieg bei Paris-Nizza. Fünf Siege hatte er bis kurz vor seinem 29. Geburtstag gesammelt. In den zwei folgenden Saisons nach dem Wechsel zu Tudor waren es elf – trotz langer Verletzungspause. “Vorher hatte ich nicht die Unterstützung. Jetzt habe ich eine große Zukunft vor mir”, sagte de Kleijn zu Jahresbeginn.

Tudor Pro Cycling: Sprungbrett für deutsche Talente

Und auch der deutsche Radsport profitiert: Marco Brenner, den schon als Teenager der Ruf als Riesentalent begleitete, fand bei den Profis lange nicht in Tritt, blieb drei Jahre lang beim Team DSM weitgehend erfolglos, ehe der Augsburger im Vorjahr nach dem Transfer zu Tudor zum Siegertyp mutierte und bei der Deutschen Meisterschaft das versammelte Bora-Hansgrohe-Team quasi als Solist abhängte.

Wir glauben an Rennfahrer, an die andere Teams nicht mehr geglaubt haben. ~ Marcel Sieberg

Einen ähnlichen Werdegang hatte Landsmann Florian Stork hinter sich, der jahrelang im Peloton mitschwamm, ehe er nach dem Wechsel in die Schweiz Anfang Januar auf Mallorca über seinen ersten Sieg als Profi jubeln durfte. Im Alter von 27 Jahren. “Es zeigt, dass wir an Jungs glauben, an die andere Teams nicht mehr geglaubt haben”, urteilt Marcel Sieberg, einer der Sportlichen Leiter.

Selbst gemachter Siegertyp: Florian Stork jubelte Anfang des Jahres über seinen ersten Profisieg.Foto: dpa / pa / RothSelbst gemachter Siegertyp: Florian Stork jubelte Anfang des Jahres über seinen ersten Profisieg.

An der Seite des 33-jährigen Routiniers Alexander Krieger dürfen auch weitere deutschen Talente wie Marius Mayrhofer, Mika Heming und Hannes Wilksch hoffen, dank Schweizer Entwicklungshilfe den Karriere-Turbo zu zünden. Mit der Ankunft der Stars Alaphilippe und Hirschi wird sich sicher etwas ändern – an der internen Hierarchie, an der öffentlichen Aufmerksamkeit, aber auch in Sachen Erfolgsdruck. Die Teamverantwortlichen sahen mit Genugtuung, wie sich Alaphilippe in der Saisonvorbereitung mit Brenner auf einen Kaffee zusammensetzte – beide verbindet Talent und Angriffslust.

Während der 22-jährige Deutsche als verspielter Youngster gilt und sich ein bisschen Ruhe beim Routinier abgucken darf, kann sich der 32-jährige Ex-Weltmeister Alaphilippe nach einer Karrieredelle beim langjährigen Arbeitgeber Soudal Quick-Step wieder an seine Zeit als junger Profi erinnert fühlen. “Julian ist einer, der auch mal zurücktritt”, hat Sieberg beobachtet und befürchtet daher nicht, dass die gehegten Talente durch die Neuankömmlinge ins Glied zurückgedrängt werden könnten. “Julian nimmt die Jungs mit und tritt ihnen auch mal in den Hintern”, versichert der Sportliche Leiter.

Erfolgreich: Marco Brenner galt schon lange als großes Talent – bei Tudor reifte der 22-jährige Augsburger und gewann im Vorjahr den Deutschen Meistertitel.Foto: Tudor Pro Cycling TeamErfolgreich: Marco Brenner galt schon lange als großes Talent – bei Tudor reifte der 22-jährige Augsburger und gewann im Vorjahr den Deutschen Meistertitel.

Warten auf die Gästeliste

Das Gesamtprojekt erfordert weiter Geduld. “Wir warten auf Wildcards”, sagt Sieberg zu Saisonbeginn. Man muss in Sursee auf Sicht planen: Die Wildcards für Giro d’Italia und Tour de France werden erst im Laufe des Frühjahrs vergeben. Künftig will man nicht mehr von der Gunst der Rennveranstalter abhängig sein. Das Ziel für die Saison 2025 ist klar: “Wenn wir weiter so die Rennen fahren wir bisher, dann können wir unser Ziel erreichen, unter die zwei besten Pro-Teams zu kommen. Dann ist die Planung einfacher”, sagt Cancellara.

Es ist eine Art Abkürzung in die WorldTour. Denn die laut Weltrangliste beiden besten Teams aus der zweiten Reihe dürfen im folgenden Rennjahr bei allen wichtigen Eintagesrennen und den dreiwöchigen Etappenrennen inklusive Tour de France starten. Eine Word-Tour-Lizenz erscheint für die Saison 2026 außer Reichweite: Zu groß ist der Punkterückstand des Neulings, um sich für den Abrechnungszeitraum 2023 bis 2025 noch unter den besten 18 Mannschaften der Welt zu platzieren.

Neue Freiheit für Alaphilippe

Alaphilippe sagt dazu: “Ich habe bei meiner Entscheidung nicht darüber nachgedacht, ob World-Tour-Team oder nicht. Ich habe mich auf mein Gefühl verlassen. Ich habe hier die Freiheit zu sein, wer ich sein will.” Es klingt wie ein gut formuliertes Stellenangebot für weitere Neuzugänge. Dem Chef dürften die Worte gefallen. Cancellara betont, er halte sich im Hintergrund, stünde nur bereit, falls sein Rat gefragt sei. Er gibt die Richtung vor. “Glückliche Leute performen besser”, sagt er. Der Mann, der einst den Kampfnamen “Spartacus” erfolgreich übers Kopfsteinpflaster trug, räumt nun als bereitwilliger Helfer anderen die Steine aus dem Weg.

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